Die Digitalisierung erreicht nun auch den letzten Winkel des Gesundheitssektors und das über die volle Breite der Endnutzer:innen. Wie können Ärzt:innen reagieren?

Alleine die Zahl der „Wearables“ wie Fitnessarmbänder oder Smartwatches ist in wenigen Jahren auf rund eine halbe Milliarde angewachsen und der Trend steigt ungebrochen. Diese Geräte erzeugen auf den Servern weniger Hersteller täglich u. a. eine bisher nie gekannte Menge an Gesundheitsdaten.

Während wir uns oft in einem zähen Kampf mit der Digitalisierung von Verwaltungsprozessen wie denen innerhalb des Gesundheitswesens verlieren, sollten wir die Dimension der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nicht aus den Augen verlieren.

Denn die Entwicklung verläuft mit einem rasanten Tempo: Von der Medien- bis zur Reisebranche spricht man inzwischen von "digitaler Disruption", also von der Verdrängung bestehender Dienstleistungen, Produkte oder Geschäftsmodelle durch digitale Innovationen. Hier haben große Digitalkonzerne bekanntlich ganze Sektoren überrollt. Leider reagieren viele in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft immer noch zu träge auf die erkennbaren Veränderungen in weiteren Bereichen. Die Automobilbranche wacht gerade auf, für viele Entwicklungen bereits zu spät. Die Finanzindustrie konnte bisher keine einzige der agilen Fintech-Ideen selbst realisieren und der Gesundheitssektor sollte sich spätestens mit den erkannten Defiziten aus der Corona-Krise dringend bewegen!

Disruption: Das steckt dahinter

Die Grundlage der digitalen Revolution bildet innovative Technologie, die nichts Geringeres erlaubt, als Prozesse bis zum Endgerät von einigen Milliarden Endkund:innen, also auch der Patient:innen, aus einer Hand vollständig zu automatisieren. Diese Dimension ist bei fast allen Feldern, in die sich die Digitalisierung entwickelt, das Maß der Dinge. Der größte Innovationstreiber sind Daten, deren Bedeutung zwar immer wieder erwähnt wird, jedoch oft ohne tieferes Verständnis. Ein gutes Beispiel ist hier der Google-Maps-Dienst: Hier werden in Echtzeit die Bewegungsdaten von Milliarden Android-Endgeräten ermittelt, wodurch unerreichbare Berechnungen über den Verkehrsfluss möglich werden. Kein Hersteller von Navigationsgeräten kann mithalten, denn diese Daten hält Google exklusiv. Das Beispiel erläutert die erste Bedeutung, die den Daten oft zukommt: Wir reden allgemein über Daten, dabei kommt es für bestimmte Lösungen darauf an, ob die dafür erforderlichen Daten in einer relevanten Menge vorhanden sind – und das trifft oft auf nur einen Anbieter zu, weltweit.

Die modernen Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) sind oft selbst für Fachleute ausgesprochen komplex, die meisten Menschen können das nicht mehr nachvollziehen. Auch hier hilft ein gewisses Grundverständnis: Moderne KI-Algorithmen haben mit dem, was Computerpioniere wie Zuse einst mit "Datenverarbeitung" konzipierten, nicht mehr viel zu tun. Inzwischen sind Algorithmen und Daten zu einer nicht trennbaren Einheit geworden. Algorithmen lernen aus den Mustern in Daten, die daraus resultierenden Reaktionen einer KI-Maschine werden primär durch die Daten selbst bestimmt, weniger durch die sie analysierenden Verfahren.

So hat die Google-Suchmaschine "gelernt", uns nach bereits drei eingetippten Buchstaben Vorschläge zu zeigen, was wir ganz persönlich tatsächlich wissen wollen. Das ist auch der Fall, wenn Patient:innen dort nach der passenden Krankheit zu ihren Symptomen suchen. Eine passgenaue Suche kann nur über die schiere Menge an Daten gelingen, die Qualität der Lösung resultiert in der KI aus der Quantität von Daten und der Kompetenz bei deren Verarbeitung. Letzteres kann man lernen, dabei gibt es ausreichend Wettbewerb. Ersteres ist oft ein nur sehr kurzes Spiel um die führende Rolle.

Droht das auch im Gesundheitswesen?

