Periphere Nervenverletzungen treten am häufigsten in Zusammenhang mit Unfällen auf, aber auch iatrogen, insbesondere im Rahmen von Operationen. Die Prognose hängt entscheidend vom Ausmaß der peripheren Nervenverletzung ab: Inkomplette Läsionen bzw. Verletzungen, bei denen die bindegewebigen Hüllstrukturen des Nerven erhalten sind, haben in der Regel eine gute Prognose und können primär konservativ therapiert werden, wohingegen bei kompletten Läsionen mit vollständiger Kontinuitätsunterbrechung ohne operative Therapie keine suffiziente Regeneration zu erwarten ist. Bei ausbleibender Nervenregeneration trotz Ausschöpfen aller therapeutischen Möglichkeiten können Ersatzoperationen die Funktion zumindest teilweise wiederherstellen.

Bei peripheren Nervenläsionen können prinzipiell primäre von sekundären Nervenverletzungen unterschieden werden. Primäre Nervenverletzungen entstehen direkt im Rahmen des Traumas durch komplette oder partielle Durchtrennung (spitzes Trauma) bzw. Druck- oder Zugschädigung (stumpfes Trauma), wohingegen sekundäre Nervenläsionen mit einer zeitlichen Latenz zum Trauma auftreten. Ursache dieser sekundären Nervenläsionen sind in der Regel Komplikationen wie zunehmende Hämatome, eine überschießende Kallusbildung im Rahmen der Frakturheilung, ein sich entwickelndes Kompartmentsyndrom oder ein Aneurysma spurium bei begleitender Gefäßverletzung, was zu einer Druckschädigung des Nerven führen kann. Während primäre Nervenläsionen meist schon im Rahmen der chirurgischen Primärbehandlung der Unfallverletzung auffallen, können sekundäre Nervenverletzungen durchaus auch erst dann auftreten, wenn sich der Patient in der hausärztlichen Nachbetreuung befindet.

Merke:
Eine sekundäre Nervenverletzung ist hinweisend auf eine sich entwickelnde Komplikation nach einem Trauma (z. B. zunehmende Hämatombildung) und muss umgehend diagnostisch abgeklärt werden.

Symptome einer peripheren Nervenverletzung

Nach einer peripheren Nervenverletzung treten typischerweise motorische, sensible und autonome Störungen auf. Dabei richtet sich das anatomische Verteilungsmuster nach den vom geschädigten peripheren Nerven innervierten Muskeln bzw. Hautarealen (Abb. 1). Bei den motorischen Symptomen handelt es sich typischerweise um schlaffe Paresen, welche nach einer Dauer von drei Wochen auch mit zunehmenden Atrophien der entsprechenden Muskeln einhergehen. Die über den entsprechenden Nerven verschalteten Reflexe sind abgeschwächt oder erloschen (z. B. fehlender Patellarsehnenreflex bei Schädigung des N. femoralis). Im vom betreffenden Nerven innervierten Hautareal treten nicht nur Sensibilitätsstörungen auf, die typischerweise alle sensiblen Qualitäten (Berührung, Schmerz, Temperatur) betreffen, sondern auch autonome Störungen mit reduzierter Schweißsekretion. Klinisch bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen einer kompletten Nervenläsion (mit vollständiger Paralyse der vom jeweiligen Nerv innervierten Muskeln und Anästhesie im autonomen sensiblen Versorgungsgebiet) und einer inkompletten Nervenläsion, bei der die entsprechenden Funktionen teilweise erhalten sind. Gerade nach Unfallverletzungen kann diese Unterscheidung aufgrund der eingeschränkten Untersuchungsbedingungen durch offene Wunden, Verbände sowie Bewegungshemmung durch Schwellungen und Schmerzen Schwierigkeiten bereiten. Hier können ergänzende neurophysiologische (Elektromyographie (EMG), Elektroneurographie (ENG; Abb.2), evozierte Potenziale) und bildgebende Zusatzuntersuchungen (Nervensonographie, MRT) wertvolle Dienste leisten.

