Wie häufig kommt Alkoholsucht bei Gefängnisinsassenvor? Welche Folgekrankheiten sind häufig? Welche Möglichkeiten der Intervention haben Hausärzt:innen vor und nach der Inhaftierung, diesen Menschen zu helfen? Diese Fragen wurden bei den 4. Gefängnismedizin-Tagen in Frankfurt am Main in der Arbeitsgruppe von Dr. Michael Lutz-Dettinger, leitender Arzt im Justizkrankenhaus in Kassel, diskutiert und die entsprechenden eigenen Erfahrungen mit diesen Patient:innen ausgetauscht.

In deutschen Gefängnissen sind etwa 50% der Insassen Substanzmittelabhängig, davon ca. 30% von Drogen und ca. 20% von Alkohol. In den letzten zehn Jahren ist diese Trennung sehr unscharf geworden, da eine Durchmischung der abhängigmachenden Substanzen stattgefunden hat im Sinne einer ganz überwiegenden Polytoxikomanie, also der gleichzeitigen Abhängigkeit von einer Vielzahl an Substanzen (Drogen, Medikamenten und Alkohol).

In der Allgemeinbevölkerung in Deutschland hat der Alkoholkonsum in den letzten 26 Jahren langsam, aber stetig abgenommen:
  • 1990 wurden 12,2 Liter reiner Alkohol pro Person konsumiert, das entspricht 180 Liter alkoholischer Getränke (Bier/Wein/Sekt/Spirituosen).
  • 1997 wurden 10,9 Liter reiner Alkohol pro Person konsumiert, das entspricht 160 Liter alkoholischer Getränke.
  • 2016 wurden 9,6 Liter reiner Alkohol pro Person konsumiert, das entspricht 135 Liter alkoholischer Getränke. Davon entfielen 106 Liter auf Bier, 24 Liter auf Wein und Sekt sowie 5,4 Liter auf höherprozentige Spirituosen (20- bis 80-prozentig).

Alkoholkonsum ist aber nach wie vor in der Allgemeinbevölkerung sehr verbreitet:
  • 96 % der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren trinkt Alkohol.
  • 1,6 Mio. Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren trinken missbräuchlich Alkohol.
  • 1,8 Mio. Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren sind alkoholabhängig.
  • Jährlich gibt es in Deutschland 74.000 Todesfälle durch riskanten Alkoholkonsum.
  • Jährlich gibt es in Deutschland ca. 13.400 Unfälle unter Alkoholeinfluss.
  • Jährlich gibt es in Deutschland ca. 242.500 Tatverdächtige, die die von ihnen begangenen Taten unter Alkoholeinfluss verübt haben, davon ca. 40.000 Gewalttaten unter Alkoholeinfluss.

Warum Hausärzt:innen gemieden werden
Viele alkoholkranke Menschen begeben sich sowohl vor der Inhaftierung als auch nach der Haftzeit nicht in eine hausärztliche Behandlung. Das hat mehrere Gründe – wie in den Gesprächen mit betroffenen Gefangenen zu erfahren war:
  • Alkoholkranke Menschen, die in ungeordneten Verhältnissen leben und daher auch häufiger ins Gefängnis kommen, haben oft keinen festen Wohnsitz, sie leben sozusagen unter der Brücke oder an einem möglichst geschützten Platz auf der Straße und haben daher ihrer Meinung nach gar keine Hausärzt:in, zu der sie gehen könnten.
  • Außerdem haben solche Menschen bei dieser Lebensweise oft auch gar keine Krankenversicherung und gehen von daher nicht zur Hausärzt:in.
  • Dann haben auch viele alkoholkranke Menschen eine innere Hemmung oder Scheu, zur Hausärzt:in zu gehen, weil sie sich für ihre Lebensweise und eben gerade auch für ihren Alkoholmissbrauch schämen. Sie sprechen darüber durchaus häufig mit gleichermaßen Betroffenen, aber sie wollen lieber nicht mit einer Hausärzt:in darüber sprechen. Das Bewusstsein, ein Leben außerhalb allgemein geltender Regeln zu führen, ist in der Regel mehr oder minder deutlich vorhanden.

Jährlich werden in Deutschland rund 3,2 Milliarden Euro an Steuereinnahmen durch den Verkauf von alkoholischen Getränken erzielt (Wein wird nicht besteuert). Dem stehen aber jährliche Krankheitskosten durch Krankenbehandlungen, langdauernde Arbeitsunfähigkeit, Siechtum und frühen Tod von ca. 40 Milliarden Euro gegenüber.

Folgekrankheiten der Alkoholabhängigkeiten, die im Justizvollzug besonders oft vorkommen und auffallen, sind gemäß den Erfahrungen der Arbeitsgruppe:
  • Fettleber, Leberzirrhose und primäres Leberzellkarzinom
  • chronisch rezidivierende Pankreatitis
  • chronisch atrophische Gastritis
  • Ösophagusvarizen
  • Karzinome in Mund, Rachen und Speiseröhre
  • Kolonkarzinome
  • dilatative Kardiomyopathie
  • Polyneuropathie

Zudem können Vitaminmangelerscheinungen durch die einseitige Ernährung mit Alkohol entstehen. Da Alkohol mit 7,1 kcal pro Gramm/Milliliter recht kalorienreich ist, sind Alkoholabhängige oft auch adipös.

Schließlich wurde auch die in Haft regelmäßig vorkommende Alkoholentzugsbehandlung in den ersten Tagen der Haft besprochen und erörtert, die zumeist mit Distraneurin, Diazepam oder seltener mit Clonidin durchgeführt wird. Schwere Entzugsbehandlungen mit intensivpflichtiger Behandlung sollten in einem vollzugsexternen Krankenhaus auf der dortigen Intensivstation durchgeführt werden.

Hausärzt:innen werden von ehemaligen Strafgefangenen leider eher selten aufgesucht, so die Erfahrungen der Arbeitsgruppe (vgl. Kasten).

5,6 Promille bei einem Kasachen

Etwa 50 % der Gefangenen in Deutschland stammen aus dem Ausland,davon fielen insbesondere aus Ländern östlich und südöstlich von Deutschland stammende Menschen mit zum Teil ganz erheblichem Alkoholmissbrauch auf. Der höchste Atemalkoholgehalt im Justizbereich in Deutschland wurde – soweit bekannt - bei einem frisch inhaftierten Kasachen mit 5,6 Promille gemessen. Den Alkoholkonsum in Kasachstan kann ich bestätigen. Auf meiner Fahrt auf der Seidenstraße durch dieses eindrucksvolle, sehr wenig besiedelte Land besuchte ich einen Lebensmittelladen. Es fiel auf, dass es ein sehr kleines und schmales Regal mit Wein und ein gewaltig großes, 4 Meter langes Regal mit Wodka gab (vgl. Abbildung).

Wichtig für die Sprechstunde
  • 1,8 Mio. Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren sind alkoholabhängig.
  • Etwa 20 % der Insassenin deutschen Gefängnissen sind alkoholabhängig.
  • Hausärzt:innen werden von Ex-Sträflingen eher selten aufgesucht.



AUTOR

Dr. med. Michael Lutz-Dettinger

Facharzt für Innere Medizin, Notfallmedizin, Suchtmedizin Leitender Medizinaldirektor Zentralkrankenhaus der Justizvollzugsanstalt
34121 Kassel



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 48-49