Dass die Familienmedizin eine wichtige Rolle in der hausärztlichen Versorgung spielen sollte, ist unbestritten. Das unterstreicht auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) in ihren Zukunftspositionen.

Doch schon 1998 hieß es im Deutschen Ärzteblatt: "Familiäre Probleme werden aber, selbst bei Vorliegen chronischer Krankheiten, vergleichsweise selten in der Praxis angesprochen. Insgesamt lässt sich eine gewisse Zurückhaltung auf hausärztlicher Seite konstatieren."

Patient:innen wollen Familienmedizin

Dabei artikulierten bereits im gleichen Jahr die Patient:innen deutlich Wünsche hin zu einem stärkeren familienmedizinischen Engagement ihrer Hausärzt:innen. Da müsste sich doch mittlerweile eine Menge bewegt haben, sollte man meinen. Nach den jüngsten, ebenfalls gerade im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten repräsentativen Erhebungen scheint das aber nicht der Fall zu sein. Danach sprechen sich 45,6 % aller Befragten dafür aus, dass alle Familienmitglieder in derselben Hausarztpraxis versorgt werden. Fast genauso vielen – 45,3 % – ist das gar nicht wichtig. Für den Leiter der Studie, Prof. Stefan Wilms vom Institut für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf, sind diese Ergebnisse auf den ersten Blick gar nicht schlecht. Es sei doch erfreulich, wenn die Hälfte der Patient:innen explizit Familienmedizin wünscht. Hinzu komme, dass durch die heutigen vielfältigen Formen des Zusammenlebens und die unterschiedlichen Namen in einer Familie Familienmedizin in einer Hausarztpraxis verbreiteter sei als viele meinen. Dies sei insbesondere bei älteren Menschen der Fall, die in einer Wohngemeinschaft auch eine familienmedizinische Einheit sind.

Praxen müssen sich fit machen

Also alles gut? Keineswegs! Wilms räumt selbst ein, dass viele Hausärzt:innen erst noch "für die familienmedizinische Versorgung fit gemacht werden müssen". Das bestätigt auch eine aktuelle Untersuchung aus einer großen britischen Hausarztpraxis. Dort fanden sich in den Patientenakten besonders selten Angaben zum Erkrankungsalter des Verwandten oder zu einer negativen Familienanamnese. Schlecht schneidet auch die Genauigkeit der dokumentierten Familienanamnese ab. Von 185 Erkrankungen waren nur 8 % vollständig in ihrer Akte erfasst. Zu 83 % gab es falsche oder gar keine Einträge, etwa über Depressionen bei nahen Verwandten.

Sicherlich ist es nicht einfach, vor dem Hintergrund der großen, auch von der DEGAM explizit benannten gesellschaftlichen Herausforderungen (Migration, Alterung der Bevölkerung, Zunahme von sozialer Ungleichheit) im Alltag als Allgemeinärzt:in sämtlichen familienmedizinischen Herausforderungen gerecht zu werden. Zumal – wie Wilms zu Recht beklagt – große strukturelle Mängel (kaum Familienkonferenzen oder Gruppenberatungen, zu wenig spezifische Fortbildungen und Abrechnungsziffern, kaum familienkompatible Sprechstundenzeiten) offenkundig sind. Daran hat sich seit 1998 kaum etwas geändert. Das ist aber heute – anders als vor 25 Jahren – überhaupt nicht mehr zeitgemäß und muss daher dringend korrigiert werden,


... meint Ihr

Raimund Schmid


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (5) Seite 30