Bei einer anaphylaktischen Reaktion lässt sich der Auslöser allein durch Anamnese und Befund oft schon eruieren, wie im Fall einer Insektengiftallergie. Es gibt aber auch weniger eindeutige Verläufe, die einer sorgfältigen Differenzialdiagnostik bedürfen. Allzu lange darf man sich damit allerdings nicht Zeit lassen, weil die Anaphylaxie immer eine Akuttherapie erfordert. Danach stellt sich die Frage nach dem Langzeitmanagement.

Die Anaphylaxie ist eine akut auftretende systemische Reaktion, die mehr als ein Organsystem betrifft und potenziell lebensbedrohlich verlaufen kann. Am häufigsten ist die Haut betroffen mit dem Auftreten von Juckreiz, Erythem und Urtikaria. Aber auch die Schleimhaut kann reagieren mit Schwellungen, die als Angioödeme bezeichnet werden. Der Respirationstrakt ist häufig bei Kindern in Mitleidenschaft gezogen mit Dyspnoe oder Giemen bis zum Asthmaanfall. Bei Erwachsenen finden sich häufiger kardiovaskuläre Symptome wie Schwindel, Ohnmacht bis zum Herz-Kreislauf-Stillstand. Aktuelle Daten zeigen, dass eine Anaphylaxie sich auch ohne Hautsymptome manifestieren kann. Dies erschwert unter Umständen die Diagnosestellung, zumal die differenzialdiagnostische Palette, insbesondere bei respiratorischen und kardiovaskulären Symptomen, sehr groß ist. Eine korrekte Diagnosestellung ist jedoch Voraussetzung, um eine Anaphylaxie optimal zu behandeln. Im Folgenden wird anhand von zwei Fallbeispielen das Vorgehen bei einer Anaphylaxie dargestellt und anschließend auf die Erkrankung einschließlich Differenzialdiagnostik und Auslösern sowie Kofaktoren und schließlich auf das therapeutische Vorgehen eingegangen.

Bei Fallbeispiel 1 handelt es sich um eine 45-jährige Kollegin aus Ihrer Nachbarpraxis. Sie berichtet, vor wenigen Minuten von einer Wespe in die rechte Hand gestochen worden zu sein. Nun sei eine Rötung des gesamten Körpers aufgetreten, das rechte Auge schwelle zu und ihr sei schwindlig. Es ergeben sich bei der Frage, wie gehen Sie weiter vor, folgende Themen:
  1. Anamnese
  2. Akuttherapie
  3. Prophylaxe und Langzeitmanagement

1. Anamnese und Befund

Bezüglich der Anamnese gibt es die Fünf-Sekunden-Runde zur schnellen Prüfung der Vitalparameter, wie sie in die Überarbeitung der Leitlinie zur Akuttherapie der Anaphylaxie aktuell aufgenommen wurde [1]. Sie umfasst die Prüfung der Atemwege (kloßige Sprache, geschwollene Zunge), die Prüfung der Belüftung (Sprechdyspnoe, Stridor, Giemen), Zirkulation (Herzfrequenz und Blutdruck, Disability, Bewusstseinsprüfung) und Inspektion leicht einsehbarer Hautareale. Schließlich erfolgt nach dem AMPLE-Schema die Erfassung von Allergien (A), Medikation (M), Patientenvorgeschichte (P), letzter Mahlzeit (L) und Ereignissen (E). Aufgrund der eindeutigen Anamnese (Wespenstich und zeitnahes Auftreten von Symptomen) ist das Vorliegen einer Insektengiftanaphylaxie sehr wahrscheinlich und Sie würden die Akuttherapie gemäß Leitlinie einleiten.

2. Akuttherapie

Aufgrund der vorliegenden Schwere der Reaktion von mindestens Grad 2 würden Sie eine symptomorientierte Lagerung einleiten. Aufgrund des Schwindels wäre dies eine Hochlagerung der Beine. Dann sollte die sorgfältige intramuskuläre Gabe von Adrenalin (0,3 mg) erfolgen. Hier wäre die Nutzung eines Autoinjektors, sofern Sie diesen in der Praxis vorhalten, von Vorteil. Nun sollte ein Zugang für Volumenzufuhr gelegt werden und schließlich sollte die Gabe eines Antihistaminikums und eines Kortikosteroids intravenös erfolgen. Nachdem die Kollegin sich stabilisiert hat, sollten Sie sie mindestens zwei Stunden nachbeobachten und nach 14 Tagen die Insektengiftallergie diagnostisch aufarbeiten.

