Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach will mit bundesweit rund 1.000 Gesundheitskiosken die Versorgung in medizinisch und sozial benachteiligten Regionen verbessern. Ärztevertreter:innen kritisierten diese Pläne rasch als "Versorgung light", Gesundheitskioske könnten eine bedarfsgerechte ärztliche Versorgung nicht ersetzen, würden aber womöglich neue Probleme schaffen. Bereits jetzt hätten viele niedergelassene Ärzt:innen Schwierigkeiten, medizinisches Personal für ihre Praxen zu finden. Gesundheitskioske könnten diese Situation noch verschärfen. Aber wie sollen Gesundheitskioske überhaupt funktionieren?

Lauterbachs Gesetzesinitiative zufolge soll die Hauptaufgabe der Kioske darin bestehen, den Zugang zur medizinischen Versorgung von Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf zu verbessern. Das gelte für Menschen mit und ohne Krankenversicherung, für Leute ohne Hausärzt:in oder für Patient:innen mit Sprachbarrieren. Entscheidend sei, dass die Angebote niedrigschwellig seien.

Organisiert werden sollen die Gesundheitskioske von den Kommunen gemeinsam mit den Landesverbänden der Krankenkassen und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst. Dabei sollten die Kommunen 20 % der Kosten übernehmen, die gesetzliche Krankenversicherung 74,5 % und die privaten Krankenkassen die restlichen 5,5 %. Dort arbeiten sollen Kinder-, Alten- und Krankenpfleger:innen. Sie sollen auf ärztliche Veranlassung in verschiedenen Sprachen medizinische Routineuntersuchungen wie Blutdruck- oder Blutzuckermessungen durchführen, Behandlungen in Arztpraxen und Krankenhäusern vermitteln, chronisch Kranke begleiten oder in Gesundheitsfragen wie Abnehmen oder Raucherentwöhnung beraten.
Dabei sollen sich die Kioske vor Ort mit Jugendämtern, Familienzentren, Integrationszentren oder Stadtteilmanagementbüros vernetzen, um vorhandene Ressourcen und Synergien sinnvoll zu nutzen. Ingolf Dürr

Das Beispiel Hamburg-Billstedt

Der Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt ist vor 5 Jahren eröffnet worden. Dort kann man also schon auf eine gewisse Erfahrung zurückblicken. Im Interview gibt Prof. Eva Wild einen Einblick in Abläufe, Vorteile und Herausforderungen. Sie ist Leiterin des Teams, das den Kiosk in Billstedt wissenschaftlich begleitet hat.

Frau Prof. Wild, was ist ein Gesundheitskiosk?

Wild: Der Gesundheitskiosk ist eine niedrigschwellige Stadtteil-Institution, die die medizinische Versorgung unterstützen soll. Das Neue an diesem Modell: Es soll eine Schnittstelle zwischen Medizin und Sozialraum sein. Anders gesagt: Die Menschen können sich im Gesundheitskiosk umfassend zu gesundheitlichen Fragen beraten lassen, insbesondere auch zu Fragen der Gesundheitsvorsorge.

Wer arbeitet in einem Gesundheitskiosk?

Wild: Medizinisch ausgebildetes Fachpersonal, das über umfangreiche Erfahrungen in der Krankenpflege verfügt. Ein wesentliches Merkmal der Personalstruktur ist der multiprofessionelle Ansatz. Vorbild dafür sind die sog. Community Health Nurses (CHN). Im Koalitionsvertrag sind solche CHN als neues Berufsbild vorgesehen und inzwischen gibt es in Deutschland auch schon Studiengänge dafür. Diese CHN arbeiten in engem Austausch mit den ansässigen Ärzt:innen und sind zugleich eng mit Sozialarbeiter:innen und sozialen Einrichtungen vernetzt. Denn man will ja keine Doppelstruktur aufbauen, sondern vorhandene Ressourcen in den Regionen nutzen.

Wer besucht einen solchen Kiosk?

