Menschen haben Sex. Ständig. Internetporno als Rollenbild und eine neue Prüderie, die unsere Großeltern im Vergleich als sexuell befreit erscheinen lässt, bilden den perfekten Nährboden für Sexuell Übertragbare Erkrankungen (STI). STI kennen keine Nationalität, kein Alter, keine gesellschaftliche Klasse. Daher gehört die Sexualanamnese mit Schwerpunkt HIV-Risikoabschätzung auch in die Sprechstunde einer Hausarztpraxis.

Täglich infizieren sich laut WHO weltweit eine Million Menschen im Alter von 15 – 49 Jahren mit einem dieser Erreger: Chlamydien, Gonokokken, Trichomonaden, Syphilis. Sexuell übertragbare Erkrankungen, auch STI (Sexually Transmitted Diseases) genannt, sind unter uns und seit ein paar Jahren wieder auf dem Vormarsch. Auch in Deutschland. STI verursachen hohe Kosten im Gesundheitswesen, da sie anfangs vielfach unerkannt bleiben, dann jedoch mit ihren Spätfolgen umso teurer werden. Insbesondere HIV gibt es noch, obwohl der öffentliche Diskurs schon längst andere Themen kennt. Sex war noch nie so öffentlich und gleichzeitig so tabuisiert wie heute. Die Medien und das Internet sind voll von leicht zugänglicher Pornographie und sexuellen Darstellungen. Gleichzeitig setzen sich über die sozialen Medien mehr und mehr Moralvorstellungen US-amerikanischer Prägung durch. Beim dritten Date muss es Sex geben, aber aufgeklärt ist keiner der Beteiligten. Wie denn auch, wenn Plattformen wie Youtube Lehrvideos zum Kondomgebrauch als jugendgefährdend brandmarken und Begrifflichkeiten der Körpermitte komplett auf ihren Index setzen? Daher ist es von ärztlicher Seite umso wichtiger, für STI sensibilisiert zu sein. Insbesondere, was den Sex jenseits der Lebensmitte betrifft. Ältere Menschen sind nicht immun gegen STI und Untersuchungen zeigen leider, dass HIV in der Altersgruppe der über 50-Jährigen unterdiagnostiziert ist. Mit einer Sexualanamnese tun sich aber viele schwer, denn im Studium wird so etwas in der Regel nicht gelehrt.

Sexualanamnese muss man üben

Dabei ist es ganz einfach und dauert nicht länger als zehn Minuten. Wichtigster Punkt ist jedoch, sich zu überwinden und die Sexualanamnese zu üben. Der Körper soll lernen, die Wörter auszusprechen. So etwas geht beispielsweise auch vor dem Spiegel oder als Rollenspiel im beruflichen Umfeld, im Freundes- oder Bekanntenkreis. Hauptsache, man tut es, denn durch die Wiederholung verschwindet die Nervosität und die Professionalität nimmt zu. Denn Unsicherheit überträgt sich. Wenn man herumdruckst, wird das Gespräch schnell zu einer peinlichen Angelegenheit.

Merke: Eine strukturierte Sexualanamnese dauert zehn Minuten.

Wie fängt man an?

Das Gute ist: In der Regel kommen die Patient:innen ja schon mit Symptomen und haben meist eine Ahnung, was das Problem sein könnte. Das braucht man nur anzusprechen. Fragen Sie zum Beispiel, ob schon ein Verdacht besteht, was es denn sein könnte. Oder: "Halten Sie es für möglich, dass es sich um eine geschlechtlich übertragbare Erkrankung handeln könnte?" Ganz egal, wie die Antwort ausfällt, der Begriff steht im Raum und man kann daran anknüpfen: "Ich möchte Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen, wenn das in Ordnung ist, da Ihre Symptome häufig auch bei Chlamydieninfektionen (Gonorrhoe, Herpes etc.) anzutreffen sind." Erfahrungsgemäß verweigern sich hier die wenigsten. Oder man kann den Einstieg über die Sozialanamnese wählen: "Sind Sie verheiratet?", "Sind Sie in einer Partnerschaft?", "Wann waren Sie zuletzt in einer Partnerschaft?" Man kann das Gespräch so lenken, dass sich die Frage: "Wann hatten Sie das letzte Mal Sex?" ganz natürlich aus dem Gesprächsverlauf ergibt. Viele glauben, dass man Patient:innen nicht nach Sex fragen darf. Das ist aber ein Irrtum. Untersuchungen aus dem allgemeinärztlichen Bereich belegen das Gegenteil: Patient:innen wollen nach ihrer Sexualität befragt werden.

