Unsere pluralistische Gesellschaft zeichnet sich durch kulturell-religiöse Vielfalt aus, die sich auch im Gesundheitswesen widerspiegelt. Das ist eine große Herausforderung, aber auch eine Chance, die sprechende Medizin mehr in den Fokus zu stellen. Denn solch eine Gesellschaft braucht vielfältige Konzepte sowie transkulturelle Teams und regelmäßigen Austausch, damit die individuelle Kommunikation funktionieren kann.

Insbesondere bei Patient:innen mit Migrationshintergrund haben kultursensible Kommunikation und transkulturelle Kompetenz eine große Bedeutung als wichtige diagnostisch-therapeutische Instrumente.

Beziehungspflege im Mittelpunkt

Betrachtet man die sozial eher schlechtgestellten Schichten in ihren jeweiligen Herkunftsländern, ist die allgemeine Versorgung dort schwach ausgeprägt. Auch dadurch spielen die Abhängigkeit der Menschen untereinander, Beziehungsarbeit und Beziehungspflege eine besondere Rolle. Familie und Verwandte gelten als Lebensversicherung. Ist ein Familienmitglied krank, geht das die ganze Familie an. Daher sollte man die Beziehungsmedizin und die Familie als Ressource für das Therapiekonzept nutzen. Für Personen aus Familiengesellschaften mit einem Migrationsbezug ist außerdem Harmonie untereinander sehr wichtig. Meinungen werden nicht in ICH-Form, sondern eher in WIR-Form höflich, indirekt, zweideutig und im Allgemeinen geäußert. Das kann in der Arzt-Patienten-Kommunikation zu Missverständnissen führen. Über die Pflege der Beziehungsarbeit wird das Leiden der Betroffenen besser identifiziert und begrenzt. Eine wichtige Basis für die individuell erfolgreiche Therapie.

Strukturen geben Sicherheit

Bei der Diagnose spielt die regionale, religiöse und schichtspezifische Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationsbezug eine unterstützende Rolle. Dabei gilt es, Verallgemeinerungen, die zu Vorurteilen führen können, zu vermeiden. Die Strukturen in Familien mit Migrationsbezug v. a. aus ländlichen Regionen sind z. B. oft hierarchisch bzw. geschlechts- und generationsspezifisch. Gleichzeitig werden Harmonie und Zusammenhalt durch Respekt und Gehorsamkeit gepflegt und erwartet. Der Vater und die Ältesten nehmen den obersten Rang ein, sie haben höchste Autorität. Sie geben die Richtung an und werden bei Konfliktsituationen eingeschaltet. Diese "Macht" regelt alle Belange nach innen und nach außen. Probleme werden in der Familie besprochen, nicht nach außen vermittelt. In Individualgesellschaften werden diese Hierarchieebenen, insbesondere die Macht des Vaters, häufig infrage gestellt, das verunsichert ihn in seiner Rolle. Gleichzeitig sind Eltern bei Krankheiten in der Fremde oft auf die Unterstützung und Übersetzungsarbeit ihrer Kinder angewiesen. Die Kinder wiederum leiden vielfach unter mangelnder Autonomie und Abhängigkeitssymptomen innerhalb starrer Familienstrukturen. Sie sitzen zwischen den Stühlen, wodurch für die behandelnden Hausärzt:innen hier auch psychosomatische Störungen an Bedeutung gewinnen.

Krankheitsverständnis und Erwartungen

Da es in vielen Herkunftsländern wenig Aufklärung, Prävention und kaum Zugang zu medizinischen Angeboten gibt, geht man dort nur bei akuten Beschwerden zur Ärzt:in. Gleichzeitig wird Schmerz als Bedrohung und mit hohem emotionalem Ausdruck wahrgenommen und kommuniziert, nicht organbezogen, sondern ganzheitlich. Oft heißt es dann: ÜTW = überall tut (es) weh. Im Arzt-Patienten-Kontakt wird von diesen Patient:innen neben einer netten Begrüßung auf Beziehungsebene auch eine Frage nach dem Befinden der Familie erwartet. Das gilt als Zeichen der Kompetenz, ansonsten wirkt man schnell kalt und distanziert. Das medizinische Personal wiederum benötigt eine kurze, möglichst genaue Beschreibung der gesundheitlichen Probleme. So begegnen sich beide Seiten mit völlig unterschiedlichen Erwartungen. Zuerst sollte daher die Beziehungsebene aktiviert werden, um die Sachebene effizient angehen zu können. Patient:innen wundern sich ansonsten, dass man sich nur für die Sache interessiert. Funktioniert die tragende Beziehung, werden auch die vereinbarten Maßnahmen gut umgesetzt.

