Es vergeht kaum eine Woche, in der keine Veranstaltung zur "Revolution" der digitalen Gesundheitsversorgung stattfindet. Gleichzeitig treten wir immer noch auf der Stelle, was grundlegende Werkzeuge wie die ePa angeht. Dabei läuft uns langsam, aber sicher die Zeit davon: Tech-Giganten wie Amazon & Co drängen zunehmend auf den klassischen Gesundheitsmarkt und machen immer mehr Druck, auch auf die ambulanten Versorgungsstrukturen.

Die Ärzt:innen in Deutschland sind grundsätzlich offen für die Digitalisierung des Gesundheitssystems. Laut Technikradar 2022 halten drei Viertel (74,9 %) den Ausbau digitaler Gesundheitsangebote für eine positive Entwicklung. Gleichzeitig sehen aber 66,5 % der Befragten bei der Digitalisierung die Interessen der Ärzteschaft nicht angemessen berücksichtigt. 34,1 % befürchten z. B., dass ihre Autonomie zu stark eingeschränkt wird. Fast drei Viertel (72,3 %) beklagen einen erhöhten bzw. stark erhöhten Dokumentationsaufwand. Nicht zu vergessen: Kernelemente wie die elektronische Patientenakte (ePa) werden immer wieder verschoben. Das schafft kaum Vertrauen, sondern schürt weiter die Unsicherheit auf allen Seiten (Ärzteschaft wie Patient:innen).

Amazon & Co warten nur drauf

Lange dürfen wir allerdings nicht mehr in dieser "Warteschleife" hängen bleiben, denn es droht Ungemach von ganz anderer Seite: Denn das rasant zunehmende wirtschaftliche Interesse von Tech-Giganten wie Amazon, Google, Microsoft oder Meta/Facebook an gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen könnte nachhaltig verändern, wie wir mit Themen wie Gesundheit und Krankheit umgehen − und dem Gesundheitswesen auch hierzulande ordentlich Dampf machen! Für Betül Susamis Uanaran, die an einer digitalen und europaweiten Gesundheitsplattform mitarbeitet, stehen im Fokus der Tech-Giganten aktuell noch Wearables, Apps sowie virtuelle Sprachassistenzsysteme, die sich vorrangig auf die Bereiche Wellness, Lifestyle und Prävention beziehen. Aber in naher Zukunft könnten digitale Assistenzsysteme ein deutlich weiteres Spektrum gesundheitsrelevanter Angebote abdecken: von der medizinischen Erstberatung über die Empfehlung und Bestellung von Medikamenten bis hin zur Unterstützung bei der häuslichen Nachsorge. Im Rahmen des Summary "Tech-Giganten im Gesundheitswesen" gehen demzufolge bereits 61 % der befragten Expert:innen davon aus, dass die "großen Tech-Konzerne im Jahr 2025 integraler Bestandteil unseres Gesundheitssystems sein werden".

Fazit: Unternehmen mit zunehmend monopolartiger Macht könnten künftig über den Zugang und die Verteilung von Gesundheitsversorgung mitbestimmen wollen und/oder Innovationen anderer Anbieter — ihrer Konkurrenten — verhindern. Die Summary-Autor:innen raten deswegen zu einer klaren politischen Positionierung zugunsten eines digitalisierten Gesundheitssystems, in dem das Patientenwohl der entscheidende Maßstab ist.

Beispiel 1: "Okay, Glass..."

Google ist wohl derjenige, der genau weiß, was die Leute wollen — und sie wollen Gesundheit. Google gilt nach wie vor als eine treibende Kraft hinter Investitionen im Gesundheits- und KI-Bereich. Mit dem Wearable Google Glass sollen Ärzt:innen z. B. Zeit für die Dokumentation einsparen können. Die Bedienung erfolgt per Stimme, Kopfbewegung oder Berührung des Touchpads am rechten Bügel. Mit dem Aktivierungswort "Okay, Glass…" oder einem Kopfnicken weiß Glass, dass der Träger eine Frage oder einen Befehl hat.

Beispiel 2: Ein Avatar, der mitfühlt

Samsung hat 2020 einen digitalen und KI-gestützten Avatar entwickelt, den es als "artificial human" bezeichnet. Dieser kann laut Unternehmen Gespräche fühlen und "mitfühlen". Die dazugehörige KI nennt sich Neon und wurde von der Samsung-Abspaltung Start Labs entwickelt. Das Unternehmen zeigt auch Interesse am Einsatz solcher Avatare als Dienstleister im Gesundheitsbereich.

