Unter primären Immundefekten verbirgt sich eine große Gruppe sehr heterogener seltener Abwehrschwächen, von denen sich einige erst im Erwachsenenalter manifestieren können. Das Leitsymptom "hohe Infektanfälligkeit" sollte hellhörig machen. Mit den diagnostischen Mitteln der Hausärzt:in lässt sich der Verdacht eines Immundefektes erhärten − und die Patient:innen gegebenenfalls in eine fachspezifische Behandlung weiterleiten.

Beim Thema Immunschwäche denkt man wohl zunächst an erworbene Immundefekte wie bei AIDS oder bei Einnahme von Kortikosteroiden. Weitaus seltener sind angeborene Immundefekte, die sich zu etwa einem Drittel auch erst im Erwachsenenalter bemerkbar machen. Diese Patient:innen mit primärem Immundefekt (PID) gilt es herauszufiltern und sie einer spezifischen Behandlung zuzuführen, um ihnen lebenslange Beeinträchtigungen oder lebensbedrohliche Infektionen wie eine Sepsis zu ersparen.

PID ist selten

Eine PID zu entdecken ist gar nicht so einfach. Denn insgesamt ist eine angeborene Immunschwäche selten. Als "selten" gelten in der Europäischen Union Erkrankungen, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen daran leiden. Und das trifft für PID zu: In Deutschland wird die Inzidenz mit etwa einer Erkrankung pro 37.000 Einwohner angegeben. Doch vermutlich ist die Dunkelziffer deutlich höher. Denn meist vergehen viele Jahre, bis ein Immundefekt erkannt wird. Erschwert wird die Erfassung der PID-Inzidenz dadurch, dass PID ein Sammelbegriff ist. Darunter werden über 400 Einzeldiagnosen zusammengefasst, die sich in ihren das Immunsystem betreffenden Gen-Mutationen unterscheiden. Und jede dieser immunologischen Erbkrankheiten gilt als "rare disease".

Verdächtig: Häufige schwere Infekte

Doch wie kommt man nun dem PID auf die Spur? Leitsymptom ist zunächst die erhöhte Infektanfälligkeit. Mehrals drei antibiotikapflichtige Infektionen von über drei Wochen Dauer sind zumindest ungewöhnlich. Der Verdacht auf PID kann erhärtet werden, wenn diese Infektionen genauer betrachtet werden − und zwar nach Kriterien, die im Akronym ELVIS (Erreger, Lokalisation, Verlauf, Intensität, Summe) zusammengefasst werden (vgl. Kasten).

ELVIS: Kriterien für primären Immundefekt
  • Erreger: Infektionen durch ungewöhnliche Erreger, die bei immunkompetenten Personen nur selten zu schweren Erkrankungen führen (z. B. Pneumonie durch Pneumocystis jirovecii oder Candida-Sepsis) oder rezidivierende schwere Infektionen mit "gewöhnlichen" Erregern.
  • Lokalisation: Polytope Infektionen oder atypische Lokalisationen von Infektionen, z. B. Hirnabszess durch Aspergillus spp. oder Leberabszess durch S. aureus.
  • Verlauf: Protrahierter Verlauf von Infektionen oder unzureichendes Ansprechen auf die antibiotische Therapie. Ein Beispiel: Die chronische Rhinosinusitis – bei 50 % dieser Patient:innen, die auf eine adäquate Therapie nicht ansprechen, liegt ein primärer Immundefekt vor.
  • Intensität: Ein vermehrtes Auftreten von sogenannten Major-Infektionen wie Pneumonie, Meningitis, Sepsis, Osteomyelitis und invasiven Abszessen oder ungewöhnlich häufig rezidivierende Minor-Infektionen gelten als Warnsignale.
  • Summe: Die Anzahl der Infektionen empfinden gerade Betroffene bzw. Angehörige oft als führendes Symptom. Hier gilt es, zwischen subjektivem Empfinden und objektivierbarer Dokumentation zu unterscheiden. Die Angabe von Schwellenwerten, über denen eine pathologische Infektionshäufigkeit vorliegt, ist zudem problematisch.

Hinweise aus Labor und Familienanamnese

Passen bei ELVIS einige Punkte auf PID, sollten labordiagnostisch Blutbild und Differenzialblutbild mit Blutausstrich veranlasst werden und die Immunglobuline IgA, IgM, IgE sowie IgG (plus Subklassen vor allem IgG1 und IgG2) bestimmt werden. Zur Basisdiagnostik gehört auch eine Serum- und Urin-Elektrophorese zum Ausschluss maligner Erkrankungen. Auch ein HIV-Test wird empfohlen.

