Der akute Thoraxschmerz hat in der ambulanten Versorgung, im Rettungsdienst und in der Notaufnahme einen hohen Stellenwert. Als Differenzialdiagnosen kommen eine Vielzahl von Erkrankungen infrage. Als vital bedrohlich gelten die "Big Five": das akute Koronarsyndrom (ACS), die akute Lungenembolie (LE), die Aortendissektion, der Spannungspneumothorax und die Ösophagusruptur (Boerhaavesyndrom).
Der akute Thoraxschmerz ist ein plötzlicher Brustschmerz, der auf Erkrankungen des Herzens, der Gefäße, der Lunge, der Pleura, des Gastrointestinaltrakts, des Skeletts und auf funktionellen Ursachen beruhen kann. Die Prävalenz des Leitsymptoms "Brustschmerz" liegt im Hausarztbereich bei circa 0,7 %, das mittlere Patientenalter bei 59 Jahren [1]. In der hausärztlichen Erstversorgung spielen ernsthafte kardiovaskuläre Erkrankungen eine untergeordnete Rolle. Prognostisch günstige Erkrankungen und unkomplizierte Verläufe sind dagegen sehr häufig. Als häufigste Ursache gelten bei fast jedem zweiten Patienten muskuloskelettale Beschwerden [3, 18, 24]. Der Anteil einer koronaren Herzerkrankung als Beschwerdeursache liegt bei 14,6 % (11 % chronisches Koronarsyndrom – früher: stabile koronare Herzkrankheit, 3,6 % akutes Koronarsyndrom, vgl. Tabelle 1).
Die "Big Five"
Das akute Koronarsyndrom (ACS), die akute Lungenembolie (LE), die Aortendissektion, der Spannungspneumothorax und das Boerhaavesyndrom gelten aufgrund ihrer hohen Letalität als "Big Five" des akuten Thoraxschmerzes. Auch wenn diese Erkrankungen nur einen geringen Anteil beim Hausarzt ausmachen, sind sie aufgrund ihrer ungünstigen Prognose sehr bedeutsam, zudem nicht klar erkennbar. Der Hausarzt ist daher auf die präzise Deutung klinischer und anamnestischer Angaben angewiesen. Häufig handelt es sich auch um unspezifische oder atypische Symptome. Bei der Ersteinschätzung stellt sich die Frage: Handelt es sich um eine stabile, instabile oder unmittelbar lebensbedrohliche Situation? Bei der differenzialdiagnostischen Abklärung hilft auch der "Marburger Herz-Score" (Tabelle 2). Aufgrund der hohen Prävalenz der koronaren Herzkrankheit sollte man ein ACS abklären. Hier empfiehlt sich umgehend ein EKG, um einen ST-Strecken-Hebungsinfarkt auszuschließen (Abb. 1). Den Patienten sollte man direkt einem Zen-
trum mit Bereitschaft zur perkutanen Koronar-intervention für eine rasche Revaskularisation zuführen. Bei Verdacht auf ein akutes Vorliegen einer der "Big Five" ist eine umgehende Klinikeinweisung in Notarztbegleitung erforderlich.
Akutes Koronarsyndrom
Unter dem ACS werden der ST-Elevationsinfarkt (STEMI), der Nicht-ST-Elevationsinfarkt (NSTEMI) sowie die instabile Angina pectoris (IAP) zusammengefasst. NSTEMI sind häufiger als STEMI. Die jährliche Inzidenz beträgt in Europa etwa 3/1.000. Sie unterscheidet sich von Land zu Land [26]. Während die akute Krankenhausmortalität bei Patienten mit STEMI höher ist als mit NSTEMI (5 – 10 % vs. 3 – 5 %), ist die Mortalität nach 6 (12 % vs. 13 %) und nach 12 Monaten (13 – 15 %) etwa gleich. Nach vier Jahren liegt diese, bedingt durch höheres Alter und mehr Komorbiditäten, bei Patienten mit NSTEMI in der Vorgeschichte sogar doppelt so hoch wie nach einem STEMI.
