Multimorbide Patient:innen, die Tag für Tag 12 Arzneien einnehmen müssen, sind längst kein Einzelfall mehr. Und häufig kommen dann auch noch ohne Rücksprache mit der Hausärzt:in frei erhältliche Präparate aus der Apotheke hinzu. Die Medikamenten-Cocktails, die so mit der Zeit zwangsläufig gemixt werden, fördern aber kaum die Gesundheit von geriatrischen Patient:innen. Das sollte sich ändern.

Fallbeispiel: Koordiniertes Arzneimanagement tut not
Hans K. ist 86 Jahre alt und multimorbid. Wie viele der über 80-Jährigen muss er gegen Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Diabetes, Inkontinenz sowie Lungenprobleme und Allergien ankämpfen. Hinzu kommen Schmerzen und Schlafstörungen und leichte Depressionen. Hans K. schluckt allein wegen seines massiv erhöhten Bluthochdrucks 3 verschiedene Wirkstoffe gegen die Hypertonie, die ihm von 3 verschiedenen Ärzt:innen (Haus-, Fach- und Klinikärzt:in), die kaum miteinander kommunizieren, verordnet worden sind. Medizinisch indiziert sind so viele Präparate – insgesamt 12 – gegen all die Leiden nicht, altersgerecht schon gar nicht. Das wäre auch zu verhindern gewesen, wäre bei Hans K. irgendwann einmal ein pharmakologischer Check erfolgt. So hätte problemlos die Zahl seiner Medikamente von 12 auf 8 reduziert werden können. Unter Berücksichtigung von Wechsel- und Nebenwirkungen der einzelnen Präparate sogar auf 6. Ein koordiniertes Arzneimanagement, das viel zu selten erfolgt, wäre nicht nur gut für Hans K. gewesen, sondern hätte auch der Solidargemeinschaft hohe Kosten gespart.

Zu ungesunden Medikamenten-Konstellationen kommt es häufig dann, wenn Patient:innen aus dem Krankenhaus entlassen werden. Denn dort erfolgen die medikamentösen Verordnungen strikt nach ärztlichen Leitlinien mit dem Ziel, bei jeder Erkrankung bei multimorbiden Patient:innen schnell wieder normale Werte zu erreichen, um sie so rasch entlassen zu können. Hinzu kommt, dass viele Arzneien, die geriatrische Patient:innen täglich schlucken müssen, für diese Gruppe gar nicht geeignet sind. Überdurchschnittlich viele "Potenziell ungeeignete Medikamente" (PIM)-Verordnungen erhalten Patient:innen mit Hypertonie (57 %), Demenz (55 %) und mit psychischen Erkrankungen (45 %). Bei der großen Palette ihres Arznei-Sortiments kommen viele geriatrische Patient:innen auch deshalb gar nicht mehr mit, weil sich aufgrund von Rabattverträgen ständig die Namen, die Größe, die Form oder die Farbe der Präparate ändern. Darunter leidet auch die Adhärenz.

Was muss sich ändern?

Vor allem muss sich bei der medikamentösen Behandlung multimorbider Patient:innen die Einstellung ändern. Auf eine exakte leitliniengerechte Verordnung kommt es im hohen Alter nicht mehr so sehr an. Bei alten und multimorbiden Patient:innen muss nicht mehr der Blutzucker oder der Blutdruck den Idealwerten entsprechen und medikamentös entsprechend beeinflusst werden. Viel wichtiger ist es, dass sie ihre Mobilität erhalten und gut schlafen können, schmerzfrei sind und im Alltag eine möglichst hohe Lebensqualität erhalten können. Ein Weniger an Arzneien ist da mitunter sehr viel mehr. Doch auch bei den Patient:innen selbst ist ein Lernprozess erforderlich: Nicht bei jedem Gebrechen im Alter ist ein Medikament indiziert. Oft kommen Patient:innen aber mit genau dieser Erwartungshaltung zu ihrer Allgemeinärzt:in.

Gibt es vielversprechende Ansätze?

Durchaus. Hilfreich für Hausärzt:innen ist zum Beispiel die hausärztliche DEGAM-Leitlinie Multimedikation, in der Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation abgegeben werden. Nützlich ist auch die sog. PRISCUS-Liste, in der 83 Arzneistoffe aufgelistet werden, die möglichst nicht alten und multimorbiden Menschen verabreicht werden sollten. Für Hausärzt:innen sind das aber lediglich Orientierungshilfen, weil sich jeder einzelne Fall immer wieder anders darstellt.