Welche Fragen soll man stellen?

Der Fragenkatalog ist im obenstehenden Kasten aufgelistet. Bei dieser Form der Sexualanamnese stehen geschlossene Fragen im Mittelpunkt. Geschlossene Fragen sind Fragen, auf die man nur mit Ja oder Nein antworten kann. Auf diese Weise bekommt das Gespräch eine feste Struktur und zeitliche Begrenzung. Ziel ist es, eine Risikoanalyse zu erstellen und ggf. die Kontaktnachverfolgung bei meldepflichtigen Erkrankungen bzw. Partnerbehandlungen nicht aus dem Auge zu verlieren. Dieses Vorgehen ermöglicht auch die Risikoeinschätzung hinsichtlich einer HIV-Infektion. Die Panik der 80er ist mittlerweile verflogen und die Erkrankung kaum noch im kollektiven Gedächtnis. Zu allem Übel kommt sie sehr unspezifisch daher und wird leicht übersehen, als Grippe oder Erkältung abgetan etc. Laut RKI lag die Zahl der erst im fortgeschrittenen Stadium diagnostizierten Fälle im Jahr 2019 bei 34 %, Tendenz steigend.

Merke: Bei unklaren Beschwerden und Risiko: Könnte es HIV sein?

HIV ist nördlich der Sahara immer noch eine Infektion, die schwerpunktmäßig die MSM-Community betrifft (Männer, die Sex mit Männern haben). Südlich der Sahara ist das anders. Hier kommt sie im heterosexuellen Kontext vor. Es ist daher wichtig, nachzuverfolgen, wo die Ansteckung geschah bzw. von wem die Infektion kam. Daher ist die Frage: "Hatten Sie Sex mit jemandem, der nicht aus Europa stammt?" sehr wichtig. Außerdem können manche STI unterschiedliche Resistenzen haben, je nachdem, wo man sich infiziert hat. So wird die Behandlung von Gonorrhö aufgrund einer rasanten Resistenzentwicklung immer schwieriger. Mittlerweile kommt man um eine Kombinationsbehandlung nicht herum und die Dosierungen sind von Region zu Region unterschiedlich. Daher muss man vor der Behandlung lokale Resistenzen abfragen und die Therapie dementsprechend gestalten.

Erfahrungsgemäß stellt die Frage nach dem Wie? regelmäßig eine Hürde dar. Daher drei kurze Fragen, drei kurze Antworten: "Hatten Sie Oralsex?" ja/nein, "Hatten Sie vaginalen Sex?" ja/nein, "Hatten Sie Analsex?" ja/nein.

Tipp: So wird richtig gefragt: Hatten Sie Oralsex? Hatten Sie Vaginalsex? Hatten Sie Analsex?

Fragenkatalog der Sexualanamnese
  • Wann fand der sexuelle Kontakt statt?
  • Mit wem fand der sexuelle Kontakt statt? (Partnerbehandlung, Infektionsnachverfolgung)
  • Hatten Sie Sex mit jemandem von außerhalb Europas?
  • Wurde ein Kondom verwendet?
  • Oral, vaginal, anal?
  • Wie viele unterschiedliche Partner/Partnerinnen hatten Sie im vergangenen Jahr?
  • Wie viele unterschiedliche Partner/Partnerinnen hatten Sie in den vergangenen drei Jahren?
  • Männer: Hatten Sie schon einmal Sex mit Männern?
  • Frauen: Hatten Sie schon einmal Sex mit bisexuellen Partnern/Partnerinnen?
  • Medizinische Behandlungen im Ausland?
  • Bluttransfusionen im Ausland?
  • Haben Sie jemals für Sex bezahlt oder sind für Sex bezahlt worden?
  • Haben Sie zurzeit oder hatten Sie schon mal einen HIV-positiven Partner/Partnerin?
  • Waren Sie jemals Zeuge oder Opfer häuslicher Gewalt?
  • Haben Sie Piercings und/oder Tattoos?
  • Haben Sie oder Ihr Partner jemals Drogen injiziert?

