Vor der Entdeckung des Insulins vor 100 Jahren war die Einschränkung der Nahrungsaufnahme bis hin zur Null-Diät die einzige Therapiemöglichkeit bei Typ-2-Diabetes. Ein Typ-1-Diabetes war damals noch ein Todesurteil. Die Tradition der Diabetes-Diät hat sich aber bis heute, trotz anderslautender moderner Leitlinien, bei Patient:innen und auch noch im ärztlichen Unterbewusstsein gehalten. Zeit für ein Update.

Praxisbeispiel
Frau M., 84 Jahre, zeigt in der letzten Nicht-Nüchtern-Blutentnahme plötzlich einen Blutzuckerwert von 224 mg %, der darauf abgenommene HbA1c Wert beträgt 7,8 %. Sie wiegt 91 kg bei 174 cm Körpergröße, hat in den letzten 6 Monaten ca. 10 kg abgenommen. Vorerkrankungen: Art. Hypertonie, HLP, KHK, Z. n. Myokardinfarkt, Z. n. zerebralem Insult mit leichter Hemiparese rechts, Inkontinenz, Mobilität: am Gehwagen mobil, Pflegedienst 1 x täglich.Was wäre Ihre Ernährungsempfehlung/Ihr Therapievorschlag?

Tatsächlich ist Übergewicht immer noch das markanteste äußere Merkmal bei Diagnosestellung eines Typ-2-Diabetes. Basistherapie bei Diabetes mellitus ist daher eine gesunde, kalorienbegrenzte Ernährung zur Minderung der kardiovaskulären Risikofaktoren. Dies gilt aber ebenso für übergewichtige Menschen ohne Diabetes [1].

Keine Evidenz für spezielle Ernährungsempfehlungen

Die Empfehlungen zur Gewichtsabnahme zeigen, bis auf eine mediterrane Diät mit Einsatz von viel Olivenöl und Nüssen, langfristig bislang kaum Erfolge. Grund dafür mag auch sein, dass Adipositas, wie auch Typ-2-Diabetes, überwiegend genetische Ursachen hat und nicht durch eine reine "Charakterschwäche" gekennzeichnet ist. Damit sind viele frustrane und konfliktreiche Therapieansätze erklärbar.

Trotzdem bleibt konservativ therapeutisch für jüngere Patient:innen neben der Bewegung natürlich nur die Möglichkeit der kalorienbegrenzten Ernährung. Die Evidenz von spezielleren Ernährungsempfehlungen bei Diabetes ist generell schlecht, langfristige Evaluierungen in randomisierten, kontrollierten Studien fehlen weitestgehend. Eine Evidenz für spezielle Ernährungsempfehlungen bei Diabetes im Alter ist faktisch nicht vorhanden [2, 3].

Ist Abnehmen im Alter noch sinnvoll und effektiv?

Allgemein verschwimmt im Alter das Mortalitätsrisiko von Übergewicht vor dem anschwellenden Grundrauschen der übrigen, schon fortgeschrittenen Herz-Kreislauf-Risiken. Das Gesundheitsrisiko durch ein erhöhtes Körpergewicht nimmt im Alter über 70 Jahren relativ ab. Erst ab einem BMI über 35 kg/m2 gibt es Anzeichen für zunehmende Beeinträchtigungen der Selbsthilfefähigkeiten und damit auch der Lebensqualität.

Tendenziell entwickelt sich besonders bei multimorbiden Älteren mit Diabetes eher Untergewicht und Sarkopenie mit steigender Mortalität und Funktionsverlust. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft differenziert ältere Menschen mit Diabetes daher folgendermaßen [2]:
  • Funktionell unabhängig: ältere Menschen mit Diabetes mellitus und gutem funktionellem Status. Patient:innen mit wenig Komorbidität, allenfalls geringer kognitiver Einschränkung und guten Kompensationsmöglichkeiten.
  • Funktionell leicht bis stark abhängig: multimorbide ältere Menschen mit Diabetes und unterschiedlich stark eingeschränktem funktionellem Status bis hin zu ausgeprägten kognitiven Einschränkungen und Vorliegen von Erkrankungen mit limitierter Lebensprognose.
  • Menschen, die sich in der unmittelbaren Sterbephase befinden.

Diese Patientendifferenzierung nach Funktionalität stammt aus der Praxisleitlinie Deutsche Diabetes Gesellschaft 2018: "Diabetes im Alter" [2].