3. Prophylaxe und Langzeitmanagement

Hierzu gehört der Nachweis einer IgE-vermittelten Allergie mittels Haut- und/oder spezifischer IgE-Bestimmung. Zusätzlich sollte Gesamt-IgE bestimmt werden und die Tryptase, um das seltene Vorliegen einer Mastozytose auszuschließen. Die Basisdiagnostik im Labor und auch die anschließende Versorgung mit einem Notfallset kann jede Ärzt:in einleiten, um eine Sofortversorgung der betroffenen Patient:in sicherzustellen. In der Folge sollte die Kollegin sich in einem allergologischen Zentrum oder bei einem Allergologen vorstellen, um Hauttestungen mit Bienen- und Wespengift durchzuführen und zu prüfen, ob eine spezifische Immuntherapie zur Behandlung im Sinne einer Prävention eingeleitet werden sollte. Die Verordnung des Notfallsets umfasst einen Adrenalin-Autoinjektor (300 μg) sowie ein Antihistaminikum und ein Steroid für die orale Einnahme (Abb. 1). Wichtig ist, eine Schulung mit dem Adrenalin-Autoinjektor durchzuführen und die Patient:in darauf hinzuweisen, diesen stets bei sich zu tragen und im Notfall auch tatsächlich einzusetzen.

Differenzialdiagnose der Anaphylaxie

Der zweite Fallbericht betrifft Wilfried, er ist 27 Jahre alt und springt von einem Drei-Meter-Brett in das Schwimmbad. Er taucht nicht wieder auf und der Bademeister leitet Rettungsmaßnahmen ein. Über den Lautsprecher im Schwimmbad wird medizinische Hilfe angefordert. Was würden Sie in einer solchen Situation tun? Dieser Fall zeigt die breite Differenzialdiagnose der Anaphylaxie und im vorliegenden Fall könnte eine pharmakologisch-toxische Reaktion vorliegen, eine neuropsychiatrische Erkrankung, aber auch eine respiratorische Erkrankung, z. B. ein Spannungspneumothorax. Bei Hautrötungen käme hier das Vorliegen einer physikalischen Urtikariaform in Betracht. Eine Kälteurtikaria kann bei akuter Kälteeinwirkung, wie sie bei einem Sprung in kühles Wasser vorliegt, zu einer Anaphylaxie führen. Gerade während der Sommermonate sind solche Situationen nicht selten.

Pathomechanismus und Symptome der Anaphylaxie

Bei einer Anaphylaxie handelt es sich um eine mastzellabhängige Hypersensitivitätsreaktion (Abb. 1). Über einen IgE-vermittelten Mechanismus oder auch eine direkte Aktivierung kommt es nach Freisetzung von Mastzellmediatoren durch die Degranulation der Mastzelle zum Auftreten der klinischen Symptome. Je nach betroffenem Organsystem im Rahmen der Reaktion präsentiert sich das klinische Bild bei der Patient:in. Wie bereits oben erwähnt ist am häufigsten die Haut und Schleimhaut im Rahmen einer Anaphylaxie betroffen, gefolgt von respiratorischen und/oder kardiovaskulären Symptomen. Gastrointestinale Symptome treten insgesamt weniger häufig auf und finden sich prinzipiell eher bei der nahrungsmittelinduzierten Anaphylaxie. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass die Inzidenz der Anaphylaxie in den letzten 10 Jahren kontinuierlich zugenommen hat, wobei dies vor allem die nahrungsmittelinduzierte Anaphylaxie bei Kindern und die medikamenteninduzierte Anaphylaxie bei Erwachsenen betrifft [2].

Anaphylaxie-Register

Um die aktuellen Entwicklungen der Anaphylaxie bzgl. Auslöser, Umständen und auch Behandlung besser zu verstehen, wurde 2007 das Anaphylaxie-Register gegründet und bis zum Februar 2020 konnten hier mehr als 14.500 Fälle registriert werden. Die Daten zeigen, dass bei Erwachsenen Insektengifte, gefolgt von Medikamenten und Nahrungsmitteln, die häufigsten Auslöser einer Anaphylaxie darstellen, während sich bei Kindern mit Nahrungsmitteln, gefolgt von Insekten und Medikamenten, eine andere Reihenfolge der häufigsten Auslöser findet. Unter den Nahrungsmitteln sind die häufigsten Auslöser bei Kleinkindern Kuhmilch und Hühnerei in jüngeren Jahren (unter 2 Lebensjahre), während im Schulalter die Baumnuss- und Erdnussallergie als Ursache einer nahrungsmittelinduzierten Anaphylaxie häufiger vorkommt. Die Daten aus dem Anaphylaxie-Register haben gezeigt, dass bestimmte Risikofaktoren bzw. Lebensumstände das Auftreten einer Anaphylaxie begünstigen können [3]. Hierzu gehören Lebensstilfaktoren, wie körperliche Anstrengung, die Einnahme von bestimmten Medikamenten, der Konsum von bestimmten Nahrungsmitteln oder Flüssigkeiten, z. B. Alkohol, sowie bestimmte Vorerkrankungen, die Mastozytose. Aufgrund der großen Datenmenge im Anaphylaxie-Register war es möglich, das relative Risiko für schwere Reaktionen zu berechnen. Die Daten zeigen, dass Faktoren wie höheres Alter, moderate körperliche Aktivität, das männliche Geschlecht, die Mastozytose, aber auch Medikamente wie Betablocker und ACE-Hemmer das relative Risiko für eine schwere Reaktion steigern können [3].

