Blutbildveränderungen gehören zum ärztlichen Alltag – sowohl im Rahmen gezielter Diagnostik als auch bei Routinescreenings. Um zwischen harmlosen und behandlungsbedürftigen Krankheiten differenzieren zu können, sind neben anamnestischen Angaben in der Regel auch weiterführende Untersuchungen notwendig. Der nachfolgende Artikel soll eine Übersicht über die epidemiologischen Merkmale ausgewählter Blutbildveränderungen geben und zur Hilfestellung bei deren Abklärung dienen.
Eine problemorientierte und ausführliche Anamnese ist oft richtungsweisend. Hierbei gilt es, nach Symptom- und Befunddynamik, B-Symptomatik (Fieber > 38,5°C, Nachtschweiß, ungewollter Gewichtsverlust > 10 % des Körpergewichts in sechs Monaten), Allergien, Vorerkrankungen, Sozial- und Reiseanamnese, Tierkontakt sowie Medikamenteneinnahme/Noxenexposition zu fragen, um eine erste Differenzierung treffen zu können.
Rotes Blutbild
Die mit Abstand häufigste Veränderung ist eine Anämie. Dabei macht die Eisenmangelanämie (IDA; Iron Deficiency Anemia) mit mindestens 50 % der Fälle den Hauptanteil aus. An zweiter Stelle ist die Anämie der chronischen Erkrankung (ACD; Anemia of Chronic Disease) zu nennen, wobei keine eindeutigen epidemiologischen Zahlen zur Prävalenzrate vorliegen, da die ACD häufig in Kombination mit einer Eisenmangelanämie vorliegt und manchmal mit dieser verwechselt wird.
Die Eisenmangelanämie tritt mit einer Prävalenz von 5 – 10 % in der europäischen Bevölkerung auf. Die Ursachen dafür sind vielfältig. An erster Stelle steht der Blutverlust, sei es im Rahmen natürlicher physiologischer Prozesse wie der Regelblutung oder okkulter Blutungen, z. B. im Rahmen gastrointestinaler Erkrankungen. Erhöhter Eisenbedarf in der Schwangerschaft, im Wachstum oder bei sportlich aktiven Menschen sind weitere Gründe. Eine von fünf Frauen im gebärfähigen Alter leidet an einer Eisenmangelanämie und noch weit mehr an einem latenten Eisenmangel, der bei entsprechender Symptomatik bereits als behandlungsbedürftig gilt.
Auch eine verminderte Eisenaufnahme kommt als Ursache einer IDA infrage, wobei hier zwischen nutritiven Defizienzen und Resorptionsstörungen unterschieden wird. Aufgrund der westlichen, fleischreichen Ernährung sind nutritive Ursachen eher selten. Bei den Resorptionsstörungen kommen Zöliakie, atrophische oder Helicobacter-pylori-positive Gastritiden, chronische Therapie mit Protonenpumpeninhibitoren oder Zustand nach bariatrischen Operationen infrage.
Von einer IDA abgegrenzt werden muss die ebenfalls hypochrome, mikrozytäre Anämie der chronischen Erkrankung. Die häufigsten zugrundeliegenden Erkrankungen sind hierbei Autoimmunerkrankungen, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, chronische Hepatopathien, Malignome und Infektionskrankheiten. Es liegt kein klassischer Eisenmangel, sondern eine funktionelle Eisenverwertungsstörung vor. Es kommt zu einer Eisenrestriktion durch Induktion von Hepcidin, welches den einzigen Eisenexporteur Ferroportin hemmt – so verbleibt das Eisen intrazellulär und steht nicht zur Hämatopoese zur Verfügung. Laborchemisch ist die ACD durch hohes Ferritin als Ausdruck gefüllter Eisenspeicher, jedoch mit normalen Werten des löslichen Transferrinrezeptors (sTfR) gekennzeichnet.
Wenn der lösliche Transferrinrezeptor trotz erhöhten Ferritins hochreguliert ist, spricht dies für eine Eisenmangelanämie (Abb.1).