Wild: Das ist sehr unterschiedlich. Übergeordnet geht es darum, die Menschen durch das Gesundheitssystem zu lotsen. Ebenso wichtig sind Präventionsangebote, die zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes, aber auch der Gesundheitskompetenz führen können. Das kann z. B. eine Beratung zu Arzneimitteln sein – brauche ich dafür ein Rezept, wie und wie oft muss ich sie einnehmen, welche Wirkungen und Nebenwirkungen haben sie? Dann gibt es natürlich Unterstützung bei der Suche nach Haus- und Fachärzt:innen. Ganz wichtig: Im Kiosk gibt es eine Vor- und Nachbesprechung von Arztbesuchen – und zwar in Muttersprache. Die Klient:innen bringen auch Dokumente von ihren Arztbesuchen mit, die dann gemeinsam durchgesprochen werden.

Welche Themen werden häufig angesprochen?

Wild: Ein zentraler Themenblock ist Ernährungsberatung. In Billstedt betreffen rund 40 % der Beratungen das Thema Übergewicht. Aber es gibt auch Beratungen zu psychischen Beschwerden oder zur Vermittlung in andere Einrichtungen – das können Kindertageseinrichtungen, Schulen, Senioreneinrichtungen u. a. sein. Und es gibt ein umfangreiches Kursangebot – etwa ein "Rückenfit-Programm" oder Kurse zu gesunder Ernährung.

Erfolgt auch eine Impfberatung?

Wild: Selbstverständlich. Gerade in der COVID-19-Pandemie gab es da einen großen Bedarf. Die Impfberatung umfasst nicht nur Corona-Impfungen, sondern alle von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Impfungen in Deutschland.

Gibt es feste Vorgaben zu den Beratungsthemen?

Wild: Nein, es gibt keinen Standardkatalog zu den Beratungen, sondern es geht um eine bedarfsgerechte Versorgung. Es wird geschaut, welche Probleme und welchen Bedarf es in der jeweiligen Region gibt. Die Impfbereitschaft z. B. hängt ja auch zusammen mit dem Migrationshintergrund und der Gesundheitskompetenz. Deshalb wurde ein umfassendes Impfberatungsangebot geschaffen, das zunächst einmal Aufklärungsarbeit geleistet hat.

Erfolgen dort auch medizinische Behandlungen?

Wild: Eine Behandlung, wie sie bei den Ärzt:innen stattfindet, gibt es nicht. Der Gesundheitskiosk konkurriert nicht mit den Hausärzt:innen, sondern kooperiert mit ihnen.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Wild: Wir haben den Erfolg des Projektes aus den Perspektiven aller Zielgruppen evaluiert. Was bringt das Projekt den Ärzt:innen vor Ort, welche Vor- und Nachteile entstehen für die Krankenkassen und wie sehen die Ergebnisse für die Patient:innen aus? Dazu haben wir Fragebögen entwickelt, aber auch die Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen analysiert und sie teilweise mit den Befragungsdaten verknüpft. Kurz gesagt: Die Nutzung des Kiosks führte zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung – das zeigte sich insbesondere an einem Rückgang der Krankenhausfälle, die durch eine effiziente ambulante Versorgung vermeidbar sind. Die Zahl der ambulanten Arztbesuche nahm zunächst zu, vermutlich, weil im Kiosk ein ungedeckter medizinischer Bedarf entdeckt wurde. Auf der anderen Seite gab es eine Arbeitserleichterung für die Ärzt:innen – dank eines zentralen Instrumentes, das erstmalig in Deutschland eingesetzt wurde.

Welches Instrument?