Wiederholte Reaktionen und Bedeutung für die Patientenversorgung

Anaphylaktische Reaktionen können bei einer Patient:in wiederholt auftreten. Untersuchungen haben gezeigt, dass dies besonders häufig bei der Nahrungsmittelanaphylaxie, aber eben auch bei der Insektengift- oder Medikamenten-induzierten Anaphylaxie der Fall ist. Daher ist die Versorgung mit den Notfallmedikamenten für betroffene Patient:innen sehr wichtig. Als Erstlinienbehandlung wird die Anwendung von Adrenalin intramuskulär empfohlen [1]. Es gibt Autoinjektoren, die das Adrenalin sicher und pharmakologisch messbar nach Applikation in den Organismus bringen. Sie werden daher aktuell nicht nur für die Anwendung durch Patient:innen oder Angehörige, sondern auch Ärzt:innen empfohlen [4]. Die Verordnung eines Adrenalin-Autoinjektors ist indiziert bei einer systemischen Allergie mit extrakutanen Symptomen auf potente Allergene wie Erdnüsse, Baumnüsse, Milch und Sesam, aber auch für Patient:innen, die bereits auf kleinste Mengen eines Allergens reagieren, oder für Erwachsene mit Mastozytose. Die europäische Zulassungsbehörde (EMA) empfiehlt derzeit grundsätzlich die Verordnung von zwei Autoinjektoren. Denn zum einen können – wenn auch sehr selten – technische Probleme mit dem Autoinjektor auftreten, zum anderen benötigen bis zu 10 % der Patient:innen eine zweite Injektion, um den anaphylaktischen Zustand zu stabilisieren. In Fachkreisen wird diese Empfehlung der standardmäßigen Verordnung von zwei AAI kritisch diskutiert, jedoch besteht Einigkeit, dass insbesondere bei Patient:innen, die eine schwere Anaphylaxie erlitten haben, ein hohes Körpergewicht aufweisen, ein unkontrolliertes Asthma bronchiale haben, bei denen eine schlechte Erreichbarkeit der nächsten Klinik gegeben ist und schließlich organisatorische Aspekte bestehen (z. B. bei Kindern), zwei Autoinjektoren zu verordnen sind. Die Bestandteile von einem Notfallset zur Soforthilfe für Patient:innen sind in Abb. 1 dargestellt. Letztlich ist neben der Verordnung eines Notfallsets die Schulung von Betroffenen bzw. deren Angehörigen ein wichtiges Element der Betreuung, da auch wiederum Zahlen aus dem Anaphylaxie-Register zeigen, dass die Eigenanwendung durch die Patient:innen im Notfall stark verbessert werden kann. Hierzu ist es möglich, Schulungen über AGATE e. V. (https://www.anaphylaxieschulung.de/) bzw. Empfehlungen vom Deutschen Allergie- und Asthmabund (https://www.daab.de/) zu nutzen und Patient:innen darauf hinzuweisen. Nur durch eine vernetzt interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit ist es möglich, Patient:innen optimal zu versorgen und das Risiko für das Wiederauftreten einer erneuten potenziell lebensbedrohlichen Reaktion zu verhindern.


Literatur:
1. Ring et al. Guideline for acute therapy and management of anaphylaxis. Allergo J Int. 2014;23(3):96-112.
2. Lee S, Hess EP, Lohse C, Gilani W, Chamberlain AM, Campbell RL. Trends, characteristics, and incidence of anaphylaxis in 2001-2010: A population-based study. J Allergy Clin Immunol. 2017 Jan;139(1):182-188.e2.
3. Worm M, Francuzik W, Renaudin JM, Bilo MB, Cardona V, Scherer Hofmeier K, Köhli A, Bauer A, Christoff G, Cichocka-Jarosz E, Hawranek T, Hourihane JO‘, Lange L, Mahler V, Muraro A, Papadopoulos NG, Pföhler C, Poziomkowska-Gęsicka I, Ruëff F, Spindler T, Treudler R, Fernandez-Rivas M, Dölle S. Factors increasing the risk for a severe reaction in anaphylaxis: An analysis of data from The European Anaphylaxis Registry. Allergy. 2018 Jun;73(6):1322-1330.
4. Worm M, Nguyen D, Rackley R, Muraro A, Du Toit G, Lawrence T, Li H, Brumbaugh K, Wickman M. Epinephrine delivery via EpiPen® Auto-Injector or manual syringe across participants with a wide range of skin-to-muscle distances. Clin Transl Allergy. 2020 Jun 10;10:21.

ESSENTIALS – Wichtig für die Sprechstunde
  • Wenn eine Anaphylaxie ohne Hautsymptome auftritt, kommen viele Differenzialdiagnosen infrage.
  • Das Notfallset zur Soforthilfe besteht aus Adrenalin (Autoinjektor), H1-Antihistaminikum und Glukokortikoid.
  • Die EMA empfiehlt, zwei Autoinjektoren zu verordnen.



Autorin

Prof. Dr. med. Margitta Worm

Allergologie und Immunologie
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie
Charité-Universitätsmedizin Berlin
10117 Berlin

Interessenkonflikte: Die Autorin hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (7) Seite 16-19