Beispiel: Überforderung

Eine Patientin, 50 Jahre alt und Mutter von drei Kindern, kommt mit ihrem erwachsenen Sohn in die Praxis. Sie hat überall starke Schmerzen und Schwindel, der linke Oberarm brennt, manchmal fühlen sich die Beine komisch an. Oft hat sie Magendruck und Rückenschmerzen, auch vor sechs Monaten gab es ähnliche Beschwerden. Die Ärzt:in schaut sich die Vitalparameter an, dann ist erst einmal Entspannung angesagt. Fazit der Ärzt:in gegenüber der Patientin: "Ich verstehe das gut. Mütter leisten viel Arbeit, Kinder, Kochen, Schule und Haushalt." Die Patientin fühlt sich verstanden, ein Ventil für die Überforderung im Alltag wird geschaffen". Dennoch bedarf jeder Fall eine gründliche Untersuchung.Menschen mit Migrationsbezug leiden eher somatisch als psychisch, erst recht, wenn Sprachbarrieren bestehen und sie sich nicht trauen, Fragen zu stellen. Hier kann es helfen, Sprachbilder zu deuten und die kulturellen Hintergründe zu berücksichtigen. Psychische Erkrankungen sind z. B. in vielen Kulturen immer noch ein Tabu. Gerade Frauen nutzen dann unbewusst körperliche Symptome, um mangelnde Konfliktlösung in starren Familienstrukturen zu kompensieren. Da es oft wenig andere Bewältigungsmöglichkeiten gibt, kann eine psychosomatische Erkrankung als Ausweg erscheinen.

Beispiel: Familienbesuch

Fünf Familienmitglieder kommen in die Praxis, zusätzlich zu den Eltern und dem Jungen als Patient (18 Jahre alt). Dieser hat seit zwei Tagen Fieber wegen eines viralen Infektes: Er isst wenig, hat Kopfschmerzen, ist schlapp. Die MFA begrüßt alle freundlich, richtet den Blick dann zum Vater: "Wer ist heute krank?" Seine Antwort: "Der Sohn." Die MFA kann nun kurz positiv vermerken, dass der Junge von der Familie begleitet wird. Dann macht sie klar: Wir konzentrieren uns auf diesen, damit er schnell wieder gesund wird. Die Mutter kann bleiben, die anderen haben wertvolle Unterstützung geleistet und können nach Hause. In kollektivistischen Kulturen gehen oft mehrere Familienmitglieder mit in die Praxis, um den Betroffenen nicht allein zu lassen. Nimmt man sich Zeit, alle kurz mit Blickkontakt zu begrüßen, sind sie meist beruhigt. Oft sind diesen Menschen die Abläufe in der med. Versorgung nicht klar, z. B. bei der Aufklärung zu Diagnostik und Therapie sowie der Terminvergabe.

Beispiel: Ärzt:innen als Respektspersonen

Eine 42 Jahre alte Patientin, eine adipöse Analphabetin, kommt wegen Verschlechterung ihres Allgemeinzustands mit Diagnose Colitis ulcerosa in die Praxis. Die Therapie mit Azathioprin helfe, sie könne aber wegen ihrer schlechten Leberwerte das Medikament nicht mehr nehmen. Nach einem wertschätzenden Gespräch mit der Patientin über eine erfolgreiche Gewichtsabnahme kann die Therapie mit dem Medikament zeitnah wieder aufgenommen werden, die individuell als schlecht empfundenen Leberwerte normalisieren sich. Oft wird die therapeutische Wirkung von Mediziner:innen als Respektsperson gerade bei dieser Patientengruppe unterschätzt. Wenn Kommunikationsprobleme durch Sprachbarrieren oder Vorbehalte (Adipositas) überwunden sind, steigert ein empathisches Gespräch die Compliance auf Patientenseite. Auch mehrsprachige Teams sind hier eine große Hilfe.