Beispiel 3: Videoanalyse zur Optimierung der Bilderkennung

Amazon arbeitet an verschiedenen Projekten im Bereich der KI. Mit "Amazon Rekognition Video" können z. B. im Rahmen der Videoanalyse Objekte, Gesichter und Inhalte aus Videos erkannt, verfolgt und extrahiert werden. Im Gesundheitswesen könnte dies zukünftig u. a. im Feld der medizinischen Bildgebung zum Beispiel bei der Hautkrebsdiagnose oder auch in der ästhetischen Dermatologie Einsatz finden.

Rund um die Uhr beim Patienten

Führte der Weg die Patient:innen früher zuerst einmal in eine Haus- bzw. Facharztpraxis, stehen heute neben den klassischen Versorgungspfaden viele weitere Möglichkeiten zur Verfügung. Telemedizin, DiGA und Wearables könnten hier einen wertvollen Beitrag leisten, um die Versorgung der einzelnen Patient:innen effektiver, umfassender und individueller zu gestalten. Laura Lamprecht und Lisa Murche (beide von Flying Health) sowie Dr. Markus Müschenich (Eternity.Health) umschreiben das in einem Fachbeitrag treffend als den "neuen Dreiklang der Versorgung: digital, ambulant, stationär": Digitale Medizin biete Ärzt:innen und ihren Teams − genauso wie den Patient:innen − bereits einen klaren Mehrwert, indem Versorgungslücken geschlossen werden (z. B. digitale Hebamme im ländlichen Raum), wertvolle Ressourcen geschont werden (z. B. Online-Terminvereinbarung, Videosprechstunde) und die Autonomie der Patient:innen gefördert wird (z. B. Migräne-App, Wearables zur Blutzuckermessung, intelligente Pflaster).

Fazit: Digitale Angebote treten in das "medizinische Hoheitsgebiet" ein und in den Wettbewerb mit der ambulanten und klinischen Versorgung. Was Vorteile bringt durch wertvolle Gesundheitsdaten z. B. im Rahmen eines fortlaufenden Monitorings bei chronischen Erkrankungen, erhöht auch den Druck auf die klassische Gesundheitsversorgung.

Zu viel Infos, zu wenig – oder die falschen?

Der Wissensraum, der durch die fortschreitende Digitalisierung entsteht, hat das Potenzial, das Arzt-Patienten-Verhältnis nachhaltig zu verändern. Christine Holmberg und Susanne Blödt beschreiben in ihrem Fachbeitrag "Patientenzentrierung durch Digitalisierung" die zwei Seiten der Medaille: Zum einen sei die Qualität der im Internet bereitgestellten Informationen von medizinisch-wissenschaftlicher Seite mit Skepsis zu betrachten. Auch verbergen sich hinter künstlich erzeugten Informationen und angeblichen Erfahrungsberichten zunehmend versteckte Verkaufsinteressen. Gleichzeitig sind medizinische Gesundheitsinformationen aber längst ein zentrales Element einer guten Patientenversorgung geworden. Frei zugängliche Informationen im Internet könnten hier eine positive Funktion übernehmen, insbesondere wenn sie barrierefrei sind.

Fazit: Die Vor- und Nachteile, die eine nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit von Gesundheitsinformationen über das Internet mit sich bringt, können künftig erheblichen Einfluss nehmen auf den Entscheidungsprozess im Rahmen der "Patient Journey": Wenn diese Informationen z. B. Krebspatient:innen helfen, ihre Krankheit besser zu bewältigen, oder aber auf der anderen Seite dazu führen, dass sich die Betroffenen von der Vielzahl der Infos derart überfordert fühlen, dass sie resignieren, bevor eine Behandlung überhaupt starten kann.

Patienten-Empowerment, aber richtig

Um Patient:innen in einem mündigen Entscheidungsprozess zu fördern, bedarf es nicht nur ausreichend Informationen, sondern auch der Kompetenzen, um damit umgehen zu können: Dazu gehört zum einen die Gesundheitskompetenz, um die Vielzahl der (digitalen) Informationen richtig bewerten zu können. Zum anderen benötigen die Betroffenen gerade bei verhaltensbezogenen Maßnahmen auch konkrete Handlungskompetenzen, um ihre Gesundheit tatsächlich positiv beeinflussen zu können. Insbesondere DiGA könnten sich hier zu einem wertvollen Baustein entwickeln, aber bisher machen eher schlechte Nutzungszahlen bzw. hohe Abbruchraten Schlagzeilen.