Des Weiteren kann die Familienanamnese Hinweise auf eine PID geben. Dabei sollte gefragt werden, ob Verwandte häufig unter Infektionen litten und oft Antibiotika nötig waren. Fälle von Autoimmunerkrankungen oder chronisch-entzündliche Erkrankungen in der Familie können ebenfalls auf eine erbliche Immunschwäche hindeuten.

Kann mittels Basisdiagnostik und Familienanamnese ein PID nicht ausgeschlossen werden, sollte Kontakt mit einem spezialisierten Zentrum aufgenommen werden. Denn schließlich werden unter dem Begriff PID über 400 Einzeldiagnosen monogen vererbter Immundefekte zusammengefasst, die in zehn Kategorien eingeteilt werden (Tabelle 1). Wo das nächste PID-Zentrum ist, kann hier eruiert werden:

Immundysregulation

Zu den PID gehören nicht nur Syndrome mit einem "Mangel an Abwehr", vielmehr liegt bei einem Viertel der Patient:innen eine Fehlfunktion des Immunsystems vor. Hier kann das klinische Erscheinungsbild durch die Störung der Immuntoleranz gegenüber körpereigenen Strukturen geprägt werden (Störung der immunologischen Homöostase). Die Immundysregulation manifestiert sich dabei in Form von Autoimmunerkrankungen, Hautekzemen, chronischen Darmentzündungen, Allergien, chronisch-rezidivierendem Fieber sowie der Ausbildung von Granulomen. Diese Immundysregulation kann mit oder ohne begleitende Infektionsanfälligkeit einhergehen. Zur besseren Beschreibung von Immundysregulation im Rahmen von PID wurde das Akronym GARFIELD etabliert (Granulome, Autoimmunität, Rezidivierendes FIeber, ungewöhnliche Ekzeme, Lymphoproliferation, chronische Darmentzündung).

Antikörpermangelsyndrome

Die meisten der im Erwachsenenalter diagnostizierten primären Immundefekte sind mit einem Antikörpermangel assoziiert. Dieser kann auch bei der Allgemeinärzt:in durch die Laborbestimmung der Serumimmunglobuline erkannt werden. Allerdings wird in der PID-Diagnose-Gruppe "Antikörpermangelsyndrome" wiederum eine Vielzahl an Einzeldiagnosen zusammengefasst. Hier einige Beispiele der genetisch bedingten Antikörpermangelsyndrome:

Common Variable Immunodeficiency Disorder (CVID)

Das variable Immundefektsyndrom ist der häufigste angeborene Immundefekt bei Erwachsenen und eine Ausschlussdiagnose. Als "variabel" wird diese Erkrankung bezeichnet, da an verschiedenen Stellen des Immunsystems Defekte vorkommen können und sich das Krankheitsbild daher sehr uneinheitlich darstellen kann. Es besteht somit keine einzelne Mutation. Gemeinsam ist jedoch all diesen unter CVID zusammengefassten Mutationen, dass sie in ein Antikörpermangelsyndrom münden.

In der Folge kommt es zu einer erhöhten Infektanfälligkeit. Vor allem bakterielle Infektionen der Luftwege sind häufig. Des Weiteren finden sich häufig Zeichen der Immundysregulation wie Autoimmunität, Splenomegalie, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen oder Granulome. Die Diagnose kann gestellt werden bei einem Mangel an IgA und IgG und Fehlfunktion des Immunsystems, z B. pathologische Impfantwort.

Bruton-Agammaglobulinämie:

Bei der Bruton-Agammaglobulinämie fehlt B-Lymphozyten die Fähigkeit, Antikörper zu produzieren. Der genetische Defekt betrifft eine Tyrosinkinase, die für das Wachstum und die Entwicklung von B-Zellen wichtig ist, und hat einen Reifungsstopp von Prä-B-Zellen zur Folge. Das als Bruton-Tyrosinkinase bezeichnete Enzym wird vom Gen BTK kodiert, das sich auf dem X-Chromosom befindet. Daher sind fast nur Männer betroffen. Typisch ist das Fehlen von Lymphknoten und Rachenmandeln.

In der Regel fällt die Erkrankung meist schon im Kindesalter durch häufige bakterielle Atemwegsinfektionen (Streptokokken, Staphylokokken, Hämophilus influenzae) auf. Die Abwehrreaktion gegenüber vielen Viren, Pilzen, Protozoen oder auch Mycobacterium tuberculosis bleibt – aufgrund der funktionierenden zellulären Abwehr durch T-Lymphozyten – bestehen. Hypomorphe Mutationen bedingen die Erstmanifestation im Erwachsenenalter.

