Wie wichtig es ist, hin und wieder mal über den eigenen Tellerrand zu blicken, zeigt das Beispiel der belgischen Hausärztin Emmily Schaubroeck. Seit Oktober 2018 ist sie als angestellte Allgemeinärztin in Nürnberg tätig. Und seitdem wundert sie sich Tag für Tag über unsere Gepflogenheiten im hausärztlichen Alltag, die hierzulande als selbstverständlich hingenommen werden. Dem Hausärzteverband dürfte sie aus der Seele sprechen, wenn sie sich über die Vielzahl niedergelassener Spezialist:innen im ambulanten Bereich nur wundern kann. Denn solche arbeiten in Belgien zumeist im Krankenhaus oder in enger Zusammenarbeit mit diesem und sehen sich selbst ganz und gar nicht als spezialisierte Primärversorger. Das erleichtert die Arbeit der Hausärzt:innen im Nachbarland ungemein, da sie von Patient:innen grundsätzlich als hausärztliche Gatekeeper und somit automatisch auch als erste Ansprechpartner wahrgenommen werden. Eine weit stärkere Rolle als hierzulande spielen in Belgien auch nichtärztliche medizinische Berufsgruppen. Deren fachliche Kompetenz ist in sog. Gruppenpraxen oder in Community Health Centers hoch anerkannt und kommt insbesondere Patient:innen aus sozial benachteiligten Schichten zugute. Mit Hilfe von erfahrenen Krankenpflegekräften (die in Belgien anstelle von MFA fungieren), Präventions-Fachkräften, Ernährungsberater:innen und mitunter sogar Sozialarbeiter:innen können so die Versorgung verbessert und die Hausärzt:innen zugleich entlastet werden.

Fehlanreize sind impliziert

Besonders missfällt Emmily Schaubroeck, dass bestimmte Ärzt:innen tageweise oder hauptsächlich nur noch Privatpatient:innen betreuen. So etwas sei in Belgien nicht möglich. Für sie ist Deutschland zudem das Land mit einem der kompliziertesten Abrechnungssysteme der Welt und einer Menge Verordnungsregeln. Das System impliziere sehr viele Fehlanreize und belohne vielfach eher Quantität statt Qualität. Und vor allem: Die belgischen Praxisinhaber:innen sehen am Ende des Monats dank zeitnaher elektronischer Abrechnung durch die Kassen – ganz im Gegensatz zu ihren deutschen Kolleg:innen –, wie viel sie tatsächlich verdient haben. Darin ist allerdings auch ein eigener Konsultationsbeitrag von Patientenseite in Höhe von rund 6 € mit enthalten, der in Deutschland nur schwer vorstellbar ist. Insgesamt erhält eine belgische Allgemeinärzt:in ein Honorar von 27 € pro Konsultation, das neben einer Jahrespauschale für jede Patient:in (zwischen 32 € bzw. 58,67 € für Patient:innen mit chronischen Erkrankungen) bezahlt wird. Und noch etwas fällt Emmily Schaubroeck hierzulande auf: Einerseits gilt der Datenschutz als hohes Gut, andererseits werde dagegen ständig an den Anmeldungstresen der Praxen verstoßen, weil dort kaum Diskretion herrscht.

All diese Erfahrungen zeigen, dass vieles, was hierzulande als gegeben angesehen wird, vielleicht gar nicht als gegeben hingenommen werden müsste. Der ungefilterte und unabhängige Blick von außen ist wichtig und tut gut. Denn er kann vielleicht mehr aufrütteln und bewegen als manche ähnlich klingenden Positionen von interessengeleiteten Verbänden,


...hofft Ihr

Raimund Schmid


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (3) Seite 26