In den vergangenen Jahren verbesserte sich die Prognose des ACS durch die Reduktion sekundärer ischämischer Ereignisse kontinuierlich. Dies beruht auf der optimierten und standardisierten Abklärung, zunehmend sensitiver Diagnostik sowie dem breiten, frühzeitigen Einsatz der perkutanen Koronarintervention (PCI). Die Risikoreduktion für erneute kardiovaskuläre Ereignisse wird zudem durch eine duale Plättchentherapie mit potenten P2Y12-Rezeptorantagonisten (Prasugrel, Ticagrelor), ein individuell an Ischämie- und Blutungsrisiko angepasstes Regime der dualen Plättchenhemmung sowie durch eine strengere Einstellung kardiovaskulärer Risikofaktoren erreicht.
Der klassische koronarbedingte Thoraxschmerz tritt häufig retrosternal mit typischer Ausstrahlung in die linke Schulter und den linken Arm auf. Die Symptomatik kann sich aber vor allem bei Hinterwandischämien auch mit epigastrischen Beschwerden oder Schmerzen im Rücken und zwischen den Schulterblättern äußern. Häufig besteht eine vegetative Begleitsymptomatik. Nicht selten sind auch atypische Manifestationen, wie epigastrische Missempfindungen, Bauch- und Brustschmerzen und eine zunehmende Dyspnoe. Atypische Beschwerden finden sich häufiger bei Patienten über 75 Jahre, Frauen sowie Patienten mit Diabetes, chronischer Niereninsuffizienz oder Demenz [4].
Neben Anamnese und klinischer Untersuchung steht primär die EKG-Diagnostik im Vordergrund. Ein EKG sollte bei Verdacht auf ein ACS innerhalb von zehn Minuten nach medizinischem Erstkontakt geschrieben und befundet werden, damit im Falle von STEMI-relevanten EKG-Veränderungen (Tabelle 3, Abb. 1) umgehend eine Zuweisung beziehungsweise Verlegung in ein Zentrum mit Bereitschaft zur perkutanen Koronarintervention (Abb. 2) erfolgen kann. Die Verlegung sollte direkt in das zuvor benachrichtigte Herzkatheterlabor ohne Umwege über Notaufnahme oder Aufnahmestation erfolgen. Bei unauffälligem Standard-12-Kanal-EKG sollten ergänzend die erweiterten linkspräkordialen Ableitungen V7 – V9 sowie die rechtspräkordialen Ableitungen (V3R und V4R) geschrieben werden, da ein Verschluss des Ramus circumflexus oder eine rechtsventrikuläre Infarktbeteiligung im regulären 12-Kanal-EKG unter Umständen nicht zu diagnostizieren sind. Bei normalem EKG oder nur unspezifischen EKG-Veränderungen (keine ST-Strecken-Elevationen!) spielen Biomarker (vor allem das kardiale Troponin T oder I) eine zentrale Rolle für die weitere Diagnose und Risikoabschätzung. Ein negatives Troponin oder eine unauffällige Troponindynamik können eine akute Myokardischämie, nicht jedoch eine IAP ausschließen. Patienten mit Verdacht auf ein akutes Koronarsyndrom sollte man vorzugsweise in spezialisierten Einheiten ("Chest pain unit") abklären und behandeln. So ist die Weichenstellung zwischen Entlassung, weiterer ambulanter Betreuung, stationärer Aufnahme mit umgehender invasiver Koronar- und weiterführender Diagnostik sichergestellt.
Bei Verdacht auf ein ACS sollten alle Patienten ohne Kontraindikationen und ohne bereits bestehende dauerhafte antithrombozytäre Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) ASS mit einer Initialdosis von 150 – 300 mg p.o. oder 150 mg i.v. erhalten. Ergänzend wird die parenterale Gabe von unfraktioniertem Heparin in einer Dosis von 60 – 70 IE/kg KG (max. 5.000 IE) empfohlen [21]. Patienten mit Verdacht auf ein ACS bedürfen bis zum Ausschluss eines STEMI/
NSTEMI einer Monitorüberwachung sowie einer ärztlichen Begleitung mit Reanimationsbereitschaft.
