Einmal im Jahr treffen sich die Delegierten des Deutschen Hausärzteverbands (DHÄV) zum Deutschen Hausärztetag in Berlin, um die drängendsten Probleme und die Zukunft der hausärztlichen Versorgung zu diskutieren. So war es im Grunde auch dieses Jahr, man sprach über die Honorarentwicklung, die Digitalisierung, die Pandemiebewältigung. Überdeckt wurde das alles aber von der Tatsache, dass eine Ära zu Ende ging.

Der Paukenschlag ertönte bereits auf der Pressekonferenz vor der Delegiertenversammlung: Ulrich Weigeldt, der den DHÄV mehr als 16 Jahre als Bundesvorsitzender anführte, gab bekannt, dass er sein Amt zur Verfügung stellt. Gerüchte darüber hatte es schon seit ein paar Jahren gegeben, aber jetzt wurden diese Realität. Sein Abschied sei langfristig geplant gewesen, versicherte Weigeldt, und das Haus sei ja gut bestellt, sodass man es nun an Jüngere übergeben könne. Wer in die großen Fußstapfen treten soll, die Weigeldt ohne Zweifel hinterlässt, sollte in einer Wahl am Ende des Hausärztetags entschieden werden.

Aufruf zur Grippeimpfung

Und dann widmete sich Ulrich Weigeldt mit seinem nun also letzten Bericht zur Lage erst einmal wieder dem Tagesgeschäft. Und da sieht er auch die Hausärzt:innen von den zahlreichen Krisen betroffen. So würden sich die steigenden Energiekosten auch in den hausärztlichen Praxen bald bemerkbar machen und der Klimawandel wirke sich auf die gesundheitliche Situation der Menschen aus und erhöhe die Krankheitslast, was zuallererst die Hausärzt:innen zu spüren bekämen. Und auch die Pandemie sei noch nicht vorüber, bei ihrer Bekämpfung sei der volle Einsatz der Hausärzt:innen weiterhin gefragt. Doch geimpft werden müsse nicht nur gegen Corona-Varianten, sondern auch gegen andere Infektionskrankheiten, wie eben aktuell gegen die Grippe.

Schon die Pressekonferenz hatte Weigeldt benutzt, um den Appell an die Bevölkerung zu richten, den eventuell anstehenden Corona-Booster auch für die Grippeschutzimpfung zu nutzen. Die Influenza stelle für Ältere und Kranke ebenfalls eine erhebliche Gefahr dar und sollte daher nicht aus dem Blick verloren werden. Beide Impfungen könnten zudem pro-
blemlos gleichzeitig verabreicht werden. Von diesem Hausärztetag sollte daher das Signal ausgehen: Nur mit einer Grippeimpfung gehen vulnerable Gruppen sicher in den Herbst und Winter, so Weigeldt.

Zugleich appellierte der Noch-DHÄV-Chef an die Politik, neue Impfstoffe nicht zu begeistert und vorzeitig anzukündigen, sondern zu warten, bis die Ständige Impfkommission (STIKO) sich dazu äußert. Denn sonst müssten Hausärzt:innen wieder unnötig viel Zeit in die Beratung investieren, wenn – so wie aktuell – zwei an die neuen Corona-Varianten angepasste Impfstoffe fast gleichzeitig in die Versorgung kommen, aber teilweise noch gar nicht lieferbar waren. Im gleichen Atemzug kritisierte Weigeldt die nach wie vor völlig ungenügende Datenlage zur Beurteilung der Pandemie. Die daraus folgende Verunsicherung der Menschen bekäme man in den Praxen permanent zu spüren und erhöhe den Beratungsbedarf noch weiter. Am Ende sei es immer das gleiche Spiel, so Weigeldt: "Den Letzten beißen die Hunde und das sind in der Regel wir Hausärzt:innen und unsere Praxisteams! Denn wir sind diejenigen, die am Ende den Patient:innen konkret erklären müssen, was jetzt zu tun ist." Dass Hausärzt:innen jetzt das Dispensierrecht für Paxlovid erhalten haben, begrüßte Weigeldt ausdrücklich, denn wenn dieses Corona-Medikament richtig eingesetzt werde, sei es ein wirksames Instrument in den Händen der Hausärzt:innen.

Hausärztliches Primärarztsystem ist die Zukunft

Genug von der Pandemie. Als Nächstes sezierte Weigeldt genüsslich das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz der Bundesregierung, das unter anderem durch die geplante Streichung der extrabudgetären Leistungen für Neupatient:innen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen und fachärztlichen Verbänden für helle Aufregung gesorgt hat. In einzelnen KV-Bereichen wie z. B. Hamburg und Berlin seien davon tatsächlich auch Hausärzt:innen betroffen, so Weigeldt. Das Gesetz zeige aber erneut, dass das KV-System keine Antworten auf die Finanzierungsfragen der Zukunft bereithalte. Und so bewertet der DHÄV-Chef auch die kurz zuvor erst verkündete Erhöhung des Orientierungswerts um 2 % als viel zu niedrig, um in Zukunft Praxen auszubauen und den Nachwuchs zu motivieren, in den Hausarztberuf einzusteigen. Junge Ärzt:innen könne es doch nur verunsichern, wenn die Krankenkassen jedes Jahr Honorarsteigerungen ablehnen, obwohl die Kosten steigen. Und dann sei es geradezu dreist, wenn die Kassen behaupten, Ärzt:innen hätten durch das Impfen genug verdient und bräuchten nicht noch mehr Geld, echauffierte sich Weigeldt, nicht ohne zu vergessen darauf hinzuweisen, dass die Hausarztzentrierte Versorgung (HzV) dann eben doch das strukturell modernere System sei, das von all diesen Finanzierungsfragen unberührt bleibe und eine faire Vergütung sichere. Hier zeige sich erneut, dass ein hausärztliches Primärarztsystem das Zukunftsmodell für eine starke hausärztliche Versorgung ist und bleibe.

