2035 werden in Deutschland rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein, fast 40 % der Landkreise werden unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein. Dies geht aus einer Studie des IGES Instituts und der Robert Bosch Stiftung hervor. Die Studie bestätigt damit bisherige Prognosen, die von einem zunehmenden Hausärztemangel in den nächsten Jahren ausgehen. Die Robert Bosch Stiftung schlägt deshalb einen weitreichenden Umbau der hausärztlichen Versorgung in Deutschland vor.

Insbesondere für Bürger:innen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg könnte es künftig schwierig werden, eine Hausärzt:in zu finden. In einigen Landkreisen geht die Zahl der Hausärzt:innen dort bis 2035 um rund 50 % zurück. Im Extremfall müssten Patient:innen in unterversorgten Kreisen damit rechnen, in ihrem Umfeld keinen einzige niedergelassene Hausärzt:in zu haben, prognostiziert die jetzt vorgestellte IGES-Studie. Und während der Hausarztmangel bislang vor allem in ländlichen Regionen als Problem bekannt ist, würden in absehbarer Zeit zunehmend auch städtische Gebiete betroffen sein. In einigen mittelgroßen Städten werde es 2035 rund 20 % weniger Hausärzt:innen geben.

Bis 2035 werden 30.000 Hausärzt:innen altersbedingt ausscheiden

Die Gründe für die drohende Versorgungslücke sind im Grunde seit langem bekannt. Zum einen ist da die Altersstruktur der derzeit praktizierenden Hausärzt:innen und die berufliche Orientierung der nachwachsenden Ärztegeneration. Bis 2035 werden altersbedingt fast 30.000 Hausärzt:innen ausscheiden. Die freiwerdenden Hausarztsitze werden Nachwuchsärzt:innen und zugewanderte Ärzt:innen nicht in gleicher Zahl besetzen, so das Szenario. Das liege zum einen daran, dass sich wenige Nachwuchsmediziner:innen dafür entscheiden, sich als Hausärzt:in niederzulassen. Zum anderen würden junge Ärzt:innen statt Einzelpraxen zunehmend Angestelltenverhältnisse und Teilzeitmodelle bevorzugen und sich eine stärkere multiprofessionelle Zusammenarbeit wünschen.

Gleichzeitig steigt der Bedarf an medizinischer Versorgung

Verschärfen werde sich die Situation noch dadurch, dass sich gleichzeitig der Bedarf an medizinischer Versorgung und Unterstützung in der Bevölkerung verändert. Der demografische Wandel führe dazu, dass sich das Krankheitsspektrum verschiebt und es mehr ältere Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen geben werde. Diese würden häufig eine individuelle Unterstützung in allen Lebensbereichen benötigen, die über die medizinische Versorgung allein hinausgeht.

Auch dies sind keine Erkenntnisse, auf die nicht auch andere Untersuchungen und Analysen bereits des Öfteren aufmerksam gemacht hätten. Nicht zuletzt gibt es ja zahlreiche Bestrebungen, wie die Hausarztmedizin und eine Niederlassung für Nachwuchsärzt:innen wieder attraktiver gemacht werden können. Die IGES-Studie kommt allerdings zu dem Schluss, dass es nicht genügen werde, einfach nur die Zahl der Hausärzt:innen zu erhöhen.

Regionale Primärversorgungszentren als Lösungsansatz

Um den Herausforderungen zu begegnen, raten die Studienautor:innen stattdessen zu einem möglichst raschen Umbau des Versorgungssystems. Die sogenannte Primärversorgung – also die Ebene, auf der die Menschen zuerst mit dem Gesundheitssystem in Kontakt kommen – nehme dabei eine Schlüsselfunktion ein. Ein wichtiger Baustein sei hier der Aufbau von lokalen, inhaltlich umfassenden Gesundheitszentren, in denen multiprofessionelle Teams von Ärzt:innen sowie Pflegenden mit anderen Gesundheitsberufen die Patient:innen bedarfsorientiert behandeln und optimalerweise deren familiäre und lebensweltliche Umstände kennen, empfehlen die Autor:innen. Solche Zentren sollten also multiprofessionell aufgestellt sein, Zugang zu hausärztlicher Versorgung, zu Physiotherapie und Psychotherapie ermöglichen sowie Sozialarbeit anbieten.

Pflegekräfte sollen Hausarztaufgaben übernehmen

Um die Versorgung zu garantieren, müssten ärztliche Aufgaben verstärkt delegiert werden. Dafür müsse die "systematische Vernachlässigung der Pflegeberufe" mit Blick auf deren Aufgabenzuschnitt und professionelle Handlungsautonomie beendet werden. Ausgebildeten Pflegefachkräften komme dabei also eine wichtige neue Rolle zu. Als "Community Health Nurses" sollen sie die zentrale Koordination sowie die Ersteinschätzung und Beratung von Patient:innen übernehmen und diese kontinuierlich beim Umgang mit ihren Krankheiten im Alltag unterstützen. In Ländern mit entwickelten Primärversorgungssystemen lägen größere Teile der Versorgung in der Verantwortung akademisch qualifizierter Pflegekräfte. Diese brauche es auch in Deutschland, so eine zentrale Forderung der Studie.

Derartige Primärversorgungszentren könnten zudem einen Beitrag leisten, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen, da sie eng in die Kommunen eingebunden seien, eine effiziente Leistungserbringung ermöglichten und einen Fokus auf Prävention legten.

Zentren mit attraktiven Arbeitsbedingungen

Das hört sich erst einmal recht vernünftig an und eine engere Verzahnung aller Beteiligten in der ambulanten Versorgung haben auch schon andere als möglichen Lösungsweg vorgeschlagen. Die Robert Bosch Stiftung kann nun allerdings auch schon mit einigen Beispielen aufwarten, wie solche Gesundheitszentren aussehen können. So hat die Stiftung seit 2017 insgesamt 13 sogenannte PORT-Zentren (Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung) gefördert. In diesen PORT-Zentren sehe man, wie eine gut koordinierte Gesundheitsversorgung für die Bürger:innen umgesetzt wird. Sie würden sowohl in bevölkerungsreichen Großstadtrevieren wie Hamburg-Veddel wie auf der dünn besiedelten Schwäbischen Alb funktionieren und böten den Menschen über die klassische Sprechstunde hinaus vielfältige Leistungen von der Prävention und Gesundheitsförderung über die Behandlung bis hin zur Rehabilitation, alles eng verzahnt und aufeinander abgestimmt. Dabei seien die Zentren auf die jeweiligen regionalen Besonderheiten zugeschnitten. Sie böten gleichzeitig attraktive Arbeitsbedingungen für pflegerisches und medizinisches Personal. Mit deutschlandweit 1.000 Standorten könnte Hochrechnungen der Stiftung zufolge eine flächendeckende Primärversorgung durch Gesundheitszentren nach dem PORT-Konzept möglich werden.

Zielrichtung ist die Politik

Der Vorschlag, die Primärversorgung zu stärken, ist Teil einer Agenda für das Gesundheitssystem in Deutschland, die die Robert Bosch Stiftung in ihrer Initiative "Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen" gemeinsam mit Bürgern und Gesundheitsexperten über drei Jahre hinweg erarbeitet hat. Die Autor:innen haben ihre Studie nicht zufällig nur wenige Monate vor der Bundestagswahl vorgelegt, denn sie hoffen, mit ihren Ideen bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen berücksichtigt zu werden.



Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (9) Seite 28-30