Der Praxisalltag von Hausärzt:innen ist geprägt von einer enormen Zahl an unterschiedlichen Symptomen und Krankheitsbildern, aus denen wiederum vielfältige Abklärungs- und Therapieentscheidungen resultieren. Evidenzbasierte Leitlinien, die für verschiedene Anwendungsgebiete verfügbar sind, sollen die Versorgung strukturieren und effektivieren. Eine Studie zeigt, wie Hausärzt:innen aktuell zu Leitlinien stehen und wie sie diese einsetzen.

Um die ärztliche Entscheidungsfindung für eine angemessene Diagnostik bzw. Behandlung in spezifischen Krankheitssituationen zu unterstützen, zielen die von medizinischen Fachgesellschaften erarbeiteten und regelmäßig angepassten Leitlinien darauf ab, aktuelles Wissen in konkrete Handlungsempfehlungen für Behandler:innen zu überführen [1–3].

Die Versorgung passgenauer machen

Gerade für Allgemeinmediziner:innen können hochwertige, gut geprüfte und anwendungsfreundliche Leitlinien einen beträchtlichen Mehrwert bieten, da Hausärzt:innen angesichts des großen Spektrums an Abklärungs- und Behandlungssituationen einen Bedarf an systematischen Entscheidungshilfen haben [7–10]. Darauf hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) in den vergangenen zwei Jahrzehnten reagiert, indem für die hausärztliche Praxis eine beträchtliche und weiter wachsende Zahl an evidenzbasierten Leitlinien erarbeitet wurde [11, 12]. Darüber hinaus wurde die Thematik der Leitlinienorientierung im Zuge der Einführung und Etablierung der Disease-Management-Programme relevanter [13].

Trotz der hohen fachlichen Aktivität bei der Entwicklung von allgemeinärztlich einsetzbaren Leitlinien ist insbesondere für den deutschsprachigen Raum nur wenig darüber bekannt, wie groß bei Hausärzt:innen die Akzeptanz und Orientierung in Bezug auf Leitlinien ist, welche Erwartungen sie an selbige stellen und welche Erfahrungen mit der Leitlinienanwendung gemacht wurden [3, 14]. Ähnliches gilt für die Frage, welche Verbesserungen Hausärzt:innen sich bei bestehenden Leitlinien wünschen, damit die Bereitschaft zur Nutzung solcher Instrumente weiter steigt [15–17]. Eine Studienreihe der Abteilung Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Mainz hat dazu beigetragen, Erkenntnisse über den Status quo der hausärztlichen Leitlinienorientierung zu gewinnen. Dabei wurde zum einen eine Vollbefragung von Hausärzt:innen in den Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz durchgeführt, zum anderen vertiefende Interviews mit 30 Hausärzt:innen geführt.

Leitlinien sind in der Hausarztmedizin angekommen

Von den 1.073 schriftlich befragten Hausärzt:innen geben 32 % an, dass sie Leitlinien häufig anwenden; weitere 27 % wenden diese gelegentlich und 33 % eher selten an. Primär erfolgt der Einsatz von Leitlinien bei der Erstdiagnose, bei Verdachtsfällen, bei Therapie bzw. Krankheitsmanagement sowie zur Verlaufskontrolle. Aus Sicht von 55 % der Befragten ist der generelle Nutzen von Leitlinien (sehr) groß, während weitere 43 % einen vorhandenen, aber eher geringen Nutzen wahrnehmen. 70 % sehen Leitlinien als hilfreich, eine verstärkte Evidenz- und Wissenschaftsorientierung in die Versorgung einzubringen. 80 % sehen eine bessere Strukturierung des Versorgungsgeschehens, 59 % eine Effizienzsteigerung von Diagnosen und/oder Therapien. 58 % befürworten Leitlinien mit dem Ziel einer Vereinheitlichung von Diagnose- und Behandlungsstandards. 57 % sehen Leitlinien als nützlich an, um Über-, Unter- und Fehlversorgung abzubauen. Indes wird die Integration von Leitlinien in die Praxisabläufe nicht immer als reibungslos erlebt (61 %). Auch besteht gelegentlich die Befürchtung vor einer zu starken Einschränkung der Handlungs- und Therapiefreiheit (55 %).

Positive Auswirkungen auf die Behandlungsqualität

Unter Ärzt:innen, die Leitlinien einsetzen, bilanzieren 63 %, die Anwendung habe sich insgesamt (sehr) positiv auf die Versorgungs- und Behandlungsqualität ausgewirkt. "Inzwischen sind Leitlinien nach meinem Dafürhalten einfach unverzichtbar. Sie können sich an geprüftem medizinischem Wissen festhalten, sie können Treffgenauigkeit und Effizienz erhöhen."