Dass die vom Bundesgesundheitsministerium geplanten rund 1.000 Gesundheitskioske in sozial schwachen Gebieten einen niedrigschwelligen Zugang zur Versorgung von Patient:innen mit besonderem Unterstützungsbedarf ermöglichen sollen, sei sicher ein positiver Ansatz, räumte Weigeldt ein. Die medizinische Versorgung und deren Koordination ist und bleibe aber die Aufgabe der hausärztlichen Praxen. Parallelstrukturen seien hier nicht sinnvoll: "Wer die Primärversorgung stärken will, der muss die Hausarztpraxen stärken. Alles andere ist Augenwischerei", mahnte Weigeldt.

Halbgare Digitalisierung

Und zum Ende seiner Rede musste sich der DHÄV-Chef erneut mit einem Thema auseinandersetzen, das die Hausärztetage der letzten Jahre regelmäßig beschäftigte: die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Oder, wie Weigeldt sich gleich scherzhaft verbesserte: die Nicht-Digitalisierung. Alle bisherigen Bemühungen der gematik hätten hier nur zu einem bürokratischen Overkill in den Praxen geführt, kritisierte der scheidende DHÄV-Bundesvorsitzende. Es fehle grundsätzlich an der Nutzerorientierung, so sei der Zugang zur elektronischen Patientenakte für die Versicherten mehr als aufwendig, noch immer müssten bei der eAU zwei Zettel ausgefüllt werden, und das eRezept sei in der jetzigen Form de facto in den Praxen und für die Patient:innen nicht nutzbar. Damit sei das eRezept wieder ein klassisches Beispiel dafür, dass etwas in den Praxen ausgerollt wird, was halbfertig ist. Weigeldt fordert Lösungen, die den Ärzt:innen die Arbeit erleichtern und nicht nur kurz auf den Markt kommen und mehr Arbeit machen, als dass sie helfen.

Es wurde viel erreicht

Und dann kommt der Abschied. Weigeldt blickt zurück auf seine lange berufspolitische Karriere, die 1992 beim Landesverband in Bremen begann, ihn zur Bundesärztekammer und zum Bundesverband der Hausärzte führte, wo er 2003 zum ersten Mal den Bundesvorsitz übernahm. Er schilderte seinen Ausflug in die Vorstandsposition für die hausärztliche Versorgung bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), wo er nach zweieinhalb Jahren abgewählt wurde. Danach übernahm er erneut die Spitzenposition beim DHÄV – bis heute.

In seinem Rückblick verweist Weigeldt darauf, dass man als Verband doch viel erreicht habe, auf das man stolz sein könne. So habe sich die mediale und politische Wahrnehmung des Verbands von Skepsis zu einer Wahrnehmung eines seriösen und sachkundigen Players im Gesundheitswesen gewandelt. Das habe nicht zuletzt auch zu einem entspannteren Verhältnis zur Bundesärztekammer und KBV beigetragen.

Im Verhältnis zur Politik, zu Abgeordneten wie auch zu den Ministerien habe sich bei aller auch notwendigen Kritik eine vertrauensvolle Kommunikation entwickelt. Dies sei sicher auch einer immer sachorientierten und konsistenten Argumentation ohne emotionale und persönliche Angriffe geschuldet, so Weigeldt, und mit den Worten "Es gibt momentan nicht viele ärztliche Organisationen, deren Stimme lauter und deutlicher ist als die des Hausärzteverbandes" schließt er seine Rede und seine Amtszeit ab und gibt seinen Nachfolger:innen ein gehöriges Paket an Arbeit mit auf den Weg.

Neue DHÄV-Spitze: Dr. Markus Beier übernimmt
Da Ulrich Weigeldt nach 16 Jahren sein Amt als Bundesvorsitzender des DHÄV niedergelegt und auch Dr. Berthold Dietsche seinen Posten als zweiter Stellvertretender Bundesvorsitzender abgegeben hatte, musste ein neuer Vorstand gewählt werden. Das Wahlergebnis war eindeutig: Mit 115 von 119 abgegebenen Stimmen wurde Dr. Markus Beier zum neuen Bundesvorsitzenden des DHÄV gewählt. Beier stand bisher dem Bayerischen Hausärzteverband vor. Zu seinen beiden Stellvertreter:innen gekürt wurden Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfarth (90 von 118 Stimmen) vom Landesverband Baden-Württemberg und Dr. Ulf Zitterbart (112 von 117 Stimmen) vom Landesverband Thüringen.Beier kündigte an, zukünftig den Verband noch stärker als Team zu führen. Den vielfältigen Herausforderungen werde man geschlossen und in enger Zusammenarbeit mit den Landesverbänden entgegentreten. Neben der Bekämpfung der Corona-Pandemie würden unter anderem die Modernisierung und der Ausbau der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) sowie die Eindämmung investorenfinanzierter Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) im Zentrum der Verbandsarbeit stehen.Ulrich Weigeldt wurde unter großem Applaus verabschiedet. Die Hausärzt:innen in ganz Deutschland hätten ihm sowie Berthold Dietsche viel zu verdanken, nicht zuletzt als Wegbereiter der Hausarztzentrierten Versorgung, erinnerte der neue DHÄV-Chef Beier an die Leistungen des alten Vorstands. Im Anschluss an die Wahlen wurde Ulrich Weigeldt von der Delegiertenversammlung zum Ehrenvorsitzenden des Deutschen Hausärzteverbandes ernannt. Die regulären Wahlen zum Bundesvorstand werden dann 2023 stattfinden.



Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (10) Seite 30-32