Im Zuge des demographischen Wandels ist die Betreuung und Pflege älterer gesundheitlich beeinträchtigter Personen ein großer Teil des Versorgungssystems. Eine überwiegende Mehrheit der Pflegebedürftigen wird zu Hause von ihren Angehörigen versorgt (71 %). Nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) sind ca. 4,7 Millionen Pflegende Angehörige. Angehörige müssen die Pflege meist neben ihrem sonstigen Lebensalltag "nebenbei" bewältigen. Das kann schnell zur Überlastung führen. Hausärzt:innen sollten das im Blick haben.

FALLBEISPIEL - Koordiniertes Arzneimanagement tut not
Frau G. kommt mit ihrer Tochter in die Sprechstunde. Frau G. ist über 90 Jahre alt und hat Demenz seit mehreren Jahren. Die Tochter ist nicht mehr Vollzeit berufstätig und pflegt die Mutter zu Hause. Die Tochter ist dadurch extrem belastet, zumal zu Hause immer häufiger Aggressivität und Beschimpfungen vorkommen. Sie wirkt seit längerer Zeit erschöpft und unsicher und fürchtet, dass ihre Mutter nicht mehr allein bleiben kann. Zusätzlicher Unterstützungsbedarf wird vonseiten der Tochter nicht offen thematisiert, auch der betreuende Arzt bleibt in der Defensive.

Dabei hätte der Hausarzt hier schon längst intervenieren müssen. Zunächst muss er darauf hinweisen, dass es sich bei den Aggressionen und Beschimpfungen um Verhaltens- und psychische Symptome von Demenz handelt und sich diese nicht gegen die Tochter persönlich richten. Dann sollte er ganz konkret mögliche Entlastungssituationen durch Tagespflegeeinrichtungen und einen ambulanten Pflegedienst aufzeigen und ggf. in die Wege leiten. Und schließlich muss er mit der Tochter gemeinsam erörtern, wie sie als pflegende Angehörige die täglichen Herausforderungen im Alltag besser bewältigen und sich selbst so entlasten kann, dass die Mutter weiter im Team zu Hause betreut werden kann.

Problematisch für die pflegenden Angehörigen ist besonders, dass neben der eigentlichen Pflegetätigkeit häufig Krankheitssymptome hinzukommen, die mit den Veränderungen in der Persönlichkeit des Pflegenden einhergehen. Diese wiederum wirken sich auf die zwischenmenschliche Beziehungsebene zwischen Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen aus. Man verliert einen Menschen, wie er früher einmal war, unwiederbringlich, mit z. B. gelebten Gemeinsamkeiten, noch vorhandenen Plänen und vielleicht auch offenen Konflikten.

Pflege kann krank machen

Der (psychische) Stress für pflegende Angehörige erhöht sich noch weiter, wenn – wie so häufig – keine ausreichende Unterstützung vonseiten der Familie, des sozialen Umfeldes oder der Versorgungseinrichtungen vorhanden ist oder aber die geleistete Unterstützung nicht als hilfreich wahrgenommen wird. Das wirkt sich dann auch negativ auf die eigene Gesundheit aus. Über die Hälfte der pflegenden Angehörigen geben Rückenschmerzen und Muskelverspannungen an (52 %). Von größerer körperlicher Erschöpfung berichten pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz (58 %), gefolgt von Erkrankungen der Wirbelsäule (44 %), Bluthochdruck (35 %), Arthrose, Osteoporose oder Gicht (30 %) und Schlafstörungen (26 %). Das "Erkennen" dieser vielfältigen Problemlagen eines pflegenden Angehörigen ist die größte Herausforderung in der ärztlichen Versorgung.

Empfehlung aus der Leitlinie "Schutz vor Über- und Unterversorgung"

In den meisten Fällen zieht die Demenz eines Betroffenen die ganze Familie in Mitleidenschaft. Subjektiv leiden die An- und Zugehörigen häufig stärker unter der Demenz der Indexperson als die Betroffenen selbst. In der hausärztlichen Behandlung von Personen mit Demenz soll ein besonderer Fokus auf die spezifischen Risiken der übrigen Familienmitglieder als besonders vulnerabler Gruppe gelegt werden.