65 % gehen davon aus, durch die Arbeit mit Leitlinien die eigenen Kenntnisse und Kompetenzen erweitert zu haben. 57 % richten sich bei der medikamentösen Therapie inzwischen bevorzugt nach Leitlinien-Empfehlungen.

"Es heißt ja nicht, dass Hausärzte durch Leitlinien entwertet werden. Sie sind ein wertvoller Rahmen. Man sollte das als Vorteil begreifen."

Die meisten DEGAM-Leitlinien sind einer Mehrheit der Befragten bekannt und werden auch angewendet. Besonders stark genutzt werden dabei die Leitlinien Schlaganfall (64 %), Multimedikation (63 %), Müdigkeit (55 %), Brustschmerz (54 %) und Halsschmerzen (50 %). Für die ärztliche Bereitschaft, Leitlinien aufzugreifen, spielt es eine begünstigende Rolle, wenn es sich um von der DEGAM konzipierte Leitlinien handelt.

"Ich setze ganz klar auf die Leitlinien der DEGAM. Die sind am nächsten an der Realität des normalen Hausarztes dran. Außerdem weiß ich, dass die DEGAM Hausärzte immer wieder bei der Validierung solcher Leitlinien einbezieht."

Hausärzt:innen bei Leitlinienentwicklung einbeziehen

Von Leitlinien erwarten die Befragten neben einer einfachen Anwendung und dem Ausschluss von Haftungsrisiken eine konsequente Einbeziehung von hausärztlichen Mediziner:innen in den Prozess der Leitlinienentwicklung.

"Die bisherige Entwicklung ist sehr positiv – Leitlinien sind immer besser geworden. Trotzdem denke ich, dass es da noch Luft nach oben gibt. Die Ärzte könnten noch besser mit ihren Problemen und Bedarfen berücksichtigt werden."

Zur weiteren Optimierung hausarztbasierter Leitlinien wird allem voran eine stärkere Berücksichtigung nichtmedikamentöser Alternativen bei der Leitlinienentwicklung gewünscht (46 %), gefolgt von einer stärkeren Auseinandersetzung mit Fragen der Lebensqualität (43 %), einer vergleichenden Betrachtung verschiedener Therapieoptionen (37 %) und der Einbeziehung alternativer Medizin (36 %). 47 % präferieren eine kompaktere und prägnantere Gestaltung von Leitlinien. Rund 70 % können sich bei Umsetzung der gewünschten Verbesserungen künftig eine stärkere Nutzung von Leitlinien vorstellen.

Hohe Nutzungsbereitschaft bei Hausärzt:innen

Die Befunde der Studien belegen ein hohes Maß an hausärztlicher Aufgeschlossenheit, Interesse und Nutzungsbereitschaft in Bezug auf Leitlinien. Die meisten Ärzt:innen assoziieren Leitlinien mit Evidenzorientierung, Strukturierung und Effektivierung von Versorgungsabläufen. Im Praxisalltag beobachten Hausärzt:innen bei der Leitlinienanwendung häufig Vorteile, wenn es um die Patientenbehandlung geht, und bekunden Lerneffekte mit Blick auf die eigenen Kenntnisse. Dennoch zeigt sich auch Kritik. So werden Leitlinien nicht immer als gut mit den Praxisabläufen vereinbar erlebt.

Die hohe Akzeptanz hausärztlicher Leitlinien unter Allgemeinmediziner:innen zeigt, dass eine gute Ausgangsbasis für weitere Anpassungs- und Optimierungsprozesse gegeben ist. Um die Attraktivität von Leitlinien für die Hausarztmedizin zu erhöhen, sollten die Erwartungen von Allgemeinärzt:innen an die von Leitlinien zu erbringenden Leistungen gezielt adressiert werden.

So sollten eine hausarztkonforme, möglichst unkomplizierte Anwendbarkeit sowie eine Übersichtlichkeit und Komplexitätsreduktion gewährleistet sein [18, 19]. Auch sollte sichergestellt werden, dass Leitlinien die Gebührenordnung berücksichtigen sowie ärztliche Handlungsspielräume erhalten, um praxisnahe Lösungen möglich zu machen. Wo sinnvoll, sollten Leitlinien Möglichkeiten der Delegation innerhalb des Praxisteams aufzeigen [20]. Hinsichtlich der Beteiligung von Hausärzt:innen im Entwicklungsprozess verfolgt die DEGAM bereits einen partizipativen Ansatz, sodass es möglicherweise sinnvoll ist, Hausärzt:innen noch expliziter zu kommunizieren, wie bereitgestellte Leitlinien zustande kommen.