Einteilung von Nervenverletzungen

Für das Verständnis der Einteilung des Schweregrades einer peripheren Nervenverletzung ist die Kenntnis des feinstrukturellen Aufbaus eines peripheren Nerven unerlässlich (Abb. 3): Die einzelnen marklosen und markhaltigen Nervenfasern werden von einer zarten bindegewebigen Hüllschicht umgeben, dem Endoneurium. Innerhalb eines peripheren Nerven finden sich Nervenfaserbündel (Faszikel), in welchen viele einzelne Nervenfasern zusammengefasst und von einer weiteren bindegewebigen Hüllschicht, dem Perineurium, umgeben werden. Diese Nervenfaserbündel sowie begleitende Blutgefäße und Fettgewebe befinden sich in einer derben bindegewebigen Hülle, dem Epineurium, welches den peripheren Nerven umschließt.

Die Einteilung des Schweregrades richtet sich nun nach dem Ausmaß der Schädigung von Axonen, Markscheiden und bindegewebigen Hüllen, wobei die Einteilungen nach Seddon [3] und nach Sunderland [6] am gebräuchlichsten sind (Tabelle 1). Die Prognose der Nervenschädigung hängt entscheidend vom Schweregrad ab: Bei der leichtesten Form der Nervenschädigung, der Neurapraxie, bei der lediglich eine umschriebene Markscheidenläsion vorliegt und sowohl Axone als auch bindegewebige Hüllstrukturen erhalten sind, ist die Prognose sehr gut und eine Rückbildung der Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen zu erwarten. Bei allen anderen Schädigungsformen, bei denen eine Schädigung der Axone vorliegt, kommt es innerhalb von ca. 14 Tagen zu einer Wallerschen Degeneration des Axons distal der Läsionsstelle und zu einem erneuten Aussprossen des proximal der Läsionsstelle gelegenen Axonstumpfes mit einer Geschwindigkeit von ca. 1 mm/Tag [1]. Damit das neu aussprossende Axon sein Ziel (Endplattenregion des Muskels oder Hautareal) erreichen kann, sind intakte bindegewebige Nervenhüllen als Leitstrukturen unerlässlich. Bei kompletter Kontinuitätsunterbrechung dieser Nervenhüllen ist eine Fehlsprossung mit Neurombildung und ausbleibender Reinnervation zu erwarten (Tabelle 1).

Feststellung des Schweregrades

Die Bestimmung des Schweregrades einer Nervenläsion ist Aufgabe des Neurologen. Bei klinisch kompletten peripheren Nervenläsionen kann erst nach erfolgter Wallerscher Degeneration der distal der Läsionsstelle gelegenen Axonabschnitte mittels EMG/ENG zuverlässig zwischen einer Neurapraxie mit erhaltenen Axonen einerseits und einer Axonotmesis bzw. Neurotmesis mit geschädigten Axonen andererseits unterschieden werden [5]. Zur Unterscheidung zwischen Axonotmesis und Neurotmesis können Nervensonographie bzw. MRT weiterhelfen. Bei makroskopisch erhaltener Kontinuität des Nerven und damit unauffälliger Bildgebung ist die Unterscheidung Axonotmesis/Neurotmesis jedoch nur anhand des Verlaufs möglich, wobei eine ausbleibende zeitgerechte Reinnervation der betroffenen Muskeln für eine Neurotmesis spricht.

Die Zeitdauer bis zur Reinnervation kann aus der Distanz des Muskels zur Läsionsstelle und der Aussprossungsgeschwindigkeit des Axons von 1 mm/Tag geschätzt werden. Klinisch kann ein im Verlauf von proximal nach distal wanderndes Hoffmann-Tinel-Zeichen (unangenehmes, elektrisierendes Gefühl bei Perkussion des Nervenverlaufs) das zunehmende Aussprossen der Axone anzeigen [1].

