Die Corona-Pandemie gibt in vielen gesellschaftlichen Bereichen Anlass, bisher etablierte Strukturen und Vorgehensweisen auf den Prüfstand zu stellen. Krisen sind eben immer auch Zeiten von Veränderungen. Auch die Hausarztmedizin wird davon betroffen sein, insbesondere ihr Verhältnis zur technologisch möglichen Maximalversorgung, meint unser Autor, der Hausarzt Dr. med. Marcus Berg. Er sieht darin auch eine Chance. Wir wollen Ihnen seine Gedanken dazu nicht vorenthalten.

Wir leben in Zeiten, die als höchstes Ziel einen immer schnelleren Fortschritt und Wachstum in allen Bereichen vorsehen. Zeiten der Maßlosigkeit und gefühlten Grenzenlosigkeit, bei Konsum, Reisen, Verbrauch von Ressourcen, dem Umgang mit den Mitgeschöpfen und der Natur. Diese Gedanken haben sich auch in der modernen Medizin durchgesetzt. Es hat auch in der Medizin eine unglaubliche Technisierung stattgefunden.

Der Mensch als reparables Objekt?

Der Fortschritt in der Medizintechnik, die Spezialisierung der Fachgebiete führte zum allgemeinen Gedanken, dass alles machbar ist. Eine wahnhafte Idee, dass jede Krankheit, jedes Leiden mit maximaler Technologie behandelt und gerettet werden kann. Ohne technische Untersuchungen wie MRT, Computertomographie, Herzkatheter-Untersuchung und komplexe Intensivmedizin ist ein Leben in der modernen medizinischen Welt kaum mehr vorstellbar. Technisierte Medizin kann gleichwohl zu einer großen Hilfe für den Menschen werden, dazu führen, Leiden zu lindern. Doch allzu oft bewirkt sie, dass wir den Menschen nicht mehr wahrnehmen, sondern als Objekt sehen, das es zu reparieren gilt.

Die Technologisierung der Medizin führte zu einer drastischen Entfremdung vom normalen Lebensverlauf, der in der Geburt des Menschen seinen Anfang findet und sich am Ende seines Lebensweges im Sterben und Tod erfüllt. Dass die zunehmende Technologisierung der Medizin auf viele Fragen keine Antwort mehr zu geben vermag, spüren die Menschen schon seit Langem. Parallel zu der Hochleistungs- und sogenannten Schulmedizin entwickelte sich in Deutschland eine Paramedizin, die ihresgleichen sucht. Die Menschen stimmen schon lange mit den Füßen ab, ohne dass die Ärzteschaft dies wahrhaben will. Mittlerweile gibt es in Deutschland zahlenmäßig mehr niedergelassene Heilpraktiker als Hausärzte, mit steigender Tendenz. Obgleich das dortige Fachwissen nicht selten erschreckend gering ist, denken manche Krankenkassen laut über eine Aufnahme in den Leistungskatalog nach.

In der Krise ist der Hausarzt gefragt

Den Satz "ein Allgemeinmediziner kann alles, aber nichts richtig" habe ich aus meinem Studium noch im Kopf. Der Gedanke, dass der Facharzt für Allgemeinmedizin, der Hausarzt, vom Stellenwert Facharzt für Bagatellerkrankungen ist, hat sich gesellschaftlich eingeprägt und ist auch bei den Ärzten und vor allem an den universitären Lehrstühlen weit verbreitet. So ist es nicht verwunderlich, dass sich so wenige für dieses so wichtige Fachgebiet entscheiden.

Gerade jetzt sind viele Menschen völlig verunsichert, sie suchen nicht nur Hilfe, sondern auch Beratung, Zuspruch, Segen und Heilung. Auf einmal ist der vorher nicht allzu hoch geschätzte Hausarzt gefragt. Ein wissenschaftlich gut ausgebildeter Arzt eben, der Halt, Sicherheit und Richtung geben kann in unsicheren Zeiten, der Trost zu spenden und Hoffnung zu geben vermag, der Leiden lindern kann und so ursprünglich ärztlich tätig sein kann wie seit vielen Jahren nicht mehr!

Bereits im Studium wird den Ärzten beigebracht und eingeimpft, dass der Tod eines Patienten Versagen und Misserfolg bedeutet – ein Verstoß gegen die Gebote der Hightechmedizin. Wer den Tod nicht bekämpft, bis auch die letzte noch mögliche und unmögliche Maßnahme ergriffen wurde, hat ärztlich versagt. Darüber wird vergessen, dass die lebenserhaltende Maximaltherapie nicht nur ihre Grenzen, sondern auch ihren menschlichen Preis hat. Wenn das rhythmische Pumpen des Beatmungsgerätes verstummt ist, die Schläuche abgebaut und die kreislaufstabilisierende Therapie beendet sind, bleibt allzu oft ein Körper zurück, dessen selbstbestimmtes freies Leben dahingegangen ist. Ein leerer geschundener Körper, der unbegrenzt leiden kann, aber nichts Lebendiges mehr in sich trägt.

