Es ist höchst alarmierend, was das Klimaforschungsinstitut Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) zutage gefördert hat. Jeder vierte AOK-Versicherte über 65 Jahre war demnach in den Jahren 2008 bis 2018 überdurchschnittlich gefährdet, an heißen Tagen gesundheitliche Probleme zu bekommen und deshalb ins Krankenhaus zu müssen. Doch das dürfte erst der Anfang eines lang anhaltenden Prozesses sein.

Brennpunkt Klima
Arztpraxen sind zwar geeignete, bislang jedoch auf breiter Ebene kaum genutzte Anlaufstellen für die Förderung des klimabedingten Gesundheitsschutzes. Doch wie können Hausärzt:innen ihrer Multiplikatorenfunktion gerecht werden und dies in praktisches Handeln überführen? In einer 12-teiligen Serie greift doctors today diese und andere Fragen auf und liefert hierzu Fakten, Orientierung und praxisnahes Handlungswissen.

Die Prognosen sind in der Tat alarmierend: Wenn die Erderwärmung weiter ungebremst voranschreitet, dann könnte sich bis zum Jahr 2100 die Zahl der hitzebedingten Klinikeinweisungen versechsfachen. Auch dabei wären vorwiegend ältere Menschen betroffen. Bereits heute sind die Fakten auf Basis der Abrechnungsdaten aller Krankenhausbehandlungen der über 65-jährigen AOK-Versicherten für die Jahre 2008 bis 2018 besorgniserregend: Bei Temperaturen ab 30 Grad Celsius kam es in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2018 zu 40 hitzebedingten Klinikeinweisungen je 1 Million Älterer. Besonders hitzegefährdet sind demnach Menschen mit Demenz und Alzheimer sowie anderen Erkrankungen wie zum Beispiel Niereninsuffizienz, Depressionen, Diabetes und chronischen Atemwegserkrankungen. Davon wiederum sind insbesondere ältere Männer mit Vorerkrankungen überdurchschnittlich risikobehaftet. Bei dem am stärksten gefährdeten Prozent der über 65-Jährigen wurden sogar bis zu 550 weitere Klinikeinweisungen je Million Älterer erreicht.

Dabei gibt es einige sehr spezifische Detailerkenntnisse: So konnten Daten einer US-Studie belegen, dass eine höhere Feinstaubkonzentration (Partikelgröße < 2,5 µm) mit einer erhöhten Zahl von Krankenhausaufnahmen aufgrund von Osteoporose-bedingten Frakturen assoziiert war. Ferner zeigte sich, dass eine höhere Konzentration von Rußpartikeln mit dem vermehrten Verlust an Knochendichte korreliert war.

Es hängt allerdings nicht allein nur von der Hitze ab, ob ein (älterer) Mensch an einem heißen Tag zusätzlich im Krankenhaus behandelt werden muss. "Die Beziehungen zwischen Temperatur und gesundheitlichen Auswirkungen werden von einer Reihe weiterer komplexer und interagierender Faktoren beeinflusst, darunter biologische, ökologische, medizinische, soziale und geografische Faktoren", so Dr. Nicolas Koch vom MCC. Die Verarbeitung der gesundheitlichen Klimafolgewirkungen kann daher nur interdisziplinär erfolgen.

Diese liefert auch eine Erklärung dafür, dass Menschen, die besonders hitzegefährdet sind, nicht zwangsläufig in den am meisten von Hitze betroffenen Regionen leben. Im besonders heißen Jahr 2018, in dem in vielen Regionen die 40-Grad-Marke überschritten wurde, kristallisierten sich Hotspots entlang zweier geografischer West-Ost-Bänder heraus: eines zog sich vom Weser-Ems-Gebiet zur Niederlausitz und ein zweites vom Rhein-Main-Gebiet nach Niederbayern.