Die Anämie ist meist nur Symptom des eigentlichen pathologischen Geschehens. Daher ist die Bestimmung des Kausalnexus für die Therapieentscheidung essenziell. Im Rahmen der Auswertung des roten Blutbildes als Mittel zur ursächlichen Abklärung einer Anämie gilt das Interesse hier zunächst den Retikulozyten als Vorstufe der roten Blutkörperchen.
Bei der Analyse der Retikulozytenzahlen weisen erhöhte Werte auf eine adäquate Nachbildung im Rahmen einer Blutung oder Hämolyse hin. Erniedrigte Zahlen deuten auf einen Nährstoffmangel oder eine Bildungsstörung hin.
Betrachten wir die Dimensionen der Zellgröße und Farbreaktion, so legen mikrozytäre, hypochrome Zellen den Verdacht auf einen Eisenmangel nahe. Makrozytäre, hyperchrome Zellen hingegen lassen eher an einen Mangel an Vitamin B12 oder Folsäure denken.
Eine Makrozytose findet sich außerdem beim myelodysplastischen Syndrom (MDS), Alkoholismus oder Leberzirrhose und entwickelt sich häufig auch regenerativ nach dem Start einer Eisensubstitutionstherapie.
Bei Verdacht auf eine renale Ursache einer normochromen, normozytären Anämie ist die Bestimmung des Erythropoetinspiegels angezeigt, wobei dieser meist vermindert ist. Eine Erhöhung gibt hingegen Hinweis auf eine Knochenmarkinsuffizienz.
Bei normochromen, normozytären Anämien sollte neben der Basisdiagnostik eine Immunfixation aus dem Serum und Harn vorgenommen und Immunglobuline, Schilddrüsenwerte, Kortisol und antinukleäre Antikörper bestimmt werden.
Bei Anämien mit Verdacht auf Blutung oder Malignom ist eine gynäkologische, gastroenterologische beziehungsweise weiterführend bildgebende Abklärung unerlässlich.
Weißes Blutbild
Bei der Beurteilung der Leukozyten und des Differenzialblutbilds sollten immer Absolutwerte herangezogen werden. So gehen 50 % der Lymphozyten bei einer verminderten Leukozytenzahl von 2.000/L automatisch einher mit einer Neutropenie, sind jedoch bei deutlicher Leukozytose von 60.000/LAusdruck einer – möglicherweise suspekten, neoplastischen – Lymphozytose.
Bei erstmaligem Auftreten einer isolierten Neutropenie mit Neutrophilen > 1.000/L ohne vermehrte Infekte und mit unauffälliger Anamnese sollten Kontrollen vorerst sehr engmaschig erfolgen und können bei fehlender Dynamik ausgedehnt werden. Hier zu nennen ist die benigne ethnische Neutropenie (BEN), die bei ca. 25 – 50% der Menschen mit afrikanischer oder nahöstlicher Abstammung vorkommt und ohne gesteigerte Infektneigung einhergeht.
Bei einer Leukozytose kommen vielfältige Ursachen infrage. Eine sehr häufige Befundkonstellation ist Leukozytose und Rauchen. In den meisten Fällen handelt es sich um asymptomatische Patient:innen mit Leukozytenwerten zwischen 10.000 und 20.000/Lohne das Vorhandensein einer Lymphozytose oder Basophilie. Die restlichen Blutwerte rangieren ebenfalls zumeist in der Norm,
jedoch zeigt sich oft eine zusätzliche Erhöhung des C-reaktiven Proteins (CRP).
Eine Leukozytose mit Linksverschiebung liegt dann vor, wenn vermehrt granulozytäre Vorstufenzellen im peripheren Blut detektierbar sind, d. h. Stabkernige, Metamyelozyten, Myelozyten, Promyelozyten bis hin zu Blasten. Ein solches "buntes Blutbild" in Verbindung mit einer neutrophilen Leukozytose gibt Hinweise auf das Vorliegen einer chronisch myeloischen Leukämie (CML) und bedarf spezieller Abklärung. Wenn es zum Fehlen von mittleren Reifungsstadien der Granulopoese und einer Vermehrung von undifferenzierten Blasten kommt (leukämische Lücke; "Hiatus leucaemicus"), liegt der Verdacht einer akuten myeloischen Leukämie nahe und erfordert umgehende Kontaktaufnahme mit einem Zentrum. Die AML ist mit über 80% die häufigste Form der akuten Leukämien im Erwachsenenalter mit einer jährlichen Inzidenz von 3,5/100.000. Das Erkrankungsrisiko steigt ab dem 65. Lebensjahr deutlich an und gilt im Gegensatz zur akuten lymphatischen Leukämie (ALL) als eine Erkrankung des älteren Menschen.
