Zwei Themen standen in diesem Jahr im Fokus des Berufspolitischen Oktoberfestes bei der practica 2022 in Bad Orb: Die Annäherung der Allgemeinärzt:innen und des Deutschen Hausärzteverbandes (DHÄV) an die Hausarzt-Internist:innen. Und das Plädoyer für eine Hausarztzentrierung 2.0. Dennoch hagelte es auch wieder reichlich Kritik. Diesmal standen insbesondere die Gebietsärzt:innen im Visier, die den Hausärzt:innen ihre Rolle als Primärversorger:innen immer wieder erschweren.

Gleich zu Beginn des Abends berichtete der Kasseler Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Uwe Popert, dass er im Rahmen einer Überweisung an einen Rheumatologen einen 25-seitigen Fragebogen ausfüllen sollte, der noch nicht einmal die relevanten Fragestellungen enthielt. Dies sei höchst ärgerlich und wieder mal ein Beleg mehr dafür, wie manche Gebietsärzt:innen mit den Allgemeinmediziner:innen umgingen.

Im Team zum Primärversorgungszentrum

Das Beispiel zeige aber auch, dass "wir mehr Steuerung brauchen", erklärte Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth, 1. stv. Bundesvorsitzende im DHÄV, unter großem Beifall. Dafür müsse die HzV in eine "Hausarztpraxis-zentrierte Versorgung" als HzV 2.0 weiterentwickelt werden. Daraus könnten dann neue "Hausärztliche Primärversorgungszentren" entstehen, die dann aber als Teampraxis aufgebaut und strukturiert sein müssen. Viele Anforderungen, die heute an Hausärzt:innen herangetragen werden, könnten auch von qualifizierten nichtärztlichen Fachkräften und in der Teamarbeit erledigt werden. Dies würde die Allgemeinärzt:innen im Praxisalltag enorm entlasten. Dies könne aber nur gelingen, wenn die Kassen bereit seien, Teamkostenzuschläge in der HzV 2.0 einzuführen. Buhlinger-Göpfarth sieht hier bei den Kassen durchaus Gesprächsbereitschaft. Denn grundsätzlich herrsche Einigkeit darüber, dass neue Konzepte entwickelt werden müssen, um die Versorgungssicherheit auf Dauer zu gewährleisten und sie nicht auf andere Berufsgruppen (Apotheker, Community Health-Kräfte) übertragen zu müssen. Die HzV 2.0 könne hier eine "Blaupause für ganz Deutschland" sein. Das müsse man nun gegenüber der Politik auch deutlich artikulieren. Davon würden laut Buhlinger-Göpfarth auch die Gebietsärzt:innen profitieren, weil diese dann deutlich besser selektierte Patient:innen hätten. Und schließlich bräuchte man dann auch nicht mehr die Hausärzt:innen mit unsinnigen und völlig überladenen Fragebögen traktieren.

Zukunftsfähiges freiwilliges Primärarztsystem

Das alles müsse sich dann aber auch im Honorar niederschlagen, so der einstimmige Tenor auf der practica. Und dafür müsste die gesamte Honorarstruktur geändert werden. Praxisbudgets statt Arzthonorare, damit preschte der Hausärzteverband beim Oktoberfest vor. Die Einzelleistungsvergütung müsse weit stärker als bislang generell durch Pauschalen – wie bei der HzV längst üblich – ersetzt werden, hieß es. In diesem Zusammenhang sieht es der neue DHÄV-Chef Dr. Markus Beier als seine wichtigste Aufgabe an, das freiwillige Primärarztsystem zukunftsfähig zu gestalten. Die Blaupause hierfür sieht er dabei eindeutig in der Weiterentwicklung der HzV.