LESETIPP - Interkulturelle Medizin und Kommunikation
Das Buch "Interkulturelle Medizin und Kommunikation: Transkulturelle Kompetenz und Resilienz fördern die Integration" richtet sich an alle med. Fachkräfte, die sich für Gesundheit in der Einwanderungsgesellschaft und den Fragenkomplex Migration interessieren (ISBN 3743123371).

Beispiel: Beziehungsebene versus Sachebene

Ein Patent mit Migrationshintergrund, 21 Jahre alt, war bis vor kurzem in Haft. Der Arzt erfährt aus dem Computer: unfreundlich und aggressiv, will Medikamenten und sonst nichts. Es geht darum, eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit für eine empathische Beziehung zu schaffen, in der sich dieser Mensch angenommen fühlt. Solche Personen erfahren oft Vorurteile und Ausgrenzungen und reagieren dann mit Abwehr. Funktioniert die Beziehungsarbeit mit Interesse an Biographie und Ressourcen, regelt sich die "Sache" problemlos.

Kulturspezifische Syndrome

Oft werden bei dieser Personengruppe Organe als symbolischer Ort der Störung genannt, so z. B. in der Türkei, im Iran und in Frankreich eine "brennende Leber" bei Verlust, Trennung und Trauer. In Deutschland spricht man z.B. vom gebrochenesnen Herzen. Auch andere Organe werden symbolhaft als geschwollen, gefallen oder verrutscht beschrieben, um eine Brücke zum seelischen Zustand herzustellen. Je besser das individuelle Leiden "verstanden" wird, umso mehr fühlen sich gerade diese Patient:innen in ihren Sorgen bestätigt und kompetent betreut. Aber Achtung: Die Vorstellungen über das schnelle Heilen durch Medikamente stehen im Gegensatz zu einer geringeren Compliance bei chronischen Erkrankungen. Vor allem dort, wo auf den ersten Blick nichts wehtut, wie bei z. B. bei Diabetes oder Bluthochdruck, wird die dauerhafte Einnahme oft nicht weitergeführt. Bei chronischen Erkrankungen sollten daher z. B. schon beim ersten Gespräch die Folgetermine festgesetzt werden.

Transkulturelle Kompetenz

Leider werden transkulturelle Kompetenzen in den aktuellen medizinischen Ausbildungen bzw. Studiengängen kaum vermittelt. Auch gibt es in diesem Bereich keine einheitlichen Strukturen oder Leitlinien, die hier mehr Sicherheit bei der täglichen Arbeit in der Praxis bieten. Vor diesem Hintergrund ist es höchste Zeit für umfassende strukturelle und personelle Öffnungen im Gesundheitswesen! Insbesonde re mehr Menschen im medizinischen Sektor mit eigener Migrationserfahrung könnten wertvollen Input für die erfolgreiche Arzt-Patienten-Kommunikation liefern.


Literatur:
1. Dr. Ali Kemal Gün: Interkulturelle therapeutische Kompetenz, 2017
2. Ledochowski M. et al.: Wegweiser Nahrungsmittelintoleranzen: Wie Sie Ihre Unverträglichkeiten erkennen und gut damit leben. Trias, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-8304-3474-0; 2. Auflage, 2014



Autor

© privat
Dr. agr. Dr. med. Rahim Schmidt

Buchautor und MdL a.D.;
Uniklinikum Mainz; Lehrbeauftragter am Uniklinikum Marburg
Seminare, und Supervision z.B. zu Teamarbeit, Kritikkultur, Migrantenmedizin, Gesundheitsprävention sowie transkultureller Kompetenz

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (9) Seite 54-56