Die Digitalisierung hält immer mehr Einzug in die Praxen. Doch dies geschieht nicht immer freiwillig, denn nach und nach werden z. B. die Anwendungen im Rahmen der Telematikinfrastruktur verpflichtend. Auch werden einige digitale Möglichkeiten von Patientenseite geschätzt und müssen sich zwangsläufig in den Praxen etablieren, u. U. schon allein aus einem Servicegedanken heraus. Wie schaffen die Hausärzt:innen die Gratwanderung zwischen den Chancen bzw. dem Nutzen für die eigene Praxis und den Risiken der Digitalisierung? Dr. med. Marcus Berg, hausärztlicher Internist in Nieder-Olm, berichtet von seinen Erfahrungen.

Schon bei Gründung meiner Praxis vor nunmehr 10 Jahren hatte ich mich für eine digitalisierte Patientenakte entschieden. So haben wir eine papierlose Praxis eingeführt, soweit dies eben praktisch möglich ist. Die eigenen Befunde werden direkt in der Akte der Patient:innen dokumentiert, unterstützt durch ein Spracherkennungssystem, was eine sehr genaue und präzise Dokumentation ermöglicht. Ultraschallbilder oder Filme, wie etwa die Echokardiographien, können im Original in der Patientenakte gespeichert werden. Gleiches gilt für EKG, Lungenfunktion und alle weiteren technischen Untersuchungen. Diese Technik erlaubt einen schnellen Zugriff auf die Patientendaten und ermöglicht einen guten Vergleich von Befunden. Hier stellt die Digitalisierung eine Erleichterung unserer ärztlichen Tätigkeit dar.

E-Mail: schafft Freiräume – und raubt sie wieder

Auch haben wir das Bestellen von Rezepten und Überweisungen sowohl per E-Mail als auch über Kontaktformulare auf der Homepage ermöglicht. Das entlastet nicht nur unsere Telefonanlage, sondern ermöglicht auch, dass wir diese Tätigkeiten abarbeiten können, wenn freie Zeiträume vorhanden sind.

Die Möglichkeit, uns über E-Mail zu erreichen, erfreut sich bei vielen Patient:innen großer Beliebtheit und macht auf der anderen Seite die Probleme dieses Kommunikationsweges deutlich. Viele Patient:innen kommen jetzt nicht mehr in die Praxis, sondern schreiben teils seitenlange E-Mail-Texte, gespickt mit Fragen und Erwartungen. Hier kommt man in der hausärztlichen Praxis sehr schnell an seine Belastungsgrenze. Zudem entsteht eine Erwartungshaltung, dass jede E-Mail auch innerhalb von wenigen Stunden beantwortet werden muss.

Auch die Online-Terminvergabe, welche von Patient:innen begrüßt wird, hält die ein oder andere Tücke bereit. Nicht bis ins letzte Detail durchdacht kann ich als Arzt ein wesentliches Steuermoment, was die Finanzierung meiner Praxis und meine Tätigkeit angeht, verlieren. Manche Patient:innen sind nun einmal der unumstößlichen Ansicht, dass man ihre Probleme nicht oft genug besprechen kann und sind beseelt von der Überzeugung, ein nicht aufschiebbarer Notfall zu sein. So buchen sie einen um den anderen Termin und blockieren damit wichtige Termine für andere, die wirklich dringlich einen Termin benötigen. Darüber hinaus kann man die Steuerungsmöglichkeiten verlieren, Untersuchungen anzubieten, die für den finanziellen Erfolg der Praxis unerlässlich sind.

Sehr kritisch bewerte ich die Videosprechstunde. Sie ist geeignet, Endbefunde zu besprechen, wie z. B. Röntgen oder Labor, völlig ungeeignet ist sie in der Diagnosefindung, da der Ärzt:in über diesen Weg wesentliche Informationen vorenthalten werden und die Gefahr von Fehldiagnostik drastisch ansteigt. Zudem verstärkt sich dadurch der Trend, dass Patient:innen nicht mehr körperlich untersucht werden. Es braucht nach meiner persönlichen Erfahrung und Philosophie die ganze Person, um helfen und heilen zu können. Wie so oft ist die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung effektiver und besser als ein schnell verschriebenes Medikament.

