Weil Kinder große Dinge oft gelassen aussprechen, findet sich selbst in einem simplen Abzählreim wie dem bekannten "Ene, mene, muh und raus bist du" ein Stückchen Lebensweisheit. Schließlich kann es immer passieren, dass man angezählt wird oder ausscheiden muss, spätestens durch den omnipräsenten Tod. Der ist zumindest sicher, aber wann, das ist die Frage.

Ich denke dabei oft an eine ehemalige Krankenschwester am Anfang meiner Hausarzttätigkeit. Schon im fortgeschrittenen achten Lebensjahrzehnt stehend, insistierte sie trotz relativ guter Gesundheit bei jedem Hausbesuch mit der quälenden Frage: "Ja, Herr Doktor, wie soll denn das noch mit mir weitergehen?" Meist zuckte ich resignierend mit den Schultern. Mittlerweile würde ich ganz gelassen mit statistischen Fakten kontern. Das Risiko zu sterben wurde von Entscheidungstheoretikern wie Ronald A. Howard nämlich berechenbar gemacht, es hat einen Namen und eine Maßzahl. Die Benennung ist zielführend: Mikromort, ein Hybrid aus dem griechischen Affix (sehr klein) und dem personifizierten Tod (Mors) der römischen Mythologie. Das Mikromort ist die Maßeinheit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, mit der ein bestimmtes Tun oder Sein zum Ableben führt, ein Millionstel statistischer Tod sozusagen. Ein Mikromort entspricht dem Sterberisiko eines gesunden 25-jährigen Menschen im mitteleuropäischen Alltag. Zu diesem Basiswert addieren sich dann die quantifizierten persönlichen Risiken, und schon kann die individuelle Sterbeperspektive für diesen Tag bestimmt werden.
Für zusätzliche zehn Kilometer Motorradfahrt gibt es einen Mikromort obendrauf. Noch gefährlicher wären ein Marathonlauf oder Fallschirmsprung, die mit jeweils 7 Mikromort zu Buche schlagen. Wer sich unglücklicherweise einer Bypassoperation unterziehen muss, bekommt einen Aufschlag von sechzehntausend Mikromort. Das größte Sterberisiko hat man neben der Geburt aber am eigenen Geburtstag, weil der ja fraglos mit dem Älterwerden, einem Hauptrisiko, verbunden ist. Wer hätte das gedacht? Ein Durchschnittsachtzigjähriger muss aber in unseren Breiten schon ein zusätzliches Sterberisiko von 34 Mikromort pro Tag schultern, falls er nicht vorher das Diesseitige mit dem Jenseitigen verwechseln will.

Die bohrenden Fragen meiner greisen Patientin würde ich also heute in Kenntnis ihres altersbedingten Mikromortpegels mit der bekannten Fortsetzung des Abzählreims beantworten: "Raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist!" Und ja, so ging es auch bei ihr. Als sie ihr statistisches Alterssoll mehr als erfüllt hatte, ging sie im beginnenden neunten Lebensjahrzehnt abends friedlich zu Bett und ist morgens tot aufgewacht. Kindermund tut Wahrheit kund!


Das meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (6) Seite 69