Die evidenzbasierte Medizin ist eine Bereicherung für die Medizin. Gerade für Allgemeinärzte, die sich ja mit sehr vielen Erkrankungen in der Praxis auseinandersetzen müssen, können solche validen Erkenntnisse sehr nützlich sein. Der Wert solcher Studien wird aber auch zu Recht immer wieder hinterfragt. Gerade jetzt wieder von keinem Geringeren als Professor Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. In einem Gastkommentar für Ärzte Zeitung online bemängelt er unter anderem, dass solche evidenzbasierten Studien den Einfluss des Arztes mindern oder gar ausschalten, um die Wirkung eines Medikaments oder einer Intervention ohne störende Einflussfaktoren beurteilen zu können.

Evidenzbasierte Behandlung allein reicht nicht

"Hat die evidenzbasierte Medizin die ärztliche Kunst komplett abgelöst?", fragt Martin selbstkritisch. Die Frage beantwortet er mit einer retrospektiven Studie, die an 19.000 Patienten mit Typ-2-Diabetes durchgeführt wurde. Gefragt wurde dabei nach der Häufigkeit von Lebensstil-Beratungen, die mit dem Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen und von Mortalitätsraten korreliert wurden. Und siehe da: Je weniger die (Allgemein-)Ärzte ihrer Beratungsfunktion nachgekommen sind, desto häufiger traten diese Ereignisse auf.

Die logische Schlussfolgerung von Martin: Bei asymptomatischen Erkrankungen wie dem Typ-2-Diabetes oder der arteriellen Hypertonie reicht eine rein evidenzbasierte Behandlung schlichtweg nicht aus. Schon gar nicht, wenn über diese Verordnungen und Medikationen nicht ausführlich gesprochen wurde. Doch genau hier sieht Frau Prof. Monika Kellerer, Präsidentin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, das entscheidende Dilemma. Nicht nur der Diabetes, sondern alle betreuungsintensiven Volkskrankheiten werden in der derzeitigen Honorarsystematik der Ärzte – stationär wie ambulant – viel zu schlecht abgebildet. Und das wird sich wohl auch so schnell nicht ändern, weil beispielsweise nur 8 von 36 medizinischen Fakultäten in Deutschland heute noch über einen eigenständigen klinischen Lehrstuhl für Diabetologie verfügen.

Ärztliches Gespräch ist hohe Kunst

Bleibt die Erkenntnis, dass sich trotz vieler Lippenbekenntnisse zur sprechenden Medizin zuletzt wenig bewegt hat. Und genau das beflügelt auch die – nun wirklich nicht evidenzbasierten – alternativen Therapieverfahren wie die Homöopathie, was zuletzt bei den Herbstkongressen der Kinder- und Jugendärzte und der practica 2019 in Bad Orb zum Teil heftig beklagt wurde. Dabei stellte der DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer in Bad Orb erfrischend direkt klar, dass gerade in der Allgemeinmedizin das auf den ganzen Menschen ausgerichtete ärztliche Gespräch nicht nur "bloßes Reden, sondern hohe Kunst" ist.

Und diese hohe ärztliche Kunst müsse endlich anerkannt werden, fordert auch Stephan Martin nachdrücklich und schiebt nach: Nutzen wir endlich auch wieder mehr das "Medikament Arzt". Genau! Die jungen und heute bestens weitergebildeten Allgemeinärzte sehen sich hierfür gewappnet, für die fortgebildeten "alten Hasen" gilt dies ohnehin. Man sollte ihnen daher die Chance geben, dies jetzt endlich auch unter Beweis stellen zu können.


Das meint Ihr

Raimund Schmid


Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (20) Seite 37