Im Indischen Ozean, gar nicht weit weg von der Südostküste Afrikas, liegt der zweitgrößte Inselstaat der Welt: Madagaskar. Hier findet man zwar auch Strände mit kristallklarem Wasser und Korallenriffen, aber einzigartig sind vor allem die Urwälder, die gewaltigen jahrhundertealten Affenbrotbäume und die einzigartige Tierwelt, von der viele Arten nur auf Madagaskar zu finden sind. Unser Reiseautor Rainer Heubeck hat sich vor allem auf die Spuren des madagassischen Nationaltiers gemacht – der Lemuren.

Die Lemuren gelten als die weithin bekanntesten Tiere Madagaskars. Viele kennen sie aus den Zoos, und nicht nur Kinder lieben die flauschigen Tiere mit den großen Augen und dem weich aussehenden Fell. Tatsächlich sind Lemuren aber nur auf Madagaskar heimisch. Als Waldgeister, Schatten der Verstorbenen und unter vielen weiteren Namen sind die scheuen Halbaffen immer wieder in den Wäldern von Madagaskar anzutreffen.

Früher waren sie bis zu 850 Kilo schwer, heute sind Lemuren, von denen es in Madagaskar noch immer rund 100 verschiedene Arten gibt, deutlich kleiner. Die größte noch nicht ausgestorbene Lemurenart ist der Indri, ein Feuchtnasenaffe mit schwarz-weißem Fell, der ausgewachsen zwischen acht und zehn Kilogramm schwer werden kann.

Morgengesänge verraten die Tiere

Wir sind unterwegs im Mitsinjo-Park, uns begleitet Tahinienne Razaiarimahefa, die seit dem Jahr 2013 hier regelmäßig als Guide tätig ist. Sie will uns zum Aufenthaltsort der Indris führen. Dass diese in der Nähe sind, davon braucht uns niemand überzeugen. Ihre an Heultöne von Sirenen erinnernden Morgengesänge sind bereits am Eingang des Naturreservats zu hören. "Indris haben drei verschiedene Laute. Der morgendliche Gesang dient vor allem dem Markieren des Reviers, darüber hinaus haben sie einen Warnlaut, wenn sich Angreifer nähern. Und in der Brunftsaison hört man häufig ihren Liebeslaut", berichtet Tahinienne und ahmt den Indri-Liebeslaut nach, der wie ein kussähnliches Schmatzen klingt.

Auf dem Pfad, der durch den Mitsinjo-Park führt, lenkt Tahinienne unsere Aufmerksamkeit zuerst einmal auf deutlich kleinere Tiere, etwa auf ein Kurzhorn-Chamäleon, einen Giraffenhalskäfer und auf kleine Frösche, die in kleinen Wasserpfützen leben, die sich in den Blättern der Elefantenohr-Pflanze gebildet haben. "In Madagaskar gibt es an die 350 verschiedene Froscharten, das sind mehr, als es in Costa Rica gibt. Und hier, in unserem Gebiet, leben rund 120 davon", berichtet Tahinienne nicht ohne Stolz – und sie zeigt uns das Gebäude einer Froschzuchtstation, das sich auf dem Mitsinjo-Gelände befindet.

Kräuter lindern jegliche Beschwerden

Immer wieder hält Tahinienne am Wegesrand kurz an, zeigt uns Pflanzen und beschreibt deren medizinischen Nutzen. Egal ob verdorbener Magen oder hoher Blutdruck, für alles scheint hier ein Kraut gewachsen zu sein. Die Blätter eines Busches freilich scheinen weniger von den Menschen gefragt zu sein, sondern eher von den Indris geliebt zu werden. Und genau mit diesen Blättern in der Hand lockt André, ein Mitarbeiter des Reservats, nun einen Indri herbei, der sich von der Baumkrone Sprung für Sprung nach unten wagt. "Wir haben fünf verschiedene Indrigruppen hier im Park, doch nur in dieser hier finden sich zwei Tiere, die so zutraulich sind, dass sie sich füttern lassen", erklärt Tahinienne. "Die Indrigruppen werden von Frauen dominiert, diese kontrollieren die Gruppe aus der Mitte des Territoriums heraus, die Männchen finden sich eher in den Außenbereichen", erläutert sie weiter.

Es ist jedoch nicht das ausgewachsene Leittier, das sich uns nähert, sondern eines der jüngeren, das schließlich mutig zu den dargereichten Blättern greift und diese laut schmatzend zu sich nimmt – wobei es mit seinen grünen Augen, die aus einem Zorro-artigen schwarzen Gesicht herausstrahlen, aufmerksam beobachtet, ob von irgendwo Gefahr droht. Etwa fünfzehn Minuten lang bleiben die beiden angefütterten Tiere bei uns und lassen sich weder von Kameras noch von Smartphones bei ihrem vegetarischen Mahl stören. Dann haben sie genug und entfernen sich rasch in Richtung der Baumwipfel. Die vier weiteren Gruppen der Indris, die im Mitsinjo-Park leben, bekommen wir nicht zu Gesicht – doch sirenenähnliche Schreie und Gesänge bezeugen ihre Anwesenheit.