CTLA-4-Defizienz:

CTLA-4 (für cytotoxic T-lymphocyte-antigen-4) wird an der Zelloberfläche von T-Zellen exprimiert. Es hat die Funktion, eine Überreaktion des Immunsystems zu verhindern. Wird CTLA-4 aufgrund einer Mutation nicht ausreichend oder fehlerhaft gebildet, kann es zu einem Immundefekt- und Immundysregulationssyndrom kommen.

Das klinische Bild der CTLA-4-Defizienz ist sehr variabel. Durch die Regulationsstörung der Immunantwort kommt es zu einem Antikörpermangel, rezidivierenden respiratorischen Infekten sowie häufig zu Autoimmunität. Therapeutisch gibt es hier außer symptomatischen Maßnahmen und gegebenenfalls einer Immunglobulin-Substitution eventuell künftig noch eine weitere Möglichkeit: Die Biologika Abatacept und Belatacept sind CTLA-4-Fc-Fusionsproteine (zugelassen u.a. bei rheumatoider Arthritis) und könnten zumindest teilweise die Funktion des fehlenden körpereigenen CTLA-4 ersetzen.

Therapeutisch wichtig: hohe Hygienestandards + Impfen

Zur Therapie von PID-Patient:innen gehören generell allgemeine Hygienemaßnahmen wie das Meiden größerer Menschenansammlungen, häufiges Händewaschen und gute Zahn- und Hautpflege. Auch Impfungen sollten unter der Berücksichtigung der STIKO-Empfehlungen bei Immundefekten erfolgen. Die Grippeschutzimpfung sowie die Pneumokokkenimpfung werden bei fast allen Immundefekten empfohlen.

Stand-by-Antibiotika

Je nach Grunderkrankung und individueller Immunitätslage und Ausprägung können auch antimikrobielle oder antivirale Maßnahmen zur Primär- oder Sekundärprophylaxe angezeigt sein. Um schwere Verläufe zu verhindern, kann bei ausgewählten Patient:innen eine Stand-by-Antibiotika-Therapie sinnvoll sein. Hier nehmen die Patient:innen selbstständig die Medikamente bei beginnender Infektion.

Immunglobulinsubstitution

Für die meisten Antikörpermangelsyndrome steht die Möglichkeit der Immunglobulinsubstitution zur Verfügung. Allerdings sollte die Diagnostik komplett abgeschlossen worden sein, um falsch-negative Befunde zu vermeiden.

Als gesicherte Indikation für eine Immunglobulinsubstitution gilt eine pathologische Infektneigung bei Agammaglobulinämie (< 2g/l IgG im Serum mit < 2 % reifen B-Zellen im peripheren Blut)oder signifikanter Hypogammaglobulinämie (Serum-IgG mindestens zwei Standardabweichungen unter der Altersnorm) mit eingeschränkter Impfantwort. Außer den antimikrobiellen Effekten kann eine Antikörpersubstitution möglicherweise auch Manifestationen einer Immundysregulation wie Autoimmunzytopenien positiv beeinflussen.

Die Immunglobuline können entweder in der Klinik intravenös oder auch subkutan von der Patient:in selbst injiziert werden. Die Dosierung richtet sich nach der Grunderkrankung. Im ersten Therapiejahr sollten die Immunglobulinwerte monatlich kontrolliert werden, danach reichen dreimonatliche Kontrollen aus.

Quelle: August D., Grimbacher B., "Immundefekte im Erwachsenenalter – ein Überblick für Allgemeinmediziner" aus: Tägliche Praxis 2021, 65, 1-11

Wichtig für die Sprechstunde
  • Primäre Immundefekte (PID) können in jedem Alter manifest werden, die Diagnose erfolgt oft verzögert.
  • Die Basisdiagnostik besteht aus DD-BB, Blutausstrich, Immunglobulinen, Serum/Urin-E-phorese, HIV-Test.
  • Die häufigsten PID sind Antikörpermangelsyndrome.


Literatur:
1. Deutsche Gesellschaft für Immuologie e.V. S2k-Leitlinie Diagnostik auf Vorliegen eines primären Immudefekts (PID). AWMF-Registernummer 112-001 (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/112-001.html). Zugegriffen: 10.2.2022
2. Bousfiha A., Jeddane L., Picard C., Al-Herz W., Ailal F., Chatila T. et al., Human Inborn Errors of Immunity: 2019 Update of the IUIS Phenotypical Classification. J Clin Immunol 2020; 40: 77-81


Autor
Angelika Ramm-Fischer



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 14-17