Niemand kann Gedanken lesen

Einige Fragen muten fremdartig an, z. B. nach Drogen. Leider ist es schnell passiert, diese Fragen auszulassen, und bisweilen fehlen dann wichtige Informationen. Gedankenlesen ist nicht möglich und daher muss man diese Dinge erfragen. Auch bei langjährig bekannten Patienten sollte man nicht den Fehler machen, zu meinen, man wisse alles über die Person. Sexualität ist ein immenses Kommunikationstabu. Was die Menschen tun und was sie sagen, sind oft ganz unterschiedliche Dinge.

Diagnosefalle Urethritis

Die praktische Erfahrung zeigt, dass wenige Ärzt:innen bei urethritischen Symptomen an STI denken. Meist wird nach den üblichen Erregern von Harnwegsinfekten gefahndet, z.B. per Kultur. Hierzu sollte man aber wissen, dass E. coli und Kollegen nur rund 1 % des Erregerspektrums ausmachen. Fast die Hälfte der Infektionen, nämlich 45%, geht auf das Konto von Chlamydien, 5% sind Gonokokken. Von der verbleibenden Hälfte sind Mykoplasmen in 50% die gesuchten Erreger, der Rest besteht aus Ureaplasmen, Herpes, Trichomonaden und Adenoviren. Damit hat man allen Grund für eine Sexualanamnese bei Urethritis, denn mit großer Wahrscheinlichkeit liegt hier eine Geschlechtskrankheit vor.

Merke: Die Urethritis ist solange eine STI, bis das Gegenteil bewiesen ist.

Praxistipp: die richtige Probenentnahme

Grundsätzlich gilt: Geschlechtskrankheiten reisen in Gruppen. Das bedeutet, dass man immer auf mehrere testen sollte, denn hat man eine gefunden, besteht die Chance, mindestens noch eine weitere, koexistente STI zu finden. In Anlehnung an das obige Schema macht es also Sinn, bei Urethritis auf Chlamydien, Gonokokken, Mykoplasmen und Ureaplasmen zu testen. Chlamydien und Mykoplasmen kommen bisweilen zusammen vor. Testet man nur auf Chlamydien, verpasst die Mykoplasmen und verordnet das übliche Gramm Azithromycin, hat man die Mykoplasmen erst einmal resistent gemacht. Und das ist dann ein richtiges Problem.

Merke: Geschlechtskrankheiten reisen in Gruppen!

Durch die heutigen PCR-Tests hat sich die Probenentnahme deutlich erleichtert. Bei Männern reicht daher ein Erststrahlurin, vorzugsweise Morgenurin. Abstriche aus der Harnröhre gehören eigentlich der Vergangenheit an, sind in den Praxen aber immer noch Standard. Bei Frauen ist neben dem Erststrahlurin ein Vaginalabstrich sinnvoll. Dieser wird aber von der Patientin selbst gemacht. Abstriche unter Spekulumeinstellung bergen die Gefahr, dass nicht alle Bereiche erfasst werden und die Diagnostik damit falsch-negativ ausfällt.

Die hier vorgestellte Form der Sexualanamnese gehört übrigens zu den prüfungsrelevanten Inhalten, die Medizinstudent:innen in England für ihre mündlichen Prüfungen beherrschen müssen. Hieran könnte man sich in Deutschland sicherlich ein Beispiel nehmen.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Eine Sexualanamnese dauert höchstens zehn Minuten.
  • Es lohnt sich, Fragen und Sprechweise zu üben. Unsicherheit kann sich auf die Patienten übertragen.
  • Eine HIV-Infektion geht zu Beginn oft mit uncharakteristischen Beschwerden einher.


Literatur:
1. Bull World Health Organ. 2019 Aug 1; 97(8): 548–562P. Online abgerufen am 16.09.2021: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6653813/
2. Robert Koch Institut [Hrsg.]. Epidemiologisches Bulletin 48/2020. S.3. Online abgerufen am 16.09.2021: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/48_20.pdf?__blob=publicationFile


Autor:

© privat
Dr. med. Dr. phil. Stefan Buntrock

Facharzt für Urologie, Sexualmedizin, Medikamentöse Tumortherapie,
Privatpraxis für Urologie & Sexualmedizin
37077 Göttingen
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert

Praxis Dr. Dr. Stefan Buntrock, Urologie Göttingen



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (8) Seite 43-45