Akute Lungenembolie
Die akute Lungenembolie ist ein kardiovaskulärer Notfall mit hoher Morbidität und Letalität. Die jährliche Inzidenz der LE liegt bei 39 – 115/100.000 Einwohnern, ist nach Herzinfarkt und Schlaganfall die dritthäufigste kardiovaskuläre Todesursache [9] und führt in Deutschland jährlich zu etwa 40.000 Todesfällen. Die LE kann sich mit thorakalem Schmerzgefühl zeigen (26 – 57 %), häufig begleitet von Dyspnoe (59 – 92 %) und Tachypnoe (46 – 74 %) [14].
Typisch sind Halsveneneinflussstauungen, Husten oder Hämoptysen [22]. Je nach hämodynamischer Relevanz imponieren Hypotonie und Tachykardie. Die plötzliche Symptomatik plus die Risikoanamnese für eine Thrombose machen eine LE wahrscheinlich. Bemerkenswert ist: In etwa 40 % der Fälle mit zufällig gesicherter LE liegt keine wegweisende Klinik vor [15].
Nach der aktuellen Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie ist bei Verdacht auf eine LE primär das Risiko bezüglich der geschätzten LE-bedingten Hospital- oder 30-Tages-Mortalität anhand der Kreislaufsituation zu beurteilen. Bei einem Schock oder einer anhaltenden arteriellen Hypotension mit systolischem Blutdruck unter 90 mmHg besteht ein hohes Risiko, so dass eine umgehende bildgebende Abklärung mittels Computer- beziehungsweise Echokardiografie (Abb. 3, 4) benötigt wird. Andernfalls ist die klinische Wahrscheinlichkeit für eine LE zu eruieren, z. B. mit dem Wells- und Genfer Score (Tabelle 4). Liegt diese hoch, ist direkt eine CT-Angiografie zur Diagnosesicherung indiziert. Bei niedriger oder mittlerer Wahrscheinlichkeit empfiehlt sich zunächst die D-Dimer-Bestimmung. Wird ein Assay mit mäßiger Sensitivität (Point-of-care-Test) angewandt, sollte die D-Dimer-Bestimmung nur auf Patienten mit niedriger LE-Wahrscheinlichkeit beschränkt bleiben. Altersadjustierte D-Dimer-Grenzwerte (Alter x 10 μg/l bei Patienten > 50 Jahre) erhöhen die diagnostische Spezifität des D-Dimer-Tests, ohne die Sensitivität zu beeinträchtigen. Bei erhöhtem Wert folgt die CT-Angiografie.
Bei intermediärer oder hoher Wahrscheinlichkeit einer LE sollte der Arzt die Antikoagulation einleiten, während er auf die Diagnostikergebnisse wartet. Diese umfasst in der Regel subkutanes, niedermolekulares Heparin oder Fondaparinux. Eine ebenso schnelle Antikoagulationswirkung verspricht auch ein nicht-Vitamin-K-abhängiges orales Antikoagulans. Bezüglich der Langzeittherapie ist ein direktes orales Antikoagulans (DOAC) einem Vitamin-K-Antagonisten (VKA) vorzuziehen, sofern keine Kontraindikation für DOAC besteht. Die Therapie dauert mindestens drei bis sechs Monate. Eine thrombolytische Therapie mit rekombinantem gewebespezifischem Plasminogenaktivator (rtPA), Streptokinase oder Urokinase ist der ausgeprägten Lungenarterienembolie und Hypotension beziehungsweise kardiogener Schocksymptomatik vorbehalten und wird vor allem in den intermediären Stadien der Lungenarterienembolie kontrovers diskutiert [11].
