Schon bald werden viele chronisch kranke Patient:innen in ihren Apotheken Dienstleistungen auf Kosten der Krankenkassen erhalten, die eigentlich der Ärzteschaft vorbehalten sein sollten. Ärztevertreter:innen fürchten, dass dadurch die Versorgungsqualität leiden wird. Denn es gebe gute Gründe, warum der Gesetzgeber die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde bislang an ärztlichen Sachverstand gekoppelt hat.

Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) jubelt und spricht von einem "Meilenstein für die Patientenversorgung". Anlass zur Freude gibt das bereits im Jahr 2020 verabschiedete Apotheken-Vor-Ort-Stärkungsgesetz. Darin ist vorgesehen, dass Patient:innen Anspruch auf zusätzliche Betreuungsangebote der Apotheke haben, wenn sie

  • fünf oder mehr verordnete Arzneimittel einnehmen (Medikationsberatung),
  • gegen eine Krebserkrankung neue Tabletten oder Kapseln erhalten (orale Antitumortherapie),
  • nach einer Organtransplantation neue Medikamente verordnet bekommen, um die körpereigene Abstoßungsreaktion zu hemmen (Immunsuppressiva),
  • einen ärztlich diagnostizierten Bluthochdruck haben und Blutdrucksenker einnehmen,
  • gegen eine Atemwegserkrankung Medikamente zum Inhalieren erhalten.

Vergütung steht fest

Das Gesetz ist zwar schon fast zwei Jahre alt, aber erst in diesem Sommer konnten sich der Deutsche Apothekerverband (DAV) und die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) auf die Details zur Vergütung der Leistungen einigen. Und spätestens da kommt so manche Ärztevertreter:in ins Grübeln. So soll zum Beispiel die erweiterte Medikationsberatung mit 90 € vergütet werden. Und für die standardisierte Einweisung für Patient:innen ab sechs Jahren mit Atemwegserkrankungen in die korrekte Arzneimittelanwendung und das Üben der Inhalationstechnik gibt es 20 €.

Angriff auf die hausärztliche Versorgung

Ärztevertreter:innen sind beunruhigt. So übte der Deutsche Hausärzteverband (DHÄV) harsche Kritik an den "sogenannten" pharmazeutischen Dienstleistungen. Durch deren Einführung werde die Versorgung weiter zerstückelt und hausärztliche Aufgaben ausgelagert. Beim Medikationsmanagement werden in Zukunft neben den Krankenhäusern und diversen Fachärzt:innen auch noch die Apotheker:innen verstärkt mitmischen. "Am Ende werden die Hausärzt:innen diejenigen sein, die für die Patient:innen diese ganzen unterschiedlichen Beratungen zusammenbringen und bewerten müssen", so der DHÄV in einer Stellungnahme. Für Dr. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von MEDI GENO Deutschland, liegt das Problem weniger bei den Apotheker:innen als vielmehr bei der Politik. Dort werde mehr und mehr versucht, die ambulante Versorgung von Ärzt:innen auf andere Heilberufe zu verlagern. Dabei sei es aber unverantwortlich, solche Beratungen ohne ärztliches Wissen und in Konkurrenz zu den behandelnden Ärzt:innen den Apotheker:innen zu übertragen. "Wer Patientinnen und Patienten berät und behandelt, sollte nicht nur Medizin studiert haben, sondern klinische Erfahrung auf Facharztniveau haben", so Baumgärtner.

Für die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist das Apotheken-Vor-Ort-Stärkungsgesetz ein fundamentaler Angriff auf die hausärztliche Versorgung, der angesichts der Versprechungen der Politik, die hausärztliche Versorgung stärken
zu wollen, fast schon zynisch anmute. Nur die Ärzt:innen könnten eine qualifizierte Heilkunde-
erlaubnis aufweisen, die unter anderem die Anamnese, Untersuchung, Diagnostik und Differenzialdiagnosen sowie Pharmakotherapie umfasst. Apotheker hätten dieses Wissen nicht, monierte die KBV.

Ärztliche Vergütung anheben

Die KBV stört sich aber vor allem auch an der Vergütung der Apothekenleistungen. "Offenbar scheinen die Krankenkassen über genügend finanzielle Mittel zu verfügen. Da wäre es nur folgerichtig, die letztlich fundiertere ärztlich-medizinische Betreuung mindestens auf das den Apotheken zugestandene finanzielle Niveau anzuheben", forderte der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Andreas Gassen. Die niedergelassenen Kolleg:innen würden die gleichen Leistungen trotz der besseren fachlichen Qualifikation derzeit zu einem deutlich geringeren Satz erbringen. Das könne nicht sein, so Gassen. Und der DHÄV stößt ins gleiche Horn: "Hausärztliche Leistungen dürfen selbstverständlich nicht weniger wert sein als die Leistungen der Apotheker:innen. Alles andere würde wirklich kein Mensch mehr verstehen." Hier brauche es dann im Zweifel eine Anpassung der Bewertungen.

So richtig glücklich mit den pharmazeutischen Dienstleistungen und deren Vergütung scheint man auch bei den Krankenkassen nicht zu sein. Der Umfang und die Vergütung dieser Dienstleistungen werde aus deren Sicht nicht zu einer qualitativ besseren Versorgung der Versicherten führen. Die Honorare, zum Beispiel für eine simple Leistung wie die Blutdruckmessung, seien viel zu hoch angesetzt. Das stehe in keinem Verhältnis zu den Vergütungen der niedergelassenen Ärzt:innen für die entsprechenden Leistungen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, forderte den Gesetzgeber auf, das Vor-Ort-Apothekengesetz auf den Prüfstand zu stellen und nachzubessern. Die Substitution ärztlicher Leistungen sei der falsche Weg. Die Patient:innen in Deutschland hätten Anspruch auf medizinische Beratung auf einem hohen haus- und fachärztlichen Niveau. Die Regelungen zu pharmazeutischen Dienstleistungen in Apotheken sind deshalb ersatzlos zu streichen.



Autor
Dr. Ingolf Dürr

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (11) Seite 28-29