Ein Grund für den Rückstand Europas ist der Umgang mit dem Datenschutz. In der vorliegenden Form ist das ein unsere Zukunft gefährdender Irrweg. Technologisch sind die innovativsten digitalen Lösungen ohne eine umfassende Nutzung von Daten unmöglich. Die Einschränkung der Datennutzung verhindert diese Lösungen nicht, sie werden vielmehr in andere Regionen verdrängt.

Das unstrittige Ziel, den Missbrauch von Daten zu verhindern, muss anders gelöst werden, sonst werden uns auch im Gesundheitswesen bald wieder Lösungen von US-Konzernen oder vielleicht auch aus China angeboten, denen auch die Nutzer:innen in Europa gerne die Genehmigung zur Datennutzung erteilen, weil sie die damit verbundenen unverzichtbare Services nutzen möchten. Die Datenschützer:innen sollten erkennen, dass die Kraft attraktiver Lösungen letztlich überwiegt, denn das Verhalten der angeblichen "einfach gestrickten" Nutzer:innen von Google & Co. ist rational absolut begründet.

Das gilt insbesondere deshalb, weil zwei weitere relevante Treiber der Digitalisierung hinzu kommen: Diese bezeichnen Ökonom:innen als Netzeffekte und mehrseitige Märkte. Netzeffekte entstehen, wenn ein Angebot für einen Verbraucher:innen umso attraktiver wird, je mehr andere es nutzen. Bei einem Glas Erdbeermarmelade achten wir nur auf unseren persönlichen Geschmack. Bei Kommunikationsdiensten wie denen des Facebook-Universums ist es uns hingegen wichtig, möglichst viele andere Nutzer:innen anzutreffen. Das gilt letztlich aber für alle digitalen Ökosysteme: So verwenden wir nur noch Android oder Apple, weil wir auf diesen Plattformen viele Apps, Services und Inhalte vorfinden. Das aber ist nur deswegen der Fall, weil deren Anbieter dort so viele Nutzer:innen erreichen. Man spricht auch von viralem Wachstum, und das ist nicht ganz falsch, denn wenn diese Netzeffekte einmal in Gang kommen, sehen wir oft ein exponentielles Wachstum an Nutzer:innen, Services und Angebotsvielfalt.

Dieses Wachstum wird dann durch das Konzept der mehrseitigen Märkte begünstigt. Dessen Bedeutung wird von vielen in Wirtschaft und Politik unterschätzt. Gemeint ist damit das Prinzip, mehrere Märkte durch die Funktion eines Vermittlers (Fachbegriff: Intermediär) zu verbinden. Hierbei werden die Angebote in einem Markt oft durch die Erlöse in einem anderen subventioniert. Das häufigste Beispiel sind die durch den Werbemarkt vollständig subventionierten, für die Endverbraucher:innen dadurch kostenlosen Services wie z.B. die Google-Dienste oder die von Facebook/WhatsApp.

Verweigerung ist keine Lösung

Die Kombination aus datengetriebenen Technologien, sich selbst beschleunigenden Netzeffekten und oft vollständig subventionierten Preisen führt in vielen Märkten zu dem Prinzip "the winner takes it all", also zu einer Monopol- oder bestenfalls Oligopolbildung – und zwar auf dem Weltmarkt. Die führenden Plattformen erreichen inzwischen mehr als drei Milliarden Menschen weltweit und sind in den jeweiligen Kernmärkten wie Suche (Google) oder Kommunikation (Facebook) nahezu konkurrenzlos. Der Vergleich der Börsenwerte zeigt sowohl die amerikanische Dominanz als auch den Rückstand Europas: Während die dominierenden Plattformen aus den USA Börsenbewertungen von bis zu zwei Billionen Euro erreichen, liegt der führende europäische Digitalkonzern SAP bei knapp 150 Milliarden. Zudem haben die Unternehmen Europas nichts mit der gesellschaftlich relevanten Massenreichweite bei Endkund:innen zu tun. Die Bürger:innen Europas bedienen sich bei US-Plattformen.