Wild: Social Prescribing. Das ist eine Überweisung – nur eben nicht zu Fachärzt:innen, sondern zum Gesundheitskiosk. Patient:innen mit einer solchen Überweisung haben das Angebot häufiger und kontinuierlicher genutzt als Menschen, die eher zufällig vorbeigekommen sind. Für die Ärzt:innen war es eine Erleichterung, weil sie Patient:innen, die eigentlich keine medizinischen Anliegen hatten, zu den richtigen Ansprechpartnern schicken konnten. Es gibt ja Kulturkreise, in denen der Hausarzt auch zu familiären Konflikten berät. Das ist in Deutschland anders. Deshalb ist es gut, wenn die Ärzt:innen sagen können: Hier liegt kein medizinisches Problem vor, aber der Patient muss trotzdem versorgt werden – also überweise ich ihn an einen Kiosk. Die Ärzt:in kann dabei eine Empfehlung aussprechen, welche Angebote ihre Patient:innen im Kiosk nutzen sollen.Das Gesundheitsministerium plant, in Deutschland rund 1.000 Gesundheitskioske einzurichten: Welche Erfahrungen aus Hamburg-Billstedt lassen sich auf diese neuen Projekte übertragen?Wild: Es ist essenziell, einen akuten lokalen Bedarf abzudecken. Das Angebot sollte also auf die jeweilige Region ausgerichtet sein. Dafür ist es notwendig, die Angebote gemeinsam mit den verschiedenen Akteuren zu entwickeln – nicht nur mit der Management-Gesellschaft, sondern auch mit Ärzt:innen, sozialen Stadtteil-Einrichtungen, Patientenbeiräten vor Ort. Und: Solche Projekte brauchen Zeit und sie brauchen finanzielle Ressourcen.

Was kostet so ein Gesundheitskiosk und wer bezahlt ihn?

Wild: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Denn es hängt ja auch davon ab, was schon vorhanden ist und wie groß so ein Kiosk sein muss. Wenn ein neues Gebäude errichtet werden muss, ist das teurer, als wenn die Gemeinde günstige Räume bereitstellt oder ein Bus als Kiosk genutzt wird. Zu den Kostenträgern: Die Finanzierung wird momentan noch diskutiert. Das Initiativrecht zur Errichtung eines Gesundheitskiosks liegt bei den Kommunen. Sie übernehmen einen Teil der Kosten – aber auch die Krankenkassen müssen sich beteiligen.

Das Interview erschien erstmals auf www.pharma-fakten.de und wurde zum leicht gekürzten Nachdruck genehmigt.

Gesundheitskiosk vor dem Aus?
Bei der Vorstellung seiner Pläne hatte Bundesgesundheitsminister Lauterbach den Gesundheitskiosk in Hamburg-Billstedt als positives Beispiel hervorgehoben. Doch zwischenzeitlich ist der Kiosk arg in Bedrängnis gekommen und seine Zukunft erscheint ungewiss. Denn die beteiligten Ersatzkassen Barmer, DAK und Techniker Krankenkasse wollen den Versorgungsvertrag zum Jahresende auslaufen lassen. Der Grund: Der Kiosk sei zu teuer. Durch die prekäre Finanzentwicklung und die Belastungen, die das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz für die Kassen mit sich brächte, seien derart teure und mitunter redundante Leistungsangebote nicht realisierbar, so die Kassen. Insbesondere bemängeln sie, dass die Leistungen des Gesundheitskiosks Billstedt sich mit vielen bereits vorhandenen Angeboten des sozialen Hilfesystems doppeln würden. Es sei daher sinnvoller, bestehende Strukturen für die Versicherten besser zu vernetzen und Doppelstrukturen zu vermeiden, heißt es von Kassenseite. In den Beratungen des Gesundheitskiosks würden zudem Themenbereiche angeschnitten, die zwar das Thema Gesundheit betreffen würden, aber nicht Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) seien. Die Beratungsleistungen des Kiosks würden außerdem in keinem Verhältnis zu den Kosten in Höhe von 1 Million € pro Jahr stehen. Ingolf Dürr



Interviewpartnerin

© Valeska Achenbach
Prof. Eva Wild

Juniorprofessorin für Management im Gesundheitswesen
an der Universität Hamburg


Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (12) Seite 28-30