Wie gestaltet sich die große Herausforderung der Digitalisierung in der Hausarztpraxis? Schon in unserem Auftaktheft von doctors today haben wir Mitglieder aus unserem Hausärztebeirat zu diesem Thema zu Wort kommen lassen, denn die Einstellungen hierzu sind oft konträr. Hier schildert nun Dr. Verena Gall, Allgemeinärztin aus dem rheinland-pfälzischen Mommenheim und ebenfalls Mitglied in unserem Hausärztebeirat, ihre ganz persönliche Sicht auf die Chancen und Risiken der Digitalisierung für ihre eigene Praxis. Und wie sie plötzlich "tief drinsteckte, im Digitalen" und zusammen mit ihrem Team den Entdeckergeist fand.

Ich kann mich noch an das erste Mal erinnern, als ich mit einem Laptop zu tun hatte. Ich muss zwischen acht und neun Jahre alt gewesen sein und der Vater einer Freundin brachte zu unserer großen Begeisterung den Computer mit nach Hause. Unser Hauptziel bestand darin, auf dem schweren und unhandlichen Teil "Sokoban" zu spielen und möglichst viele Kisten erfolgreich durch das Labyrinth zu schieben.

Ich gehöre nicht zu den "Digital Natives", aber auch aus meiner Lebensrealität lassen sich Laptop, Smartphone, Tablet, Bluetooth und Internet nicht mehr wegdenken. Eigentlich würde ich mich als "klassische Userin" bezeichnen: eine, die gerne schnell und reibungslos ans Ziel kommt, die ein Endprodukt will, das funktioniert und das möglichst intuitiv zu verstehen ist, ohne lange ein Handbuch wälzen zu müssen.

Wie möchte ich die Digitalisierung gestalten?

Mittlerweile bin ich stolze Gründerin einer Hausarztpraxis im ländlichen Bereich mit dem Anspruch, eine papierlose und vor allen Dingen digitale Praxis zu sein. Und plötzlich stecke ich tief drin, im "Digitalen". Digitalisierung ist ein, wenn nicht DAS Schlagwort unserer Zeit. Vor allem im kassenärztlichen Bereich ist spätestens seit Verabschiedung des E-Health-Gesetzes klar, dass sich die Strukturen ändern und ändern müssen. Als Neugründerin stellte sich mir nicht mehr die Frage: Telematik ja oder Telematik nein? Der Fahrplan hierfür ist vorgegeben. Meine Hauptfrage war: Wie möchte ich die Digitalisierung meiner Praxis gestalten? Wo sehe ich meine Chancen? Wo lauern die Gefahren und wie gehe ich mit ihnen um?

Wie fängt man das jetzt an mit der digitalen Praxis? Was bedeutet digital eigentlich? Schlägt man die Wortbedeutung nach, finden sich zwei Bedeutungen. Erstens: "mit Hilfe des Fingers erfolgend". Das klingt schon mal vertraut. Meine Hände arbeiten täglich mit und an den Patient:innen. Palpieren, auskultieren, vielleicht die ursprünglichsten ärztlichen Tätigkeiten. Zweitens: "in Einzelschritte aufgelöst". Das kenne ich auch: Anamnese, Untersuchung, Diagnose, Differenzialdiagnose, dann Therapie. Vielleicht sind "das Digitale" und "das Arztsein" gar nicht so weit voneinander entfernt. Für den ein oder anderen mag der Schritt weg von einer Papierakte hin zu einer elektronisch geführten Patientenkartei schon ein großes Stück Digitalisierung sein. Nutzt man dann noch den Blankoformulardruck, ist man schon gefühlt ganz nah dran am digitalen Arbeiten.

Vorteile und Chancen für meine Praxis

Digitalisierung ist mehr als ein paar Computerarbeitsplätze einzurichten. Sie ermöglicht die Strukturierung und das Arbeiten mit großen Datenmengen. Nicht nur bei der einzelnen Patient:in, sondern übergreifend über alles. Angefangen bei der Patientensteuerung über Dokumentation und Abrechnung bis hin zur vollständigen Automatisierung der Praxisprozesse.