Literatur:
1. Vollmar HC, Oemler M, Schmiemann G et al. Einschätzung von Hausärzten zu Leitlinien, Fortbildung und Delegation. Z Allg Med 2013; 89: 23-30
2. Bodenheimer T. The American health care system – the movement for improved quality in health care. N Engl J Med 1999; 340: 488–492
3. Ollenschlaeger G, Kirchner H, Fiene M. Leitlinien in der Medizin – scheitern sie an der praktischen Umsetzung? Der Internist 2001; 42: 473-483
4. Europarat. Entwicklung einer Methodik für die Ausarbeitung von Leitlinien für optimale medizinische Praxis. Empfehlung Rec (2001) 13 des Europarates. Z Arztl Fortbild Qualitatssich. 2002; 96: 1-60
5. Wangler J, Pillath S, Jansky M. Bedeutung und Potenziale von Diagnosealgorithmen in der hausärztlichen Versorgung. Eine Befragung unter hessischen Allgemeinmedizinern. Z Allg Med 2019; 95: 132-137
6. Wegwarth O, Gaissmaier W, Gigerenzer G. Smart Strategies for doctors and doctors in training. Med Educ 2009; 43: 721-728
7. Donner-Banzhoff N. Dealing with uncertainty in general medical practice. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2008; 102: 13-18
8. Schneider A, Dinant GJ, Szecsenyi J. Zur Notwendigkeit einer Stufendiagnostik in der Allgemeinmedizin. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2006; 100: 121-127
9. Donner-Banzhoff N, Seidel J, Sikeler AM et al. The Phenomenology of the Diagnostic Process: A Primary Care-Based Survey. Med Decis Making 2017; 37: 27-34
10. Heneghan C, Glasziou P, Thompson M et al. Diagnostic strategies used in primary care. BMJ 2009; 338: b946
11. Barzel A. Leitlinien für die hausärztliche Patientenversorgung. https://www.allgemeinarzt-online.de/praxisalltag/a/leitlinien-fuer-die-hausaerztliche-patientenversorgung-1768830 (letzter Zugriff am 14.04.2020)
12. Steinhäuser J, Götz K, Glassen K, Ose D, Joos S, Szecsenyi J. Praktikabilität und Akzeptanz der DEGAM-Leitlinie ‘‘Nackenschmerzen’’ im Praxistest. Z Allg med 2009; 85: 130-134
13. Wangler J, Jansky M. Anderthalb Dekaden Disease-Management-Programme – Eine Bilanz zum Status quo aus hausärztlicher Sicht. Dtsch med Wochenschr 2020; 145: e32-e40
14. Zimmermann F. Individuelle therapeutische Entscheidung oder Leitlinientreue?. Info Onkol. 2015; 18: 48-49
15. Kunz U, Gusy B. Leitlinien in der Medizin: Anwendung, Einstellungen, Barrieren. Eine Befragung Berliner Hausärzte. Das Gesundheitswesen 2005; 67: VF_V32.
https://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/arbeitsbereiche/ppg/media/projekte/hausaerzte/kunz_2005.pdf (letzter Zugriff am 14.04.2020)
16. Butzlaff M, Kempkens D, Schnee M et al. German ambulatory care physicians’ perspectives on clinical guidelines – a national survey. BMC Fam Pract 2006; 7: 47
17. Hannes K, Leys M, Vermeire E, Aertgeerts B, Buntinx F, Depoorter AM. Implementing evidence-based medicine in general practice: a focus group based study. BMC Fam Pract 2005; 6: 37
18. Basedow M, Runciman WB, Lipworth W, Esterman A. Australian general practitioner attitudes to clinical practice guidelines and some implications for translating osteoarthritis care into practice. Aust J Prim Health 2016; 22: 403-408
19. Peters-Klimm F, Natanzon I, Muller-Tasch T et al. Barriers to guideline implementation and educational needs of general practitioners regarding heart failure: a qualitative study. GMS Z Med Ausbild 2012; 29: Doc46
20. Solberg LI, Brekke ML, Fazio CJ et al. Lessons from experienced guideline implementers: attend to many factors and use multiple strategies. Jt Comm J Qual Improv 2000; 26: 171-188


Autoren

Dr. Julian Wangler

Prof. Dr. Michael Jansky
Zentrum für Allgemeinmedizin und Geriatrie
UNIVERSITÄTSMEDIZIN Mainz
55131 Mainz
Interessenkonflikte: Die Autoren haben keine deklariert

Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (5) Seite 22-24