Sie sind zu streng oder zu mild, zu realitätsfern oder zu bürokratisch. Regeln sind immer verkehrt, weil der Mensch gemeinhin nur zweierlei Maß kennt: eines für sich und eines für die anderen. Erwartungsgemäß schlugen die Wogen deshalb hoch, als dem initialen Impfstoffmangel geschuldet ein Impfranking initiiert wurde. Dazu addierte sich der Konflikt zwischen impfskeptischen Hochnasen und Querdenkern anderer Couleur mit den Vorstellungen der Längsdenker, der Fügsamen und Impfwilligen.

Doch mit dem Impfeinstieg der Hausärzt:innen kam es zu einem überschwappenden Impfenthusiasmus. "Deutschland impft sich glücklich!", hieß es sogar in einer der meistgelesenen, auf Großdruck spezialisierten Tageszeitungen und in den Praxen rappelte füglich das Telefon. Man darf aber vermuten, dass es bei vielen Zeitgenossen weniger um die eigene Gesundheit oder gar das Volkswohl ging. Den Stich in den Oberarm sahen viele vor allem als Initialzündung einer Rückkehr in die frühere Normalität. "Verzicht war gestern, jetzt wird nachgeholt." Trendforscher:innen sprechen dabei von einem Catch-up-Lifestyle. Und auch der jüdische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari wird mit seiner Prognose wohl recht behalten: "Wir werden in einer anderen Welt leben, wenn die Krise vorbei ist."

Ganz Deutschland hat in den episodischen Lockdowns belegbar an Gewicht zu- und an Bewegungsfreude abgenommen. Abgeleitet von der Kokonbildung mancher Gliederfüßer sprechen Verhaltensforscher:innen vom "Cocooning", der Abkehr aus der bösen Welt in die heimelig gestaltete Wohlfühloase. Vereint mit wenigen, negativ getesteten Vertrauenspersonen strahlt der Rückzug in die "Bubble" den Charme einer Eremitage aus. Das reflektiert auch ein weiterer Trend: die Absatzzahlen der Drogerieartikelhersteller machen im wahrsten Wortsinn ruchbar, dass in den verschiedenen Lockdowns die Deutschen zu Hygienemuffeln konvertierten. Während der Absatz von Klopapier, Seife und Desinfektionsmitteln durch die Decke ging, verstaubten Shampoo, Deo, Duschgel oder Rasierschaum in den Märkten. Warum sollten Mann/Frau auch ihr Aussehen stylen, wenn sie gerade dabei sind, am heimischen Herd das Brotbacken neu zu entdecken, das Gin-Wermutgemisch "Quarantini" zu süffeln oder am Küchentisch "Monopoly" zu spielen?

Und weil das so ist, haben die Menschen jetzt offensichtlich mehr Zeit und Muße, im Wellenschlag entspannender Vollbäder von entgangenen Fernreisen zu träumen. Das lässt zumindest der steigende Absatz wohlduftender Badezusätze vermuten. Und die bundesdeutschen Bauchumfänge werden auch wieder schwinden, wenn nach dem erfolgreichen Impfmarathon die nächste Freibadsaison pandemische Körperkonturschäden gnadenlos offenbaren wird.


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (7) Seite 75