Eine wirkungsvolle Tumorschmerztherapie bedarf einer individuell abgestimmten Behandlung und setzt sichere Kenntnisse über Wirkung, Wirksamkeit und Nebenwirkungen, Auswahl, Dosierung und die Verabreichungsformen der notwendigen Medikamente voraus.

Kasuistik: Rückenschmerzen durch Metastasen
Ein 66-jähriger Patient ohne Vorerkrankungen hat seit Wochen Rückenschmerzen. Eine spezifische Diagnostik oder Therapie hat er noch nicht erhalten.Schmerzanamnese: Lokalisation im Bereich Lendenwirbelsäule ohne Ausstrahlung, Schmerzintensität 5–7 auf der Schmerzskala, bewegungsabhängige Schmerzspitzen.CT der LWS: multiple Knochenmetastasen ohne Frakturgefährdung.Verdachtsdiagnose und schließlich Diagnose bei rektal suspekter Prostata: ProstatakarzinomLabor: PSA 430 ng/mlHistologie: Adenokarzinom der Prostata Gleason 8Knochenszintigrafie: Ossäre Metastasierung der Lendenwirbelsäule und des Beckens ohne Frakturgefährdung.Schmerztherapie: Eskalation nach Stufenschema.Tumortherapie: Kombinationstherapie mit Antiandrogenen und Chemotherapie; Reduktion der Schmerztherapie nach Ansprechen der Tumortherapie.Zusammenfassung: Häufig entstehen Rückenschmerzen beim Mann (hier 66 Jahre alt) infolge eines fortgeschrittenen Prostatakarzinoms und können mit Einleitung einer Therapie günstig beeinflusst werden. Merke: Unsere Aufmerksamkeit muss in allen Fällen auf eine konkrete Ursache der Schmerzen und eine kausaltherapeutische Versorgung gelenkt sein.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt einen Stufenplan. Der Einsatz von Nichtopioiden steht am Anfang, wird bei Bedarf mit schwach wirksamen Opioiden kombiniert und mit stark wirksamen Opioiden ergänzt, falls sich keine Schmerzfreiheit erzielen lässt. Die häufigsten Fehler sind eine unzureichende Schmerzanalyse, eine zu geringe Dosis und zu kurz gewählte Zeitintervalle.

Drei Missverständnisse bleiben hartnäckig etabliert: Schmerztherapie macht süchtig, teilnahmslos und ist nur etwas für Todgeweihte.

Aktuelle Situation in Deutschland

Jede vierte aller etwa 300.000 in Deutschland jährlich neu registrierten Krebsneuerkrankungen wird als urologischer Tumor diagnostiziert und 200.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen ihrer Tumorerkrankung. 20% aller Palliativsymptome sind urologischer Natur und zwei Drittel aller urologischen Tumorpatient:innen müssen am Lebensende palliativmedizinisch betreut werden.

70 – 80% dieser Patient:innen haben sogar starke Schmerzen. Nach dem aktuellen Kenntnisstand können Tumorschmerzen bei fast allen Patient:innen zumindest gelindert werden. Daten aus Beobachtungsstudien belegen aber leider, dass viele Patienten:innen weiterhin unter Schmerzen leiden und keine angemessene Therapie erhalten.

Die Problematik hat sich seit zwei Jahren verschärft, weil wegen der COVID-Pandemie die Früherkennungsmöglichkeiten nicht wie gewohnt angenommen werden und folglich vermehrt fortgeschrittene Karzinome auftreten.

Schmerzdiagnostik

Die Schmerzdiagnostik der Tumorpatient:innen beinhaltet die allgemeine und die Schmerz-Anamnese sowie die Ableitung von Schmerzursache und Schmerzform, um ursachenbedingt vorgehen zu können. Hinzu kommen die Messung der Schmerzintensität mit einer Schmerzskala (Stufen 1 bis 10) und das Schmerztagebuch. Vereinfacht sind vier Schmerzgruppen zu unterscheiden:

1. tumorbedingt (60 – 90%, z.B. Knochen- und Weichteilinfiltration),

2. therapiebedingt (10 – 25 %, z. B. Operationsfolgen),

3. tumorassoziiert (5 – 20%, z.B. Dekubitus, Thrombose, Zoster bei Abwehrschwäche) und

4. tumorunabhängig (3 – 10%, z.B. Migräne).

Merke: Die Schmerzanamnese klärt die wichtigsten Fragen zu Schmerzort, zur Stärke und Schmerzqualität, zum Verlauf und den Begleitsymptomen, zur Schmerzauslösung und dem subjektiven Schmerzverständnis und erfasst bisher eingenommene Schmerzmittel.