Die Trends im Gesundheitsmarkt

Vieles spricht dafür, dass wir diese Entwicklungen auch im Gesundheitssektor sehen werden, wobei die Corona-Krise den Trend beschleunigen wird. Die großen US-Plattformen sind bereits unterwegs. Diese investieren zwar in alle möglichen Technologien und Geschäftsideen, aber wenn sie mit größeren Summen auffallen, sehen wir einen zuverlässigen Indikator für einen Trend, der bald Relevanz für die entsprechenden Märkte haben wird. Deren interne Projekte sind nicht transparent, aber man kann erkennen, welche Prioritäten sie bei ihren Beteiligungen setzen. So haben sie bereits seit Jahren jährlich zwischen 1,5 und 2 Milliarden US$ in Unternehmen des Gesundheitssektors investiert, um das mit der Corona-Krise auf 3,5 Milliarden US$ aufzustocken. Auch die Zahl der sogenannten "Unicorns", das sind Neugründungen mit einer Bewertung oberhalb einer Milliarde US$, hat sich von 38 im Jahr 2019 auf 73 im Jahr 2021 ebenfalls fast verdoppelt.

Die Welt investiert nach Corona in den Gesundheitssektor und der Digitalsektor ist ganz vorne dabei. Spätestens mit den Wearables ist das Thema nun auch bei den Verbraucher:innen bzw. Patient:innen angekommen. Diese Geräte generieren bereits heute täglich unvorstellbare Mengen an Gesundheitsdaten, die auf den Servern von sehr wenigen Herstellern konzentriert erfasst und immer besser ausgewertet werden. Betrachtet man diese mächtigen Trends, so empfehlen Expert:innen zunehmend, die Konzentrationsprozesse auf weltweit führende Anbieter nicht verhindern zu wollen, weil das gar nicht gelingen kann, sondern sie vielmehr zu integrieren. In diese Richtung tendieren auch vollkommen zu Recht die jüngsten Konzepte der EU-Kommission namens "Digital Data Act" und "Digital Markets Act", deren Idee darin besteht, diese Plattformen zu regulieren, und nicht mehr, sie zu verhindern. Ein weiter Weg, aber er ist richtig. Er setzt sowohl seitens der Politik als auch eines jeden Einzelnen von uns ein Umdenken voraus. Gerade im Gesundheitssektor muss unser Interesse darin bestehen, die Nutzung der Daten im Sinne besserer Lösungen zu erschließen und zugleich deren Missbrauch zu verhindern. Das ist umso wichtiger, als der "natürliche" Weg der Digitalisierung wahrscheinlich darin besteht, die potentesten Geschäftsmodelle zu erschließen und dafür die passenden Endgeräte und Dienste anzubieten. Wenn man Teile der Investments der großen US-Plattformen betrachtet, so finden sich dort digitale Krankenversicherungsmodelle sowie der Vertrieb von Pharma- und Gesundheitsprodukten. Das ist kaum eine erstrebenswerte Refinanzierung für unsere diagnostische Zukunft!

Die Deutungshoheit über Gesundheitsdaten nicht aus der Hand geben

Wir sollten daher nicht den Irrtum wiederholen, zu versuchen, dieses massenhafte Entstehen von Gesundheitsdaten zu verhindern. Das passiert bereits und diese Daten "auszusperren" wäre maximal kontraproduktiv. Wir müssen vielmehr im Gegenteil die Deutungshoheit über diese Daten beanspruchen. Das setzt aber voraus, sie anzunehmen, sie aktiv zu nutzen und bei der Auswertung das Vertrauen der Patient:innen zu erobern. Das setzt wiederum nicht nur eine praktikable Regulierung voraus, die Nutzung dieser Daten zu ermöglichen. Es darf auch keine Ablehnungshaltung in der Praxis geben, das würde nur den großen Anbietern in die Karten spielen, die so nicht aufzuhalten sind.

Wenn wir die kommenden Gesundheitsapps der großen digitalen Ökosysteme aus der ärztlichen Praxis aussperren, sperren wir im Gegenteil unsere diagnostische Hoheit aus und treiben die Nutzer:innen digitaler Lösungen noch mehr in die Arme derjenigen, die ohnehin 24 h am Tag mit nützlichen und oft kostenlosen Angeboten präsent sind. Das wird bei der Früherkennung von Erkrankungen nicht anders sein als bei der Stauprognose.



Autor

© Dirk Specht
Dirk Specht

Dozent für Medien & VWL; Aufsichtsrat

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (11) Seite 24-25