Zeitdruck und Personalmangel können dazu führen, dass Arzt-Patienten-Gespräche sehr auf den Punkt hin geführt werden und Ärzt:innen nicht alle behandlungsrelevanten Infos erhalten. Kann Digitalisierung helfen?

Die Anamnese ist ein Eckpfeiler der Medizin. Sie ist der erste Kontaktpunkt zwischen Patient:innen und Ärzt:innen. Sie ist der initiale Wegbereiter für den Behandlungsprozess. Im Rahmen der Anamnese können Betroffene ihre körperlichen und seelischen Beschwerden schildern – im Optimalfall so detailliert wie möglich. Das ist essenziell, denn niemand weiß so gut, was los ist, wie die Patient:innen selbst. Das gilt sowohl für die aktuellen Beschwerden als auch für die Krankheitshistorie. Die Betroffenen können so alle Basisinformationen bereitstellen, die Hausärzt:innen zu Beginn der Behandlung benötigen.

Ein trichterförmiges Handwerk

Im Studium lernen Mediziner:innen die Grundlagen, mit jedem Jahr im Beruf meistern sie die Kunst des Erfragens der Krankengeschichte noch ein Stück besser – wenn sie die Zeit dafür bekommen! Neben medizinischem Fachwissen ist gelungene Kommunikation eine der Kernkompetenzen in der Gesundheitsversorgung. Der optimale Gesprächsverlauf ist trichterförmig: Die Ärzt:innen beginnen mit offenen Fragen und mit jeder neuen Info der Patient:innen engen sie den Verdachtsbereich ein Stück weiter ein. Das Ziel der Anamnese ist die Verdachtsdiagnose. Ab da gilt für Mediziner:innen: Die schlimmsten Szenarien ausschließen, die wahrscheinlichsten nachverfolgen – mit so wenig Folgeuntersuchungen wie möglich. Laut Forschung lassen sich nach einer ausführlichen Anamnese bereits 80 % der Diagnosen stellen. Wenn die Ärzt:innen also genug Zeit für das erste Gespräch haben, können sie sich ein gutes Gesamtbild verschaffen – das hilft ihnen dann den bestmöglichen medizinischen Weg einzuschlagen.

Das steckt dahinter

Obwohl die Anamnese so essenziell ist, kann ihr volles Potenzial in der Praxis oft nicht ausgeschöpft werden. Hausärzt:innen müssen effizient arbeiten und die Besprechungszeiten reichen meist nicht für ein ausführliches Erstgespräch aus. Durch den Zeitdruck werden dann u. U. verstärkt Suggestivfragen gestellt. Diese können ein Gespräch in eine falsche Richtung lenken, denn Patient:innen neigen dazu, ihren Ärzt:innen zuzustimmen, auch wenn das Gesagte nicht ganz stimmt. Fragt eine Ärzt:in z. B.: "Haben Sie nach der Einnahme der Tabletten Übelkeit gespürt?", werden voraussichtlich mehr Befragte von diesem Symptom berichten, als wenn sie gefragt werden: "Wie haben Sie die Tabletten vertragen?" Auch kann es passieren, dass Ärzt:innen das Gespräch notgedrungen zu schnell auf ihre Verdachtsdiagnose zuspitzen. Diese zügige Zuspitzung führt häufig zu richtigen Ergebnissen – gerade bei viel Berufserfahrung. Dennoch birgt sie das Risiko, relevante Symptome bzw. Umstände nicht zu erfassen. Besonders wenn Mediziner:innen ihre Patient:innen unterbrechen müssen, um schneller zum Ende des Termins zu kommen, können Informationen untergehen. Eine Studie hat gezeigt, dass Patient:innen durchschnittlich zwei Minuten brauchen, um die wichtigsten Themen anzusprechen – Ärzt:innen unterbrechen sie aber im Schnitt bereits nach 23 Sekunden. Der Zeitmangel kann auch zu mentalem Druck und Unsicherheit auf Patientenseite führen. So kann es passieren, dass Betroffene in der Sprechstunde nicht alle nötigen Infos bei sich selbst "abrufen" können. Nach dem Arztbesuch denken sie dann z. B. "Hätte ich noch diesen veränderten Umstand in meinem Leben erwähnt, wäre die Diagnose dann anders ausgefallen?" Diese Unsicherheit sollte vermieden werden. Besonders schwierig ist die kurze Besprechungszeit bei Sprachbarrieren.

Digitalisierung als Stütze

Die medizinische Lehre sagt uns: Die Anamnese soll mündlich erfolgen. Ohne Frage, mit genug Erfahrung und Zeit ist das die optimale Lösung. Leider mangelt es gerade in der Hausarztpraxis oft an der dafür notwendigen Zeit. Daher können Ärzt:innen gut beraten sein, schriftliche Kommunikation in den Prozess zu integrieren. Ein erster Schritt sind Patienten-Fragebögen auf Papier – zeitgemäß sind sie nicht. Papier-Fragebögen sind nicht adaptiv. Sie reagieren auf die Antworten der Befragten nicht mit den passenden Folgefragen. Jede Person bekommt die gleichen Fragen – patientenzentrierte Behandlung sieht anders aus. Zudem müssen die Infos vom Papierbogen zur Dokumentation händisch digitalisiert werden, was Zeit kostet und Fehlerquellen durch falsche Übertragung mit sich bringt.

Digitaler Lesetipp
Im E-Book "Digitalisierung in Hausarztpraxen – Best Practices aus der Praxis" berichten Mediziner:innen, wie sie digitale Tools im Praxisalltag erfolgreich einsetzen.

Fazit

Zielführender sind digitalisierte Prozesse, optimalerweise integriert in die Praxissoftware. Arztpraxen werden so mit intelligenten Fragebögen unterstützt, die von den Patient:innen in Ruhe zu Hause ausgefüllt werden können. Den Hausärzt:innen liegen die wichtigsten Informationen schon vor der Sprechstunde vor, so dass sie das Gespräch an der Spitze des Trichters beginnen können. Neben dem Vorteil, mehr Daten für die Behandlung zu haben, bekommen digital unterstützte Ärzt:innen auch mehr Zeit. Eine Studie zeigt: Mediziner:innen können mit einem solchen Programm (in der Studie im Einsatz: die Software Idana) im Schnitt ca. zehn Stunden Arbeitszeit pro Monat sparen. Die Befragung am Bildschirm ist im Smartphone-Zeitalter für fast alle Menschen und an jedem Ort durchführbar. Im Vergleich können Ärzt:innen so mehr Daten sammeln. Hinzu kommt: Im "Gespräch" mit dem Computer äußern sich Patient:innen teils freier über Stuhlgang, Mundgeruch oder psychische Beschwerden. Nicht zuletzt kann die digitale Befragung auch bei sprachlichen Schwierigkeiten weiterhelfen.


Literatur:
1. Measuring customer satisfaction and customer value for start-ups in the transition age, 2021: Masterarbeit am Karslruher Institut für Technologie


Autorin

© privat
Dr. med. Lilian Rettegi

CEO bei der Tomes GmbH
Website: www.idana.com



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (3) Seite 24-25