Anschließend ist eine Schmerzklassifikation in nozizeptive (somatische und viszerale Schmerzen), neuropathische und psychogene Formen notwendig und möglich (Abb. 1). Somatische Schmerzen entstehen bei Knochenmetastasen, viszerale bei Infiltration benachbarter Organe (z.B. Darm). Neuropathische Schmerzen werden durch Nervenwurzelkompressionen oder Hirnmetastasen verursacht.

Stufenschema der Schmerztherapie

Die indikationsgerechte und effektive Arzneimittelapplikation folgt dem WHO-Stufenschema (vgl. Abb. 2). Nebenwirkungen der Therapie müssen sorgfältig registriert und mit Adjuvantien zurückgedrängt werden.

Tipp: Ein Schmerztagebuch ist sehr hilfreich.

Schmerzeinstellung

Die Dosisfindung bei Einsatz von mittelstarken und starken Opioiden und der Schmerznotfall erfordern immer besondere Aufmerksamkeit und stellen sicher, dass der urologische Schmerzpatientneben einer Basistherapie eine nötige Vorsorge für Durchbruchschmerzen hat. Zu den Dosierungen und Dosisintervallen kann ich aus Platzgründen im Rahmen dieser Ausführungen leider keine Anweisungen geben und verweise auf Arzneimittelinformationen.

Wir beginnen in der 1. Stufe mit einem Nichtopioid-Analgetikum (ASS, Paracetamol, Metamizol) und kombinieren erforderlichenfalls mit einem Adjuvans (Steroide, Laxantien, Calcitonin, Psychopharmaka). Reicht dies nicht mehr aus, wird in der 2. Stufe ein schwach wirksames Opioid (Codein, Dihydrocodein retard, Tramadol retard, Tilidin-Naloxon, Dextropropoxyphen retard) gegeben und meist mit einem Nichtopioid-Analgetikum und eventuell einem Adjuvans kombiniert. Bei wiederum unzureichender Schmerzfreiheit wird in der 3. Stufe ein stark wirksames Opioid (Morphin, Hydromorphon, Fentanyl, Buprenorphin, Pethidin) mit einem Nichtopioid-Analgetikum eingesetzt.

In der 4. Stufe kommen dann parenterale oder rückenmarksnahe Opioide oder Lokalanästhesien oder neurochirurgische Verfahren zur Anwendung.

Merke: Das Stufenschema ist ein grundsätzlicher Vorschlag, kein Dogma. Der analgetische Effekt und die Nebenwirkungen sind dosisabhängig.

Eine unzureichende Schmerztherapie kann vermieden werden durch eine korrekte Schmerztherapie mit Berücksichtigung der Schmerzintensität. Zu lange Dosierungsintervalle oder zu niedrige Dosierungen und eine nicht richtig berechnete und kalkulierte Bedarfsmedikation sind häufig beobachtete Fehler und führen zu Durchbruchsschmerzen (Abb. 3).

Merke: Die Behandlung erfolgt nach Zeitschema, nicht nach Bedarf!

Nebenwirkungen

Die höchstmögliche körperliche und geistige Aktivität sollte mit geringsten Nebenwirkungen erreichbar sein. In der Einstellungsphase gehören Übelkeit, Müdigkeit, Schwindel und Verstopfung zu den wichtigsten Nebenwirkungen. Die ersten drei gehen nach kurzer Zeit von selbst zurück, die Verstopfung bleibt. Die Übelkeit kann man mit Metoclopramid, Haloperidol oder Antihistaminika gut beeinflussen. Müdigkeit bei Anämie erfordert Transfusionen oder Erythropoetin. Bei Dauertherapie treten häufig Schwitzen, Ödeme und Antriebsstörungen auf.

Der Verstopfung sollte möglichst vorgebeugt werden. Neben diätetischen Maßnahmen kann man osmotische Laxantien gut verabreichen.

Tipp: Die Kosten für Laxantien werden erstattet, wenn sie auf dem Betäubungsmittelrezept stehen.

Cannabis in der Schmerzmedizin

Cannabis ist ein sehr wirksames Medikament und in der Schmerzmedizin seit 2017 in Deutschland zugelassen und erstattungsfähig. Es ist nicht Mittel der ersten Wahl, sondern kommt zur Anwendung, wenn Schmerzmittel nicht mehr vertragen werden oder nicht mehr wirken. Schmerzen, die im Nervensystem entstehen, neuropathische Schmerzen, die oft nach Bestrahlungen auftreten, lassen sich effektiv damit mindern.

Cannabis enthält mehr als 100 Wirkstoffe, die beiden wichtigsten sind Tetrahydrocannabinolund Cannabidiol. Beide lindern Schmerzen. Wenige Erfahrungswerte und Studien gibt es zu Langzeit- und Nebenwirkungen; ungeeignet ist es auf jeden Fall bei Herzerkrankungen und Depressionen.