Wandern im Reservat

Am nächsten Tag bin ich mit Guide Tojo, der aus dem Ort Andasibe stammt, und seinem Helfer Everest im Maromizaha-Naturreservat unterwegs, einem 16.000 Hektar großen Primärregenwald, der hauptsächlich von Lemurenforschern genutzt wird. Seit gut zwei Jahren sind die Randbereiche des Reservats auch für den Ökotourismus geöffnet. Auf der etwa vierstündigen Wanderung begegnen wir nur wenigen anderen Gruppen, diese bestehen vor allem aus Einheimischen. Everest, der gleich am Rande des Naturreservats wohnt, ist unermüdlich, klettert links des Wegs nach unten und rechts des Weges nach oben – und meldet sich, wann immer er eine Entdeckung gemacht hat. Etwa ein Prachtexemplar eines grünen Parsons-Chamäleons, das ein dünnes Baumstämmchen umklammert. Parsons ist eine der größten und markantesten Chamäleonarten in Madagaskar. "Das hier ist ein männliches Tier, denn es hat zwei kleine Hörner, und es ist ein relativ junges Tier, denn sein Körper ist vergleichsweise schlank", erläutert Guide Tojo und klettert über Baumwurzeln zurück zum Pfad.

Wir steigen bergauf und bergab, überqueren kleine Bäche auf aus dem Wasser ragenden Steinen – und folgen schließlich dem Ruf Everests, der vom Pfad abgebogen ist und links einen bewaldeten Hügel erklommen hat. Zuerst sehe ich dort nur wackelnde Zweige, dann huscht kurz eine Art Schatten vorbei. Wir sind still, warten – und schon bald fühlen sich die Sifakalemuren sicherer und zeigen sich. "Diese Tiere sind die zweitgrößte Lemurenart in Madagaskar, sie kommen nur im Primärwald vor und sie brauchen ein großflächiges Territorium", sagt Tojo leise. "Sie werden auch die tanzenden Lemuren genannt, denn auf dem Boden bewegen sie sich nicht auf vier Füßen fort, sondern auf zwei Füßen." Wie das aussieht, lässt sich an einem Ast rechts von uns beobachten, auf dem ein Sifaka aufrecht steht und sich oben an anderen Zweigen festhält. Im Gegensatz zum Indri haben die Sifakas lange Schwänze. Diese helfen ihnen, die Balance zu halten.

Etwa zehn Meter entfernt, an einem Baumstamm, entdecken wir zwei weitere Tiere. Ein Sifakababy mit zwei Knopfaugen und einem kleinen schwarzen Gesicht, das von hellem Fell gesäumt wird, beäugt uns – es wird von der Mutter an deren Bauch gehalten, fast wie ein Känguru, nur ohne Beutel. "Die Tiere machen das etwa zwei Monate lang so, wird das Jungtier älter, nimmt es die Mutter dann auf den Rücken", weiß Tojo. Den Beweis, dass er Recht hat, entdecken wir drei Minuten später, eine weitere Sifaka-Mutter mit ihrem Nachwuchs. Dieses Baby ist bereits etwas größer und krallt sich am Rücken der Mutter fest. Etwa fünfzehn Minuten dauert diese beeindruckende Begegnung, dann entfernen sich die Lemuren allmählich.

ReiseInformationen
  • Anreise: Seit dem 6. November 2021 werden wieder Langstreckenflüge nach Madagaskar angeboten – vorerst von Air France und Air Madagascar. Mittelfristig dürften auch Ethiopian Airlines (www.ethiopianairlines.com) und Turkish Airlines (www.turkishairlines.com) den Flugbetrieb wieder aufnehmen. Die Einreise ist derzeit jedoch nur möglich, wenn aus Ländern abgeflogen wird, die von Madagaskar als grüne Länder eingestuft werden (die Einteilung in Rot und Grün erfolgt anhand der COVID-Inzidenz).
  • Einreise: Der Reisepass muss bei Einreise noch mindestens sechs Monate gültig sein. Ein Visum für einen Aufenthalt von bis zu 30 bzw. bis zu 60 Tagen ist für deutsche Staatsangehörige an den internationalen Flughäfen, beispielsweise am Flughafen Antananarivo-Ivato, gegen Gebühr (35 bzw. 40 €) erhältlich. Vor dem Abflug und nach der Landung muss ein PCR-Test durchgeführt werden, bis zum Vorliegen des Testergebnisses ist eine selbst zu zahlende Hotelquarantäne vorgeschrieben.
  • Sprache: Madagassisch und Französisch, in touristischen Einrichtungen wird auch Englisch gesprochen.
  • Übernachten: Feon‘ny Ala bietet schöne Bungalows am Rande des Analamazoatra-Reservats mit Moskitonetz und Warmwasser. Tel. +261 20 56 832 02, contact@feonnyala-hotel.com, www.feonnyala-hotel.com
  • Gesundheit: Bei Einreise aus einem Gelbfiebergebiet ist der Nachweis einer gültigen Gelbfieberimpfung erforderlich. Die Standardimpfungen sollten anlässlich einer Madagaskar-Reise überprüft und vervollständigt werden. In den Abendstunden sollte auf Mückenschutz durch körperbedeckende Kleidung und Anti-Mücken-Spray geachtet werden, um Malaria und Dengue-Fieber vorzubeugen.
  • Reisezeit: Die Trockenzeit wird auch Südwinter genannt und umfasst die Monate Mai bis Oktober. Die Regenzeit umfasst die Monate von November bis April.
Weitere Infos zum Reiseland Madagaskar finden sich unter https://madagascar-tourisme.com



Autor
Rainer Heubeck


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (2) Seite 66-68