Aortendissektion
Als Hauptrisikofaktor für eine Aortendissektion gilt – neben Atherosklerose und Diabetes mellitus – die arterielle Hypertonie [6]. Iatrogene Dissektionen entstehen selten im Rahmen invasiver Katheterinterventionen oder nach chirurgischen Eingriffen. Die wichtigsten vererbten Bindegewebserkrankungen mit Beteiligung der Aortenwand sind das Marfan- und das Ehlers-Danlos-Syndrom sowie die familiäre Form der thorakalen Aortenaneurysmen und -dissektionen [25]. Die gebräuchlichste Klassifikation ist die Einteilung nach Stanford in Typ A und Typ B. Die Typ-B-Dissektion hat eine 30-Tage-Letalität von etwa 20 % und wird bei stabiler Situation – kein Kreislaufschock, kein Organversagen – primär konservativ behandelt. Häufiger ist eine Typ-A-Dissektion (Beginn im Bereich der Aorta ascendens). Unbehandelt sterben etwa 50 – 60 % der Patienten in den ersten 24 – 48 Stunden; eine umgehende Notfalloperation ist daher indiziert. Abhängig von der Lokalisation der Dissektion ist ein akuter Brust- oder Rückenschmerz mit vernichtendem Charakter und fortschreitender Schmerzausbreitung möglich. Eine Typ-A-Dissektion kann neurologische Symptome, akute Aortenklappeninsuffizienz, Perikardtamponade oder akute Koronarischämie bei Mitbeteiligung der Koronarostien zur Folge haben. Nicht selten denkt man zuerst an ein ACS. Die Vortestwahrscheinlichkeit für eine Dissektion lässt sich grob anhand eines Risiko-Scores (Tabelle 5)
abschätzen. Die Differenzialdiagnose einer akuten Aortendissektion sollte der Arzt immer bei ungeklärter Synkope (13 %), Brust- (61 %), Rücken- (53 %) oder Bauchschmerzen (3 %), Schlaganfall (4,7 %) oder akuter Herzinsuffizienz (6,6 %) erwägen. Dabei sind seitendifferente Pulse (15 %) oder Zeichen einer Malperfusion besondere Verdachtsmomente [16, 19].
Für das Überleben bei akuter Aortendissektion (vor allem Typ A) ist die Zeit bis zur operativen Versorgung entscheidend. Bei Verdacht muss die Einweisung in eine Klinik mit Thorax-OP erfolgen. Der Nachweis einer Dissektionslamelle, die zwei Lumina innerhalb der Aorta trennt, gilt als Beweis für eine Aortendissektion. Bildgebung der ersten Wahl sind transthorakale (Abb. 5) und transösophageale Echokardiografie sowie Computertomografie (Abb. 6).
Pneumothorax
Ein spontaner Pneumothorax tritt selten auf (ca. 1,2 – 28/100.000 Einwohner), Männer sind häufiger als Frauen betroffen [5]. Nikotin-
abusus, Lungenemphysem, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Mukoviszidose, Marfan-Syndrom oder Traumen sind prädisponierende Faktoren. Als klassisches Symptom gilt der plötzlich einsetzende Thoraxschmerz, der atemabhängig auftritt und mit Reizhusten verbunden sein kann. Die Symptomatik ist jedoch häufig nur mild oder besteht gar nicht. Bei Tachykardie, Hypotonie und Dyspnoe muss man an einen Spannungspneumothorax (3 – 5 % der Fälle) denken. Bei ausgeprägtem Pneumothorax imponieren in der Kontrolle hypersonorer Klopfschall und aufgehobenes Atemgeräusch. Bei einer Spannungssituation ist eine umgehende Entlastung nötig – wegen des hohen Risikos für einen drohenden Kreislaufschock. Ein Pneumothorax mit einer Ausdehnung unter 2 cm kann auch konservativ geführt werden [13].
Boerhaavesyndrom
Die spontane Speiseröhrenruptur (Boerhaavesyndrom) ist ein seltener Riss durch alle Wandschichten des Ösophagus. Überwiegend sind Patienten zwischen 40 und 60 Jahren betroffen, Männer häufiger als Frauen (2:1 – 5:1) [23].
Die Ruptur beruht auf einem plötzlichen und heftigen Druckanstieg infolge massiven Erbrechens. In der Regel treten starke retrosternale Schmerzen auf, aber auch Übelkeit und Dyspnoe, zudem sind Haut- oder Mediastinalemphysem möglich [17], sekundär eine Mediastinitis, die die hohe Letalität bedingt. Das Boerhaavesyndrom bedarf einer umgehenden chirurgischen Therapie. Wird die Diagnose nach den ersten Symptomen innerhalb von 12 Stunden gestellt und operiert, lässt sich eine Überlebensrate von 60 – 70 % erreichen. Bei verzögerter Diagnosestellung (> 48 h) liegt die Mortalität bei fast 90 % [20].
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert
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Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (14) Seite 16-21