Tipp: Cannabis wird am besten als Fertigware (Tropfen, Öl, Kapseln, Mundspray) verschrieben.

Sechs relevante Interaktionen bei der Verordnung von Nichtsteroidalen Antirheumatika und Opioiden bei gängigen Begleitmedikationen sind:

1. Herz-Kreislauf-Medikamente: Abschwächung von Diuretika, Antihypertonika und Verstärkung von Antikoagulantien

2. Glukokortikoide und Antidiabetika: vermehrte gastrointestinale Blutungen

3. CYP3A4-Modulatoren: Veränderung der Schmerzwirkung und der Nebenwirkungen

4. Muskelrelaxantien und Barbiturate: Morphin kontraindiziert

5. Antidepressiva und Neuroleptika: Serotoninsyndrom

6. Opioid-Agonisten und partielle Agonisten: Wirkungsverlust

Merke: Voraussetzung ist die Kenntnis der Begleitmedikation und auch aller eventuell zusätzlich eingenommenen Zusatzstoffe, um Interaktionen vorzubeugen.

Sechs Mythen der Schmerzmedizin:

1. Dem WHO-Schema muss grundsätzlich gefolgt werden.

2. Schwach wirksame Opioide der Stufe II sollten nicht mit starkwirksamen der Stufe II kombiniert werden.

3. Fentanylpflaster eignen sich besonders für Ältere.

4. Unter Stufe-II-Opioiden kann ich nicht Auto fahren.

5. Morphin ist eines der potentesten Opioide.

6. Opioide machen immer süchtig.

Tumorschmerzpatient:innen empfinden es immer als wohltuend, wenn sich jemand Zeit nimmt und sich um ihre gefühlten Symptome kümmert, drehte sich doch bis dahin alles ausschließlich um die unmittelbare Tumortherapie.

Merke: Die Betroffenen brauchen einen Rettungsanker und keinen Strohhalm.

Eine adäquate und fachlich fundierte Schmerztherapie stellt heute ein Qualitätsmerkmal dar. Dennoch fehlen meistens leider entsprechende Therapiestandards und Handlungskonzepte. Die aktuell in Deutschland gültige S3–Leitlinie Palliativmedizin (AWMF 128 001OL) stellt die Qualität des verbleibenden Lebens in der letzten Phase in den Mittelpunkt. Neben der würdevollen Begleitung ist die Milderung des Leidens das Hauptziel unserer ärztlichen Bemühungen, wenn man nicht mehr heilen kann.

Die heute leider immer noch weit verbreitete Opioidangst ist nicht berechtigt. Zusätzlich beachtet werden müssen auch erweiterte nichtmedikamentöse, manchmal vergessene Therapieoptionen. Oft können Palliativoperationen oder Bestrahlungen zu einer Dekompression von Nerven und damit nachhaltig zur Schmerzlinderung beitragen.

Die Qualität der Schmerztherapie ist nach klar definierten Konzepten möglich und wird heute in die vergleichende Bewertung von Krankenhäusern und im Rahmen von Zertifizierungsverfahren einbezogen.

Der Erfolg ist am Ende für dieÄrzt:in und ihre Patient:innen gleichermaßen gesichert, denn keine andere chronische Schmerzform kann so erfolgreich behandelt werden wie tumorbedingte Schmerzen.

Wichtig für die Sprechstunde
  • 70 bis 80% der Patientenmit urologischen Tumoren haben starke Schmerzen.
  • Tumorschmerzen können fast immer gelindert werden.
  • In puncto Schmerzmedizin existieren noch viele Mythen und eine unberechtigte Opioidangst.


Literatur:
1. Beintker M UroForum 12/2019: 24-25.
2. Beintker M in Harzmann R Schmerztherapie und Palliativmedizin in der Urologie ecomed 2000: 64-69.
3. Moormann O Supportiv- und Schmerztherapie in Albers P, Hohenfellner M und Kuczyk M: 2. Urologie-Update-Seminar UROUPDATE 2009.
4. Nauck F, Eulitz N: Tumorschmerztherapie, Schmerz 21 (2007): 359-372.
5. Stiehl M Der Tumorschmerzpatient in der Praxis ComMed Healthcare 2002.
6. Moormann, O. Supportiv- und Schmerztherapie Handbuch UroUpdate 2009 (Hrg. Albers,P., Hohenfellner, M., Kucyk, M.) Kapitel 13 S. 1-13
7. Nauck F. und Eulitz N. Schmerz 21 (2007) 359-372
8. WHO Guideline 2019


Autor

© privat
Dr. med. Matthias Beintker

Facharzt für Urologie Klinik für Urologie
Südharz Klinikum Nordhausen gGmbH
99734 Nordhausen
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (7) Seite 18-21