Onlineterminkalender und Kioskterminals zur Selbstanmeldung erleichtern den Patient:innen den Zugangsweg zur Praxis und entlasten die Mitarbeiter:innen an Telefon und Anmeldung. Informationen über Social Media helfen bei der Verbreitung von Informationen, generieren Patient:innen und haben eine hohe Reichweite. Digitale Datenerhebung für Stammdaten, Einverständniserklärungen und Behandlungsverträge ermöglichen einen diskreten Umgang mit den Patientendaten und vermindern Übertragungsfehler und doppelte Bearbeitungen über Feldrückschreiboptionen in den digitalen Formularen. Die Patientenaufnahme beschleunigt sich, Wartezeiten werden verkürzt. Die Patientenzufriedenheit erhöht sich.

Kommen wir zurück zu den Einzelschritten. Stichwort: Praxisorganisation. Für jeden wird in seiner täglichen Arbeit schnell klar, dass ein Praxistag aus wiederkehrenden Prozessen besteht. Hier liegt für mich eine der größten Chancen, die die Digitalisierung einer Praxis bietet. Dank technischer Unterstützung lassen sich bei einer guten Prozessdefinition wiederkehrende Dokumentationsarbeiten ans System delegieren. Automatisierung der Prozesse führt zu einer reduzierten Fehlerrate und zu einer deutlichen Beschleunigung des Prozesses. Investiert man etwas mehr Denkarbeit, lässt sich hierüber auch die Qualität innerhalb des Prozesses steigern und das Ergebnis optimieren. Gerade die eher unbeliebten Arbeiten wie z. B. ICD-Codierung, Impfdokumentation oder Zifferneingabe können entlastend abgegeben werden. Aber auch Automatisierungen mit medizinischem Bezug sind denkbar und möglich. Die Warnung vor Medikamenteninteraktionen ist bereits in den meisten Systemen integriert. Warnungen bei pathologischen Laborwerten oder bei Abweichung anderer physiologischer Parameter sind ebenso realisierbar. Digitale Datenerhebung und -verarbeitung kann hier unterstützend und zum Wohle der Patient:in eingesetzt werden.

Und die Risiken?

Wo Chancen sind, gibt es auch Risiken. Diese werden derzeit in der Berichterstattung tendenziell überbetont. Jedoch sind es Realitäten, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Die Sicherheit der sensiblen Patientendaten bei gleichzeitiger Nutzung von Internet und digitalen Verarbeitungswegen muss höchste Priorität haben. Der ein oder andere mag sich abgehängt und nicht ausreichend kompetent fühlen, seine Praxis zu "technisieren". Auch eine zu große Abhängigkeit von IT-Dienstleistern, die oft nicht vollständig die Besonderheiten einer ärztlichen Praxis verstehen, kann ein Risiko für das Misslingen eines Digitalisierungsprojektes sein. Die Instandhaltung und die damit verbundenen Kosten bei bislang nicht geklärter Refinanzierung aus dem GKV-System führen zu weiteren Hürden und Missstimmungen. Denn nach der primären Investition stehen immer Folgeinvestitionen an, um ein hinreichend sicheres und funktionierendes System zu gewährleisten. Zusätzlich bedarf es eines nicht zu vernachlässigenden persönlichen Engagements, die eigenen Prozesse stetig zu hinterfragen und kontinuierlich anzupassen. Die Mitarbeiter:innen müssen hierbei mitgenommen werden und dürfen den Anschluss nicht verpassen. Es erfordert eine ordentliche Menge an Fleiß und Disziplin. Eigenschaften, die uns als Ärzt:innen eigentlich nicht fremd sind.

Ich kann jeden verstehen, der mit dieser neuen Anforderung fremdelt. Persönlich begrüße ich die nun kommenden Änderungen und entdecke beinahe täglich neue Möglichkeiten, meinen Praxisalltag neu und verbessert zu gestalten. Mein Team und ich ziehen dabei an einem Strang. Wir spüren den Entdeckergeist, der einen bei allem Neuen, das man wagt, begleitet und der uns trägt. Digitalisierung ist nicht zuletzt eine Frage der persönlichen Einstellung. Wie bei "Sokoban" führt der erfolgreiche Weg zum Ziel manchmal über einen oder zwei Schritte zurück; gedanklich und real. Ich habe "Sokoban" kürzlich wieder für mich entdeckt. Diesmal online.



Autorin

Dr. Verena Gall

Fachärztin für Innere und Allgemeinmedizin
55278 Mommenheim

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (1) Seite 48-49