Dr. med. Mathias Krisam (Arzt, Verhaltenswissenschaftler) und Nathascha Preis (Gesundheitspsychologin) raten bei der (Weiter-)Entwicklung von DiGA insbesondere zu einer Stärkung des spielerischen Potenzials: Werde mehr Wert gelegt auf Faktoren wie eine gezielte Motivationssteigerung − z. B. durch die Integration von spielerischen Elementen (Gamification) und intuitive Nutzbarkeit (User Experience) −, könnten die angestrebten Verhaltensänderungen erfolgreich in Gang gesetzt und langfristig auch besser durchgehalten werden. Aufgrund der hohen Zulassungsanforderungen an DiGA seien solche Entwicklungen zum aktuellen Stand aber schwer zu realisieren. Wie bei vielen digitalen Innovationen zeigt sich auch hier ein schwer aufzulösender Widerstreit zwischen notwendigen regulatorischen Vorgaben und Nutzungserlebnis bzw. Nutzererfolg.

Und die GKV? Die Rolle der digitalen Gesundheitskompetenz erkennen in diesem Kontext auch die Krankenkassen. So konstatiert der BKK-Dachverband in einer aktuellen Pressemitteilung, dass sich die Versicherten oft mit einem Überangebot an digitalen Informationen alleingelassen fühlen. 63 % der Teilnehmer:innen einer BKK-Umfrage geben demnach an, sich im Internet auf die Suche nach Gesundheitsinformationen zu begeben. Mehr als die Hälfte (53 %) landet bei Google. Etwas befremdlich ist in diesem Kontext der Hinweis in der gleichen Mitteilung: "Vom Gesetzgeber wurden wir Ende 2019 verpflichtet, unseren Versicherten Angebote zu unterbreiten, die digitale Gesundheitskompetenz fördern. Der Bedarf ist gering: Für Kompetenzschulungen gibt es keine Nachfrage." Ein Schelm, der hier vermutet, es könne (auch) darum gehen, die Arbeit und die Verantwortung an andere Player im Gesundheitswesen weiterzugeben.

Ob wir es nun wollen oder nicht...

Allen Beteiligten im Gesundungsprozess kommt bei der digitalen Transformation des Gesundheitswesens eine besondere Rolle zu − und noch mehr Verantwortung. Das betrifft die Patient:innen und andere Nutzer:innen der digitalen Technologien, aber auch alle Angehörigen der verschiedenen Gesundheitsberufe. Ein guter Moment also, um sich für die Schulung digitaler Kompetenzen und die Entwicklung neuer, digitaler Berufsbilder mit Gesundheitsbezug stark zu machen. Und das gilt unabhängig (!) davon, wie es mit der Telemedizin in Deutschland weitergeht. Denn Tech-Giganten wie Google & Co werden nicht darauf warten, wie wir hierzulande mit kleinteiligen Entwicklungen im staatlichen Gesundheitswesen wie der ePa vorankommen.

Recherche- und Lesetipps


Literatur:
1. Technik-Radar 2022: was die Deutschen über Technik denken, März 2022, http://online.flippingbook.com/view/644696168
2. Gesundheitsversorgung neu gedacht: Mit lückenlosen und personalisierten Health Journeys die Menschen stärken. Erschienen in: Gesundheit im Zeitalter der Plattform-Ökonomie, Seite 294 ff.
4. Big Tech in der Medizin: Wie Amazon, Apple, Microsoft, Google, IBM und NVIDIA das Gesundheitswesen revolutionieren, 2021: http://medicalfuturist.com/tech-giants-in-healthcare-2021-summary
5. Samsung unveils AI-powered digital avatar, Lever, R., 2020: http://techxplore.com/news/2020-01-samsung-unveils-ai-powered-digital-avatar.html
6. Welcoming Amazon Rekognition Video: Deep-Learning Based Video Recognition. Wagner T. et al., 2017
7. Der neue Dreiklang der Versorgung: Digital, ambulant, stationär. Erschienen in: Gesundheit im Zeitalter der Plattform-Ökonomie, Seite 173 ff.
8. Patientenzentrierung durch Digitalisierung. Erschienen in: Gesundheit im Zeitalter der Plattform-Ökonomie, Seite 164 ff.
9. Behavior Design für nachhaltig nachhaltig gesundheitsbewusstes Verhalten. Erschienen in: Gesundheit im Zeitalter der Plattform-Ökonomie, Seite 146 ff.



Autorin
Sabine Mack

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Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (6) Seite 23-25