Viele Patient:innen haben im digitalen Zeitalter den Wunsch, ihre Patientenakte selbst zu verwalten. Auch das sehe ich sehr kritisch. Kommen doch viele Patient:innen mit der medizinischen Fachsprache nicht gut zurecht, da ihnen die Möglichkeit der Wertung durch Erfahrung fehlt. Ungenommen ist der Patient:in natürlich die Einsicht in ihre Akte unter Ausnahme der höchstpersönlichen Notizen des Behandlers.

Manche Entwicklung scheitert an der Technik

Eine sinnvolle Erweiterung der Digitalisierung wäre sicherlich das Übermitteln von Fremdbefunden und Arztbriefen direkt in die Akten hinein, was jedoch aufgrund der unterschiedlichen Software-Systeme und Schnittstellen als auch hinsichtlich der Datensicherheit auch in Zukunft noch eine große Herausforderung sein wird. Hier gibt es die ersten Versuche, ein Kommunikationsnetz innerhalb der Ärzteschaft aufzubauen, aber die technischen Voraussetzungen sind so komplex, dass es noch lange dauern dürfte, bis sie zum Erfolg führen.

Hinweisen möchte ich auch darauf, dass eine stets komplexer werdende Digitalisierung einen stetig ansteigenden Bedarf an Software- und Hardwarekomponenten nach sich zieht. Je komplexer das System, desto störungsanfälliger, wartungs- und kostenintensiver. Die Stundenlöhne in der EDV unterliegen nicht dem EBM, wie manche Kolleg:in schon schmerzlich erfahren mussten. Versagt die Technik, ist man zudem komplett handlungsunfähig. Die finanziellen Belastungen und das Unverständnis der Patient:innen können Praxen bis in die Existenznot bringen, wie wir an den Problemen der Telematikinfrastruktur (TI)-Verbindung sehen konnten. Immer wieder kann man erleben, dass die Digitalisierung von Politik, Kassen und KV vorangetrieben wird, ohne dass eine ausgereifte, störungsfreie technische Umsetzung erprobt ist. Als aktuellstes Beispiel wäre die eAU zu nennen. Kommt es hier zu technischen Störungen – und das scheint mir erwartbar – wird das drastische Probleme im Praxisablauf generieren.

Gesundheitskarte: zusätzliche Verwaltungsarbeit

Die Speicherung von Medikamentenplänen, Befunden und Arztbriefen auf der Gesundheitskarte führt zu einer Zunahme der Verwaltungsarbeit in den Praxen. Es reicht nicht, die Daten einmalig zu speichern, man muss sie stetig aktualisieren. Dies bedeutet, dass neben dem schriftlichen Medikamentenplan von der Ärzt:in auch die Aktualisierung auf der Karte vorgenommen und elektronisch signiert werden muss. Der resultierende Arbeitsaufwand ist nicht zu unterschätzen, da Veränderungen auch durch Facharztkonsultationen oder stationäre Behandlungen notwendig werden. Die Vergütung wird nicht kostendeckend sein, da dieser Zeitaufwand vom Arzt zu tragen ist.

So glaube ich, dass wir uns auf den Weg begeben sollten, auch weiterhin offen für moderne Digitalisierungstechniken zu sein, andererseits kritisch Technologien gegenüberzustehen, die uns von unserer eigentlichen Arbeit an den Patient:innen wegführt oder problematisch hinsichtlich des Schutzes der Gesundheitsdaten sind. Ferner sollte man immer Kosten, Nutzen und vor allem die Laufstabilität im Blick behalten. Nicht alles, was technisch möglich ist, muss auch sinnvoll im Praxisalltag sein. So ist die Digitalisierung im Gesundheitswesen wie überall Fluch und Segen zugleich. Sie sollte weiterentwickelt, aber ebenso stetig kritisch überprüft werden. Eine komplette Digitalisierung der hausärztlichen Medizin wäre eine weitgehende Abkehr von Werten und Zielen, für die ich als Arzt stehe.|



Autor Dr. med. Marcus Berg


Hausärztlicher Internist
55268 Nieder-Olm

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (3) Seite 56-57