Funktionell eingeschränkte und meist multimorbide ältere Menschen werden als geriatrisch bezeichnet. Nichtgeriatrische Menschen werden wie jüngere Menschen mit Diabetes auch in Bezug auf ihre Ernährung behandelt.

Was sind die allgemeinen Ziele einer Ernährung bei Diabetes?

Die Ziele einer Ernährungsempfehlung bei Diabetes sind abhängig vom Körpergewicht, der Körperzusammensetzung und den verschiedenen Therapieformen:

1. Bei nichtgeriatrischen Patient:innen mit Übergewicht und hohem viszeralem Fettanteil:
  • Kalorienbegrenzte/-reduzierte Ernährung zur Verbesserung des Stoffwechsels über Minderung der Insulinresistenz
  • Reduktion des kardiovaskulären Risikos

2. Bei geriatrischen Patienten:
  • Vermeidung von Kachexie und Mangelernährung
  • keine kalorienbegrenzten Diäten

3. Bei fixer insulinotroper Therapie, wie Sulfonylharnstofftherapie, konventioneller Insulintherapie oder intensivierter Insulintherapie mit festen Insulindosen:
  • Regelmäßige Mahlzeiten mit annähernd ähnlichen Kohlenhydratmengen. Dazu ist ein grobes Wissen um den Kohlenhydratgehalt verschiedener Mahlzeiten hilfreich, meist reicht aber schon die Einhaltung der Ernährungsgewohnheit, um Stoffwechselschwankungen zu vermeiden.

4. Bei flexibler Kohlenhydrataufnahme nach dem Basis-Bolus-Prinzip mit BE-Faktoren:
  • Bis auf die Vermeidung größerer Mengen an schnell resorbierbaren Kohlenhydraten, wie Natur-Fruchtsäfte, völlig freie Ernährung. Zur Vermeidung von Stoffwechselschwankungen ist aber genaues Wissen um den Kohlenhydratgehalt der gewünschten Mahlzeit zur Berechnung der passenden Insulindosis notwendig.

Ernährungssituation und typische Therapiestrategien bei geriatrischen Menschen mit Diabetes

Bei geriatrischen Menschen mit Diabetes ist das führende Problem die Mangelernährung und Sarkopenie, die beiden Charakteristika des frailty=Gebrechlichkeitssyndroms [3]. Die restliche Lebenserwartung von multimorbiden, geriatrischen Patient:innen liegt in der Regel unterhalb von 10–15 Jahren. Damit lassen sich kardiovaskuläre Risiken und diabetische Folgeschäden anders als bei nicht-geriatrischen älteren Patient:innen durch Stoffwechseltherapien nicht mehr wesentlich beeinflussen. Ernährungsziel 4 (siehe oben) fällt damit weg. Es geht nicht mehr um Adipositasvermeidung, sondern um die Verhinderung von Mangel- und Unterernährung! Standarddiäten, wie die traditionelle Diabetes-Diät mit Kohlenhydrat- und Kalorienbeschränkung, tragen eher zur Erhöhung des Gesundheitsrisikos und der Mortalität bei und sollten bei geriatrischen Patient:innen mit Diabetes absolut vermieden werden.

Eine Mangelernährung bei geriatrischen Menschen kann mit Hilfe von z. B. Body-Mass-Index, Messung des Hüft-Taillen-Umfanges wie auch dem Mini Nutritional Assessment standardisiert erfasst werden. Die Kombination aus Eiweißmangel und Vitamin-D-Defizit ist typisch für Mangelernährung im Alter. Daher sollten Albumin und Vitamin D im Serum mitbestimmt werden. Neben der verminderten Vitamin-D-Aufnahme ist auch die fehlende Exposition von Tages- und Sonnenlicht durch Immobilität, besonders im Winter, für einen Vitamin-D-Mangel ursächlich. Daraus resultiert eine erhöhte Osteoporoserate, ein erhöhtes Sturzrisiko und ein gesteigertes Risiko für Knochenbrüche und sogar Spontanfrakturen.