Therapeutisches Vorgehen

Das therapeutische Vorgehen richtet sich nach Art und Ausmaß der Nervenläsion. Bei einer primär offenen kompletten Nervenläsion (z. B. Stich- oder Sägeverletzung) besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Neurotmesis/ Sunderland-Grad-V-Verletzung mit schlechter Regenerationsprognose. Hier ist eine primäre oder sekundäre operative Versorgung mit Darstellung des Nerven und gegebenenfalls Beseitigung einer Kontinuitätsunterbrechung gerechtfertigt. Bei primär geschlossenen kompletten Läsionen und bildgebend erhaltener Kontinuität ist die Prognose in der Regel jedoch deutlich besser. In diesem Falle ist zunächst ein abwartendes Vorgehen mit konservativer Therapie gerechtfertigt [2]. Diese besteht in erster Linie aus Ergo- und Physiotherapie. Allerdings sind bei diesem Vorgehen unbedingt regelmäßige klinische und elektrophysiologische Verlaufskontrollen erforderlich. Bei sekundärer Verschlechterung oder ausbleibender zeitgerechter Reinnervation sollte auch in diesen Fällen eine operative Revision angestrebt werden. Entschließt man sich zu einer operativen Revision, so sollte diese idealerweise drei bis vier Monate, spätestens sechs Monate nach dem Trauma erfolgen, da nach neun bis zwölf Monaten von einer irreversiblen Endplattendegeneration im Zielmuskel ausgegangen werden muss, welche eine erfolgreiche Reinnervation auch dann nicht mehr erwarten lässt, wenn aussprossende Axone den Zielmuskel erreichen.

Merke:
Bei jedem Verdacht auf eine periphere Nervenverletzung sollte eine neurologische Vorstellung erfolgen, um die Diagnose zu sichern und den Schweregrad der Nervenschädigung zu bestimmen, welcher für die Prognose und weitere Therapie ganz entscheidend ist.

Bei inkompletten peripheren Nervenläsionen ist die Prognose deutlich besser als bei kompletten Läsionen, so dass hier in jedem Fall ein abwartendes Vorgehen mit konservativer Therapie sinnvoll ist [2]. Lediglich bei ausbleibender Besserung im Verlauf und/oder sonographischem Neuromnachweis sollte in diesen Fällen eine operative Revision erwogen werden, unter Berücksichtigung des o. g. Zeitfensters.

Bleibt trotz aller Therapiemaßnahmen eine Nervenregeneration aus und verbleiben funktionell relevante Einschränkungen, so kann zur zumindest teilweisen Wiederherstellung der verloren gegangenen Funktion eine Ersatzoperation durchgeführt werden. Diese sollte in der Regel erst nach einem Zeitraum von mindestens zwölf Monaten nach dem Trauma erfolgen, wenn eine Nervenregeneration definitiv nicht mehr zu erwarten ist. Das Prinzip der Ersatzoperationen ist die Transposition der Sehne eines intakten Muskels auf die Sehne eines paralytischen Muskels. Eine der am häufigsten durchgeführten Ersatzoperationen ist die sogenannte "Steigbügelplastik" zur Wiederherstellung der Fußhebung bei irreversibler Schädigung des N. peroneus. Dabei wird die Sehne des funktionierenden M. tibialis posterior (versorgt vom N. tibialis) durch die Membrana interossea nach vorne gezogen und mit den Sehnen des M. tibialis anterior und M. peroneus longus (beide versorgt vom N. peroneus) verbunden [4]. Voraussetzung für diese Operation ist allerdings ein intakter N. tibialis.


Literatur:
1. Müller-Vahl H, Mumenthaler M, Stöhr M, Tegenthoff M (2014) Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. 10. Aufl., Georg Thieme Verlag, Stuttgart - New York
2. Pöschl P, Schulte-Mattler WJ (2012) Neurophysiologische Diagnostik bei traumatischen Nervenläsionen. Klin Neurophysiol 43: 1-9
3. Seddon HJ (1943) Three types of nerve injury. Brain 66: 237-288
4. Steinau HU, Tofaute A, Huellmann K, Goertz O, Lehnhardt M, Kammler J, Steinstraesser L, Daigeler A (2011) Tendon transfers for drop foot correction: long-term results including quality of life assessment, and dynamometric and pedobarographic measurements. Arch Orthop Trauma Surg 131: 903-910
5. Stöhr M (2005) Klinische Elektromyographie und Neurographie - Lehrbuch und Atlas. 5. Aufl., Kohlhammer, Stuttgart
6. Sunderland S (1951) A classification of peripheral nerve injuries producing loss of function. Brain 74: 491-516



Prof. Dr. med. Peter Schwenkreis, Bochum

Neurologische Klinik
Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum Bergmannsheil
44789 Bochum

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2015; 37 (10) Seite 16-20