Zum tragenden Organisationsprinzip der Medizin gehört seit jeher, dass Diagnostik und Therapie nur in einem vom Arzt und Patient gemeinsam geteilten Ort stattfinden können. Gute Gründe dafür sind die notwendige Vorhaltung der Apparate, die Rolle der körperlichen Untersuchung und das Arzt-Patienten-Verhältnis, welches gewissermaßen taktil initialisiert wird. Sieht man von einigen Sonderfällen ab (z. B. Internetapotheke), hat das Präsenzprinzip dadurch die Leistungserbringer hierzulande bisher recht zuverlässig vor der Globalisierung bewahrt.

Durch die Digitalisierung wird aber insbesondere die Diagnostik mobil und der Gang in die Arztpraxis zunehmend entbehrlich. Komplexe Diagnostik hat, wie das Beispiel der Smart Watches zeigt, inzwischen sogar in den Alltag Einzug gehalten. Hinzu kommen mobile "Selbstbedienungspraxen" für das Land, in denen der Arzt nur noch per Videochat hinzugeschaltet wird. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, über die Internetmedizin jederzeit an weltweit verteilte ärztliche Spitzen-Expertise zu gelangen.

Einer Generation, die sich aufgehoben fühlt in einem Netzwerk aus unzähligen "Freunden" und "Followern", denen man noch nie in natura die Hand geschüttelt hat, wird es nicht schwerfallen, sich quasi vagabundierend von einem virtuellen Arzt zum nächsten zu bewegen. Das digitale Versprechen sofortiger und stets präsenter Ansprechbarkeit sowie maximaler Expertise wird zudem immer attraktiver, wenn die Ressourcen der analogen Präsenzmedizin an ihre Grenzen stoßen. Motto: "Bitte warten Sie." Wenn man diesem Trend im Sinne der Patientensteuerung eine Medizin entgegensetzt, die lediglich eine verfehlte Anspruchshaltung der Patienten ins Visier nimmt, dann wird diese Medizin mit dem Smartphone von der Generation X, Y, Z wohl buchstäblich weggeklickt.

Wir befinden uns also in einem Wandel, zwischen dem Ex-
trem eines vollständig digitalen und quasi allwissenden Gegenübers der Internetmedizin und dem Bild des jederzeit verfügbaren, empathischen ärztlichen Zuhörers. Das eine Ex-
trem ist vermutlich nicht wünschenswert, das andere Extrem vermutlich nicht mehr aufrechtzuerhalten. Dessen ungeachtet zeigen die Forschungsergebnisse zur Telemedizin, dass die wahren Potenziale für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der digitalen Kooperation liegen. Mit Televisiten kann man nicht nur auf der Intensivstation Leben retten. Mit Telekonsilen kann rasch Expertenwissen eingebunden werden. Mit Telemonitoring kann man kooperativ mit allen Heilberuflern chronisch Kranke begleiten.

Es ist also an der Zeit, die digitale Zukunft der Medizin zu gestalten. Die Antwort auf die Auflösung des Präsenzprinzips ist die digitale Kooperation.

Das digitale Versprechen sofortiger und stets präsenter Ansprechbarkeit wird immer attraktiver.

Autor:

Rainer Beckers

Geschäftsführer des Zentrums für Telematik und Telemedizin GmbH
44799 Bochum

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (20) Seite 5