Der typische Eiweißmangel geriatrischer Menschen resultiert aus einer verminderten Eiweißaufnahme und -verwertung. Eiweißmangel, speziell Albuminmangel, hemmt die Zellregeneration. Dies ist insbesondere für den Muskelaufbau und die Wundheilung von entscheidender Bedeutung. Ältere Menschen mit Diabetes zeigen trotz gleicher Muskelmasse eine vergleichsweise verminderte Kraft und damit ein deutlich erhöhtes Risiko für frailty. Die daraus resultierende Immobilität kann bei Diabetes mellitus wiederum eine Stoffwechselentgleisung provozieren und unterhält damit einen Teufelskreis aus eingeschränkter Funktionalität, Immobilität, Verlust von Muskelkraft und weiterer Funktionseinschränkung.

Frailty erhöht die Sterblichkeit

Verminderte Muskelmasse und -kraft sowie Kachexie, in seltenen Fällen aber auch Übergewicht mit drastischem "Überhang" an Fettgewebe, ist charakteristisch für das gefährliche geriatrische Syndrom der frailty (Gebrechlichkeit). Frailty ist mit einer hohen Sturz- und Knochenbruchrate sowie einer deutlich erhöhten Sterblichkeit verbunden. Eiweißmangel führt zusätzlich zu einer schlechteren Wundheilung wie beim diabetischen Fußsyndrom. Größere Wunden wie beim chronisch sezernierenden Ulkus cruris steigern den Eiweißmangel noch durch Eiweißverlust über die Wunde und führen in einen Circulus
vitiosus.

Die Ursachen für Mangelernährung sind komplex und beeinflussen sich gegenseitig negativ: Multimorbidität, verstärkt durch Diabetes, verursacht Multimedikation. Dadurch verminderter Appetit verursacht Gewichtsabnahme, Sarkopenie und Immobilität und damit wieder Multimorbidität. Multimedikation, auch durch orale Antidiabetika, muss regelmäßig überprüft werden. Eine tendenziell frühere Insulinierung wegen häufigen Sekundärversagens und anaboler Wirkung kann Abhilfe schaffen. Es gibt aber auch einen "Medikationsmangel".

Depressionen durch Krankheitsbelastungen, Unsicherheit und soziale Isolation als Ursache für Appetitmangel, sind bei Diabetes im Alter etwa doppelt so häufig wie ohne Diabetes und lassen sich medikamentös oft gut behandeln.

Weitere Gründe für Mangelernährung bei Diabetes:

Typische Ursachen für Mangelernährung im höheren Lebensalter sind:
  • Multimedikation/Polypharmazie
  • Zahn-/Prothesenprobleme, Parodontitis
  • Schleimhautatrophien und -entzündungen (Gastritis) im Gastrointestinaltrakt
  • Multimorbidität wie Herz- und Lungeninsuffizienz, Schilddrüsenüberfunktion, terminales Nierenversagen, chronische Wunden
  • Chronischer Schmerz
  • Immobilität
  • Depression
  • Kognitive Defizite/ Demenz => Essen wird vergessen
  • Abnahme des Seh-, Hör- und Geschmackssinnes

All diese Risikofaktoren für Mangelernährung beeinflussen den Diabetes wieder negativ, sodass oft ein Teufelskreis weiter in Richtung Unter- und Mangelernährung entsteht.

Therapiemöglichkeiten bei Mangelernährung

Neben der Erfassung und Behandlung von Risikofaktoren für Mangelernährung ist eine möglichst abwechslungsreiche "bunte Wunschkost" unter Einsatz von hochkalorischen, proteinreichen und vitaminhaltigen Zusatzstoffen empfehlenswert. Unkontrolliert größere Mengen an süßen, schnell resorbierbaren Kohlenhydraten, wie Natursäfte, sollten dagegen wegen der Gefahr von kaum noch kompensierbaren Blutzuckeranstiegen vermieden oder – als einzige Ausnahme – in Form von Diätsäften eingesetzt werden.

Medikamentöse Diabetestherapie und Ernährung

Eine konventionelle Insulin- oder Sulfonylharnstofftherapie wie in Ernährungsziel 2. benötigt ein regelmäßiges Essverhalten. Für alle anderen Antidiabetika reichen die allgemeinen Ernährungsempfehlungen wie o. g.

Sollten unter einer Insulin- oder Sulfonylharnstofftherapie Mahlzeiten vergessen werden oder aus Appetitmangel unregelmäßig erfolgen, muss zur Vermeidung von schweren Hypoglykämien auf eine postprandiale Gabe von schnell wirksamem Insulin mit festem Insulin-Korrekturplan – notfalls durch Angehörige – umgestellt werden.