Anfang 2020 ist der Startschuss für die ersten Testläufe zum eMedikationsplan (eMP) gefallen. Damit wird nun auch die Hoffnung verbunden, dass insbesondere Hausärzt:innen künftig über digitale Tools ihre Patient:innen medikamentös weit besser als bislang einstellen, überflüssige Arzneien eher absetzen und unerwünschte Wechselwirkungen früher erkennen können.

Wer ist in der Pflicht?

Natürlich ist zunächst an allererster Stelle die Politik in der Pflicht, die offenkundigen Mängel zu beseitigen. Doch es bleibt fraglich, ob all die politischen Bestrebungen, die letztlich in die elektronische Patientenakte (ePA) münden sollen, aufgrund immer wieder neuer Barrieren beim Datenschutz oder potenziellen Cyberangriffen erfolgreich umgesetzt werden können. Doch auch die Forschung muss liefern. Ein ganzes Wissenschaftler-Konsortium arbeitet derzeit daran, ein Polymedikations-Alarm-Tool für die Praxis zu entwickeln, um künftig früher arzneimittelbezogene Probleme bei Patient:innen mit Polymedikation und Multimorbidität erkennen und eindämmen zu können. In dem Projekt POLAR_MI (POLypharmazie, ARzneimittelwechselwirkungen und Risiken) wollen dies insgesamt 21 Einrichtungen - darunter 13 Universitätskliniken – gemeinsam erforschen.

Viel zu viel und doch zu wenig
Ein ungesundes Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung wird auch in einer erstmals gerade für Allgemeinärzt:innen entwickelten DEGAM-Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung deutlich. Diese Leitlinie war auch der Aufhänger des 2021 im Elsevier Verlag erschienenen Buches "Viel zu viel und doch zu wenig" (ISBN: 978-3-437-24061-4) unseres langjährigen Autors und Kolumnisten Raimund Schmid und auch für diese Serie in doctors today. Im Rahmen der Serie zeigt der Herausgeber des Buchs in Kooperation mit den Autor:innen der Originalbeiträge am Beispiel systembedingter Defizite und einzelner Krankheitsbilder auf, was gegen die Fehlversorgung unternommen werden kann.

Handlungsbedarf besteht beim Medikamentenmanagement aber auch in Krankenhäusern. In der Akutgeriatrie des Klinikums Aschaffenburg-Alzenau erfasst deshalb eine versierte und erfahrene Krankenhausapothekerin im Rahmen des sog. "Pharmakologischen Konsils" systematisch, welche Arzneimittel die in der Akutgeriatrie versorgten Patient:innen einnehmen und ob diese zueinander passen oder nicht. Ist dies nicht der Fall, greift die Pharmazeutin ein und empfiehlt den Ärzt:innen Modifikationen bei der Medikation. Dies ist bei jeder vierten Patient:in in der Geriatrie der Fall, bei Patient:innen mit Nierenproblemen sogar bei jeder dritten.Schon gleich bei der stationären Aufnahme im Krankenhaus setzt das Leuchtturmprojekt "Pharmazeutische Aufnahme" im St. Franziskus Hospital in Münster an. Um gleich die Arzneimitteltherapie gerade von multimorbiden Patient:innen zu optimieren, erfasst ein Krankenhausapotheker direkt und systematisch alle Arzneimittel, die die Patient:in zum Zeitpunkt der Aufnahme einnimmt, und begleitet eng die weitere Medikation. Die Arznei-Versorgungsqualität älterer Patient:innen konnte so deutlich verbessert werden.

Fazit

Natürlich muss es das Ziel sein, die hier beschriebenen und viele weitere ermutigende Modellprojekte nach und nach in die Regelversorgung zu integrieren. Dieser Prozess findet aber viel zu zögerlich statt. Er sollte dringend forciert werden, damit künftig nicht mehr so viele ihren eigenen (Medikamenten-)Cocktail weiter unkoordiniert mixen können.



Autor

Raimund Schmid

Dipl. Volkswirt und Medizinjournalist,
63739 Aschaffenburg


Eine Literaturliste ist über den Autor erhältlich.


Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (6) Seite 34-35