Bei der Kombination aus Leukozytose und Thrombozytose oder Polyglobulie muss an eine myeloproliferative oder chronisch-entzündliche bzw. maligne Erkrankung gedacht werden und die Überweisung zu einer Fachärzt:in für Hämatologie ist angezeigt. Eine isolierte Polyglobulie kann sich außerdem bei respiratorischer Insuffizienz, Rauchen, Schlaf-Apnoe-Syndrom oder bei Testosterontherapie, Missbrauch von androgenen, anabolen Steroiden oder durch Erythropoese-stimulierende Substanzen entwickeln.
Die chronisch lymphatische Leukämie (CLL), definitionsgemäß ein indolentes B-Zell-Lymphom, geht mit einer Inzidenz von 4:100.000 pro Jahr einher und ist somit die häufigste chronische Leukämieform. Patient:innen mit CLL müssen nicht zwingend in einer hämatoonkologischen Praxis in Kontrollen sein, solange keine Therapiebedürftigkeit vorliegt – es kann zunächst eine "Watchful-waiting-Strategie" verfolgt werden. Die Notwendigkeit einer Therapie ergibt sich bei Zunahme der Zytopenien (Hb < 10 g/dl, Thrombozyten < 100.000/L), B-Symptomatik, progredienter oder symptomatischer Lymphadenopathie bzw. Splenomegalie, rasch progredienter Lymphozytose (Lymphozytenverdoppelungszeit < 6 Monate oder Anstieg um 50% in 2 Monaten bei einem Ausgangswert von mindestens 30.000/L) sowie refraktären Autoimmunzytopenien oder schwerwiegender Fatique.
Beachte: Als weiterführende Diagnostik hämatologischer Erkrankungen sind die sonographische Bestimmung der Milzgröße sowie des peripheren Lymphknotenstatus, die Knochenmarkbiopsie inkl. molekularbiologischer und zytogenetischer Untersuchungen bzw. die Lymphknotenexstirpation zu nennen. Das weitere Prozedere ergibt sich unter Berücksichtigung des körperlichen Befunds, der Krankengeschichte und der laborchemischen und histologischen Ergebnisse.
In der Regel lassen sich mit einer gezielten Basisdiagnostik Patient:innen mit temporären Blutbildveränderungen von kritisch Kranken mit akut kompromittierenden Ursachen unterscheiden, bei denen akuter Handlungsbedarf besteht und eine umgehende Kontaktaufnahme mit einem Spezialzentrum angezeigt ist. Warnzeichen sind rasch progrediente Symptomatik oder zusätzlich zur Anämie vorliegende laborchemische Parameter wie Thrombozytopenie, Leukozytopenie oder Leukozytose, Fragmentozyten, LDH-Erhöhung als Marker des Zellumsatzes, erhöhte Nierenretentionsparameter und Bilirubin sowie erniedrigtes Haptoglobin als Ausdruck einer Hämolyse, hohes Ferritin oder auch eine Organomegalie (Hepato- oder Splenomegalie) (Abb. 2).
Im besten Fall führt die Abklärung zu einer Arbeitsdiagnose, die eine adäquate Behandlung nach sich zieht. In vielen Fällen ist jedoch keine sofortige Diagnosestellung möglich, da es sich um passagere, reaktive Blutbildveränderungen handelt. Hämatoonkologische Systemerkrankungen sind sehr selten, bedürfen jedoch unverzüglicher Abklärung und Versorgung in einem spezialisierten Zentrum.
- Die häufigste Blutbildveränderung ist die Anämie, dominierende Ursache ist der Eisenmangel.
- Bei der Beurteilung des weißen Blutbilds sollten immer Absolutzahlen herangezogen werden.
- Hämatoonkologische Systemerkrankungen sind selten.

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (4) Seite 44-47