Die Videosprechstunde stieß bei ihrer Einführung auf eine eher geringe Begeisterung bei den niedergelassenen Ärzten. Viele gaben und geben dem persönlichen Kontakt zum Patienten eben doch den Vorzug. Doch mit der Corona-Pandemie hat die Videosprechstunde einen enormen Schub erhalten als mögliches Instrument zur Eindämmung der Virusausbreitung. Eine junge Hausärztin schildert ihre Erfahrungen.

Nach SARS-CoV-2 hat die Videosprechstunde in vielen Hausärzt:innenpraxen inzwischen ihren Platz gefunden. So auch bei uns. Von der Gegnerin wurde ich zur Befürworterin: aus Gründen des Infektionsschutzes, aber auch um Beruf und Familie in der Pandemie unter einen Hut zu bekommen.

Patient:innen in vertrauter Umgebung treffen

Immer dienstags betreue ich Patient:innen via Webcam, während meine Kinder zwei Zimmer weiter Zahlenrätsel lösen. Was aus der Notlage einer Familie entstand, in der beide Eltern weit weg vom Wohnort arbeiten, endete (überraschend) in einem Gewinn für mich und meine Patient:innen. Per Video war ich inzwischen in diversen Schlaf- und Wohnzimmern, an Arbeitsplätzen und sogar schon auf Pferdekoppeln.

Einen Teil dieser Patient:innen hätte ich unter "normalen Umständen" vermutlich niemals dort angetroffen, weil die meisten von ihnen keine Hausbesuche benötigen. Diese Patient:innen habe ich inzwischen an Orten gesehen, die ihnen vertraut sind, an denen sie sich wohlfühlen. Sie selbst haben diese Orte ausgesucht. Viele von ihnen waren dort gelöster und einige berichteten über Dinge, die ich in der Praxis (noch) nicht von ihnen erfahren habe. Saß die Patientin auf ihrem Sofa, konnte sie über Gewalterfahrungen sprechen; in der Küche über den Sohn, der sich doch weniger als gedacht kümmert – und im Garten über das Laster Nikotin. Gestresste Eltern waren erleichtert, dass sie zur Besprechung von Blutwerten nicht in die Praxis kommen mussten und Angstpatient:innen dankbar, dass kürzere, aber dafür häufigere Kontakte möglich waren. Als Ärztin bin ich dort präsenter, wo meine Patient:innen zu Hause sind.

Grenzen der Videokonsultation beachten

Die Kehrseite der Medaille ist, meine Patient:innen sind es umgekehrt auch. Die Videosprechstunde trägt das Potenzial in sich, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Ärzt:innen zu verbessern, jedoch verschwimmen hierdurch auch die Grenzen zwischen Arbeit und Leben. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Es ist vielleicht einfach nur die Variante "Hausärztin 2.0". Doch fährt der Praxislaptop runter, brauche ich zehn Minuten, damit mein Zuhause wieder mir gehört.

Die Videosprechstunde ist für mich Teil eines multimodalen Behandlungskonzeptes. Die klinische Untersuchung, Hausbesuche, aber auch der Austausch der Patient:innen mit unserem Team sind weiter unverzichtbare Bestandteile der Allgemeinmedizin. Und bei aller Begeisterung müssen wir die Grenzen der Videokonsultation kennen: Aufgrund der fehlenden Möglichkeit zur klinischen Untersuchung besteht die Gefahr, Dinge zu übersehen. Es gibt zudem das Risiko der Überdiagnostik durch (zu) voreilige Überweisungen via Video.

Wir, aber auch unsere hausärztlichen Praxisteams werden weitere Skills und Scores brauchen in der Telemedizin und Red Flags trainieren müssen. Fehler sollten wir systematisch erfassen und publizieren. Wir dürfen weniger technikaffine Patient:innen nicht von guter medizinischer Versorgung ausschließen und wir müssen bei allem den Datenschutz bei den Konsultationen im Blick behalten.

Nutzen der Videosprechstunde weiter erforschen

Eine Auswertung von Reviews in der Zeitschrift Digital Health 2019 zum Thema Videokonsultationen in der Betreuung chronisch kranker Patient:innen zeigt, dass wir mehr (methodisch "gute") Begleitforschung brauchen – und dass auch patientenrelevante Endpunkte neben "weicheren" Parametern wie Ärzt:innen- und Patient:innenzufriedenheit erfasst werden müssen. Es liegt an uns Ärzt:innen und an Patient:innen, unsere Anforderungen und Bedürfnisse an die Politik und die Digital-Health-Branche zu formulieren, was wir für "gute" Medizin brauchen. Das Gesundheitswesen ist kein Markt der Möglichkeiten für Investoren und Anbieter, jede technische Innovation muss einzig uns und unseren Patient:innen dienen.



Autorin:
Dr. med. Sandra Blumenthal
Potsdam

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (13) Seite 30-31