Folgerungen für den Praxisalltag

Aufgrund ihres regelmäßigen Kontakts zu vulnerablen Personengruppen und deren Angehörigen nehmen Allgemeinärzt:innen als Vertrauensperson eine umso größere Rolle ein, je älter ihre Patient:innen sind. Zur Prävention hitzebedingter Risiken bieten sich vier hausärztliche Handlungsfelder an:

  1. Kommunikation von Risiken und Präventionsmaßnahmen mit den Betroffenen und deren Familien (Konsultation und Broschüren)
  2. Anpassung der Medikation (z. B. vorsommerlicher Medikamenten-Review mit Anpassung der Medikamente im Falle einer Hitzewelle) insbesondere bei älteren und geriatrischen Patient:innen
  3. Veränderung von Praxisabläufen (z. B. Kühlung der Praxisräume, Angebot von Getränken)
  4. Proaktive Kontaktaufnahmen (z. B. Hausbesuche und Initiierung des Netzwerks der Helfer:innen)

Für einen strukturierten Handlungsansatz fehlen allerdings bisher auch entsprechende Abrechnungsziffern. Hilfreich ist aber in jedem Fall das Erstellen von Listen von Risikopersonen – definiert über den Pflegegrad – in der elektronischen Gesundheitsakte. Dazu wäre es notwendig, wenn den Hausärzt:innen die Information über die jeweils aktuelle Pflegegrad-Einstufung auch stets zugänglich wäre, was bislang noch längst nicht der Fall ist. Mithilfe einer Risikoliste würde der Hausärzt:in die Planung erleichtert, wer während langanhaltender Hitzeperioden ärztliche Hilfe oder die Unterstützung durch Medizinische Fachangestellte benötigt, oder wem auch schon mit dem Aktivieren des sozialen Netzwerks geholfen ist.

Bei der gegebenenfalls erforderlichen Anpassung der Medikation stehen insbesondere diese Maßnahmen im Fokus:

  • die Reduktion von Diuretika
  • die Dosisanpassung der Blutdruckmedikamente
  • das Pausieren und Reduzieren von Anticholinergika

Doch das ist noch längst nicht alles. Im Kontext der Medikation wäre eine verständlich formulierte Erweiterung der Beipackzettel mit Hitze-relevanten Hinweisen (BfArM) ein großer Fortschritt. Und auch die Etablierung einer fortlaufenden Beratung durch Apotheker:innen wäre dringend geboten. Diese Anpassungen greifen aber nur dann, wenn Ärzt:in und Apotheker:in hier gemeinsam agieren und immer wieder die veränderten Verordnungen erklären und begründen. Denn das Beharrungsvermögen multimorbider Patient:innen mit einer Multimedikation ist hoch, weil sie so lange wie möglich versuchen, ihren gewohnten Rhythmus gerade auch bei der Einnahme ihrer Arzneimittel beizubehalten. Noch besser wäre natürlich, wenn im Falle einer längeren Hitzewelle eine proaktive Kontaktaufnahme bei Höchstrisikopersonen durch die Ärzt:in stattfinden würde. Wegen personeller Engpässe dürfte das aber auch in Zukunft eher ein unerfüllbarer Wunsch bleiben. Aufgrund dieser begrenzten Arbeitskapazitäten der Allgemeinärzt:innen wäre es sicher angebracht, auch gut organisierte Hilfsorganisationen mit ihren hauptamtlichen Akteuren stärker in die ambulante Versorgung mit einzubinden. Wünschenswert wäre schließlich auch, wenn sich die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) trotz bereits eingeleiteter verstärkter Forschungsbemühungen in dieser Richtung noch stärker engagieren würde.

Hitze und Pflege – wo ist es am erträglichsten?
Unabhängig von der Temperatur fällt die Mortalität bei gleichem Pflegegrad zwischen zuhause lebenden und im Heim betreuten Personen deutlich unterschiedlich aus. Während bei den geringeren Pflegegraden im Pflegeheim höhere Mortalitätsraten beobachtet wurden, lagen bei den höchsten Pflegegraden die Mortalitätsraten bei zuhause lebenden Personen höher. Aber: Dort, wo mehr Pflegepersonal zur Verfügung steht, ist das Risiko einer hitzebedingten Klinikeinweisung geringer. Eine professionelle Betreuung trägt also mit dazu bei, Hitzestress zu lindern.Quelle: Versorgungsreport Klima und Gesundheit 2021

Literatur beim Verfasser


Autor

Raimund Schmid


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (10) Seite 28-29