Zusammenfassung
Bei der Ernährung geriatrischer Menschen mit Diabetes sollten folgende Punkte beachtet werden:
  • Übergewicht sollte toleriert werden, solange es nicht deutlich lebensqualitätseinschränkend ist (z. B. Arthroseschmerzen).
  • Eine Umstellung auf eine ausgewogene Ernährung nach Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (fettmoderat, stärkebetont und ballaststoffreich) sollte nur bei langfristigen Erfolgsaussichten patientenseitig angewandt werden.
  • Auf ausreichende Versorgung mit Spurenelementen und Vitaminen sollte geachtet werden (auch Übergewichtige sind häufig fehlernährt!).
  • Ein Ernährungsassessment ist bei gebrechlichen älteren Menschen sinnvoll.
  • Kau- und Schluckstörungen, entzündliche Erkrankungen des Zahnfleisches (Parodontitis) sowie Zahnprobleme müssen mitberücksichtigt werden.
  • Regelmäßige Hinterfragung einer Multimedikation ist sinnvoll.
  • Wenn von Patienten gewünscht, kann eine Ernährungsberatung und an den Patientenmöglichkeiten orientierte Diabetesschulung ggf. auch für Angehörige angeboten werden.
  • Essen bedeutet im hohen Lebensalter eine der letzten noch verbleibenden Lebensqualitäten. Daher sollte eine Einschränkung der Lebensmittelauswahl bis auf Vermeidung großer, schnell resorbierbarer Kohlenhydratmengen, wie Natursäfte, (ausgewogene Mischkost in Anlehnung an individuelle Lebensgewohnheiten) vermieden werden.
  • Jede körperliche Bewegung ist besser als keine, sie ist appetitanregend und in regelmäßiger Form auch stoffwechselstabilisierend.
  • Insulin oder Sulfonylharnstoffe sollten in Zeitpunkt und Dosierung auf die Menge und die Art der Kohlenhydrate abgestimmt werden. Dabei sollte die Medikation der "Ernährung folgen" – nicht umgekehrt! Dies gilt auch für Sondenkost.
  • Keine Diät- oder "Diabetiker- Produkte" bis auf Diätsäfte.

Besonderheiten bei Menschen mit Diabetes mellitus und Sondenernährung

Patient:innen mit Diabetes und Sondenernährung brauchen eine Abstimmung zwischen Art und Umfang der Sondenkost sowie einer möglichen Insulintherapie. Generell sind Sondenbolusgaben zu bevorzugen, da physiologischer. Sollten orale Antidiabetika nicht mehr ausreichen, ist eine Therapie mit schnell wirksamem Insulin, ebenfalls in Bolusform, direkt mit der Sondenbolusgabe indiziert. Bei Therapie mit Ernährungspumpen sind unterschiedliche Langzeit-Insulingaben je nach Dauer der Pumpenzufuhr zu bevorzugen. In den Pausenzeiten sollte möglichst keine oder wenig Insulinwirkung vorhanden sein, um Hypoglykämien zu vermeiden. Dazu ist eine Absprache zwischen Pflege und Ärzt:in notwendig. In den meisten Fällen kann durch Abstimmung der Therapie auf eine teure Diabetes-Spezialkost verzichtet werden.

ESSENTIALS - Wichtig für die Sprechstunde
  • Übergewicht sollte toleriert werden, solange es die Lebensqualität nicht einschränkt.
  • Standarddiäten tragen eher zur Erhöhung des Gesundheitsrisikos und der Mortalität bei.
  • Multimedikation sollte regelmäßig hinterfragt werden.


Literatur:
1. Volkert D et al; Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM)in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGGKlinische Ernährung in der Geriatrie – Teil des laufenden S3-Leitlinienprojekts Klinische Ernährung; Aktuel Ernahrungsmed 2013; 38: e1–e48
2. Zeyfang A, Wernecke J, Bahrmann A; Diabetes mellitus im Alter. Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetesgesellschaft. Diabetologie und Stoffwechsel 2019; S2: S207-213.
3. American Diabetes Association: Older Adults: Standards of Medical Care in Diabetes—2020, Diabetes Care 2020 Jan; 43(Supplement 1): S152-S162.


Autor
Chefarzt der Klinik für Diabetologie und Medizinisch-Geriatrischen Klinik
AGAPLESION Diakonieklinikum Hamburg
20249 Hamburg

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (10) Seite 42-46