Wer ist in der Pflicht?

Die Verantwortung liegt bei den pflegenden Angehörigen selbst und insbesondere auf ärztlicher Seite. Auf der einen Seite sollte bei den Allgemein-
ärzt:innen die Aufmerksamkeit für die pflegenden Angehörigen als mögliche Patient:innen hoch sein: bei bestimmten Situationen nachfragen, Raum und Zeit für Kommunikation geben und Bedürfnisse der Angehörigen selbst immer wieder abfragen. Durch den Verweis auf praktische Hilfsangebote (Selbsthilfegruppen, Angebote von Wohlfahrtsverbänden, Essen auf Rädern, Tages-, Nacht-, Kurzzeit- oder Verhinderungspflege) kann dieser Prozess vonseite der Hausärzt:in erheblich unterstützt werden. Pflegende Angehörige wiederum müssen in erster Linie mehr auf sich selbst achten (ausreichend Schlaf/Erholung, gesund bleiben, Zeit für sich, Entlastungsmöglichkeiten) und es schaffen, ihre Situation immer wieder auch selbst zu hinterfragen.

Was muss sich ändern

In der primärärztlichen Versorgung sollte stets aktiv nach der aktuellen Pflegesituation gefragt werden. Grundlage dafür sind allerdings die Bereitschaft und auch die Fähigkeit des hausärztlichen Praxisteams, sich einzufühlen sowie Aufmerksamkeit, Gelassenheit, Interesse und Akzeptanz gegenüber den pflegenden Angehörigen zu zeigen und aktiv zuzuhören. Im Praxisalltag fällt das oft nicht leicht. Die unterschiedlichen Situationen und Umfeldfaktoren von pflegenden Angehörigen lassen allgemeingültige Aussagen zu Maßnahmen für eine bestimmte Personengruppe oder zu notwendigen Interventionen kaum zu. So individuell wie die einzelne Pflegesituation, der einzelne pflegende Angehörige mit seinem Wohn- und Lebensumfeld ist, so individuell, intensiv, langdauernd, interdisziplinär und praxisnah müssen die Interventionen zur Entlastung des pflegenden Angehörigen vonseiten der Hausärzt:in sein.

Dennoch gibt es einige Forderungen, die allgemeingültigen Charakter haben und die von der Politik dringend aufgegriffen werden müssen.
  • Wir brauchen von ärztlicher oder Praxisteamseite initiierte und wiederkehrende wertschätzende sowie auskömmlich finanzierte Gespräche zur Pflegesituation und Belastung pflegender Angehöriger.
  • Wir brauchen einen passgenauen Fragenkatalog für die praxisinterne Kommunikation.
  • Wir brauchen eine standardisierte Erfassung von manifes- ten Gesundheitsproblemen (z. B. Rückenschmerzen, Muskelschmerzen) und drohenden Gesundheitsproblemen (z. B. Depression, Erschöpfung, Gewalt gegenüber dem Pflegebedürftigen) der pflegenden Angehörigen.
  • Wir brauchen individualisierte pflegeentlastende Interventionen für pflegende Angehörige!

Viel zu viel und doch zu wenig
Ein ungesundes Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung wird auch in einer erstmals gerade für Allgemeinärzt:innen entwickelten DEGAM-Leitlinie zum Schutz vor Über- und Unterversorgung deutlich. Diese Leitlinie war auch der Aufhänger des 2021 im Elsevier Verlag erschienenen Buches "Viel zu viel und doch zu wenig" (ISBN: 978-3-437-24061-4) unseres langjährigen Autors und Kolumnisten Raimund Schmid und auch für diese Serie in doctors today. Im Rahmen der Serie zeigt der Herausgeber des Buchs in Kooperation mit den Autor:innen der Originalbeiträge am Beispiel systembedingter Defizite und einzelner Krankheitsbilder auf, was gegen die Fehlversorgung unternommen werden kann.



Autoren

Raimund Schmid

Dipl. Volkswirt und Medizinjournalist
63739 Aschaffenburg

Cathleen Muche-Borowski, Dorit Abiry, Martin Scherer,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin
20251 Hamburg
Eine Literaturliste ist über den Autor erhältlich.

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (11) Seite 30-31