Hausarzt-Internist:innen stärker einbeziehen

Nur ganz vereinzelt wurden beim Oktoberfest Zweifel geäußert, ob die Hausärzt:innen eine solche Teampraxis auf breiter Ebene überhaupt stemmen können. Günther Egidi, Allgemeinarzt in Bremen, ging sogar noch einen Schritt weiter. Er sieht die Hausärzt:innen eher in der Defensive, weil nichtärztliche Fachkräfte fehlten und die Hausärzt:in selbst zunehmend Aufgaben erledigen müsse, die bisher Domäne der MFA waren.

Diese Befürchtung teilte Tagungspräsident Dr. Hans-Michael Mühlenfeld so nicht. Er verwies auf die weitere steigende Anzahl der vom Institut für hausärztliche Fortbildung (IhF) qualifizierten rund 16.000 Versorgungsassistenten in der Arztpraxis (VERAH®) sowie die 11.000 NäPa, die künftig prägende Säulen einer Teampraxis werden könnten. Um die Primärversorgung sicherzustellen und auszubauen, müsse man nun aber auch den vollständigen Einbezug der Hausarzt-Internist:innen in die Hausarztversorgung vollziehen, so der überraschend einstimmige Tenor bei der practica.

Anke Richter-Scheer, 3. stv. Bundesvorsitzende im DHÄV, drückte es beim Oktoberfest so aus: Hausarzt-Internist:innen und Allgemeinärzt:innen sitzen in einem Boot und sollten sich nicht mehr auseinanderdividieren lassen! Die Sicherstellung der Versorgung durch Hausärzt:innen könne nur dann funktionieren, wenn Hausarzt-Internist:innen und Allgemeinärzt:innen gemeinsam als Fachgruppe auftreten. Ein Umdenken in diese Richtung sei nun aber in Gang gekommen, stellte Richter-Scheer in Bad Orb erfreut fest. Dies müsse nun in eine "Gleichstellung beider Fachgruppen" münden, um endlich die jahrzehntelangen Grabenkämpfe zu überwinden.

Der bisherige Vorsitzende Ulrich Weigeldt und Tagungspräsident Mühlenfeld erinnerten zwar auch daran, dass eigentlich nach wie vor Allgemeinmediziner:innen die breiteste und damit beste Weiterbildung für die hausärztliche Praxis durchliefen. Da sich aber immer mehr Hausarzt-Internisten auch allgemeinmedizinische Weiterbildungsinhalte aneigneten und zudem der Bedarf nach Hausärzt:innen immens groß sei, seien die Vorbehalte vonseiten der Allgemeinmedizin nicht mehr angebracht. In der Praxis würden derzeit bereits ohnehin mehr Hausarzt-Internist:innen in die Versorgung kommen als Fachärzt:innen für Allgemeinmedizin. Die große Bedeutung der Hausarzt-Internist:innen für die Versorgung bekräftigte auch Armin Beck, Vorsitzender des Hausärzteverbandes Hessen. Von 2.500 Hausärzt:innen in Hessen seien 800 Hausarzt-Internist:innen. Bei entsprechender Weiterbildung und zusätzlichen Fortbildungen kämen laut Beck bei den Hausarzt-Internisten am Ende "dann doch Allgemeinärzte raus".

Dauerbrenner practica
Nach "schwerer See in Lockdownzeiten" sind Fortbildungsangebote in der Allgemeinmedizin wieder auf das Niveau angewachsen, das vor der Pandemie erreicht worden war. Das hat Tagungspräsident Dr. Hans-Michael Mühlenfeld bei der practica 2022 bekräftigt. Man sei sogar gestärkt aus den Corona-Jahren herausgekommen, da in diesem Jahr zusätzlich zu den Vor-Ort-Fortbildungen Online-Angebote hinzugekommen sind, mit denen man neue Zielgruppen (junge Allgemeinmediziner:innen mit kleinen Kindern) gewinnen konnte. Mit 880 Teilnehmer:innen vor Ort und 200 online sei man ausgebucht gewesen. Die practica findet laut Mühlenfeld deshalb so große Resonanz, weil die Themen "pragmatisch am hausärztlichen Bedarf" ausgerichtet sind. (ras)



Autor
Raimund Schmid

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (11) Seite 26-27