Ärzte als Richter über Leben und Tod?

Viele Ärzte verspüren Angst, in eine Rolle gedrängt zu werden, in der sie quasi zum Richter werden, um über Leben und Tod zu entscheiden – in der sie festlegen müssen, welcher Patient eine Maximaltherapie erhält oder versterben darf. Wenn man ehrlich ist, hat sich daran seit Jahrhunderten nichts geändert. Es ist die Aufgabe des Arztes, zusammen mit seinem Patienten eine Therapie festzulegen, die für den Patienten geeignet ist und die seinen Lebens- und Glaubenssätzen entspricht. Dies ist eine höchst individuelle Entscheidung, die nur gemeinsam getroffen werden kann. Da helfen auch keine Ethikkommissionen und hochdekorierte Professoren oder Kriterien, die man am runden Tisch verfasst. Ja selbst eine Patientenverfügung ist oft entbehrlich und kann nur eine kleine Hilfestellung sein. Es ist die Entscheidung des Patienten und seines behandelnden Arztes im Augenblick des Lebens.

Daraus erwächst für den Arzt eine große Verantwortung. Der einfachste Weg scheint dann die Einweisung in ein Krankenhaus, die Intensivmedizin, das Beatmungsgerät zu sein. Die Maximaltherapie ist immer der einfachste Weg – entbindet sie doch jeden vollständig von Verantwortung und genau deshalb wird dieser Weg so oft ziellos begangen.

Der Hausarzt begleitet den Menschen

Viel schwieriger ist es, den Menschen zu begleiten, dessen Leben sich durch eine schwere Infektion der Atemwege erfüllt und zu Ende geht. Aus dem Drang, immer die Maximaltherapie zu wählen, entsteht eine Situation, wie wir sie auf manchen Intensivstationen vorfinden. So sind viele Patienten, die intensivmedizinisch beatmet werden, hochbetagt, schon vor der Infektion mit sehr schweren Krankheiten und erheblicher Einschränkung ihrer Lebensqualität beeinträchtigt – am Ende ihrer Lebenslinie angekommen.

In vielen Gesprächen und Beratungen zur Palliativmedizin und zur Patientenverfügung höre ich immer den gleichen Satz, in dem praktisch alle Patienten sagen, dass sie sich nicht wünschen, an Apparate angeschlossen zu versterben. Niemand möchte das! Nahezu alle Patienten sagen, wenn ich körperlich nicht mehr in der Lage bin, selbstbestimmt zu leben, ich nicht mehr am Leben teilnehmen kann, ohne ausdauernde Hilfe keine Nahrung mehr aufnehmen kann, wenn mein Leben gelebt ist, sich dem Ende zuneigt, möchte ich eine Begleitung. Aber ich möchte keine Intensivbehandlung mit Beatmung und allem, was die moderne Intensivmedizin zur Verfügung stellt.

Als Hausärzte und Allgemeinmediziner betreuen wir unsere Patienten intensiv und häufig über lange Zeiträume. Wir kennen die Lebensmodelle, wir kennen die sozialen Gegebenheiten. Wir kennen auch die Lebenswünsche unserer Patienten und können so ein Segen sein. Dazu müssen wir uns rückbesinnen auf das, was den Hausarzt, den Allgemeinmediziner ausmacht. Rückbesinnen auf ärztliches Handeln und die ärztlichen Tugenden. Wir legen keine Schubladen fest, in die wir die Patienten einordnen, weder nach Alter noch nach ihren Grunderkrankungen oder sozialem Status. Wir sehen den Patienten nicht als Objekt, das repariert werden muss. Wir sehen den Menschen ganzheitlich bestehend aus Körper, Geist und Seele mit seiner eigenen Biografie, seinen Lebenswünschen und seinen Lebensmodellen.

Der Hausarzt als Arzt im eigentlichen Sinne

Als Hausärzte dürfen wir unsere Patienten begleiten, das ist die Herausforderung der ärztlichen Tätigkeit in der heutigen Zeit – und es ist eine ungeahnte Chance. Schon sehr lange war die Allgemeinmedizin nicht so wichtig und so intensiv. Sich zurückzubesinnen auf das, was uns als Allgemeinärzte ausmacht. Die ursprüngliche ärztliche Tätigkeit ist es, die Not, die Angst, die Schmerzen und die psychische und physische Belastung für den Patienten und die liebenden Angehörigen zu nehmen, zu helfen, den richtigen Weg für jeden einzelnen Patienten zu finden. Für den einen wird das die Maximaltherapie sein, für einen anderen die liebevolle palliativmedizinische Betreuung und Begleitung.

Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen von Herzen, dass es ihnen gelingen mag, diese verlorene Kunst des ärztlichen Heilens wieder zu entdecken – unsere Patienten zu begleiten auf ihrem Lebensweg – da zu sein als Arzt im eigentlichen Sinne. Ich wünsche Ihnen viel Kraft, diese unendlich große Chance zu nutzen.



Autor:

Dr. med. Marcus Berg

Hausärztlicher Internist
55268 Nieder-Olm

Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (9) Seite 68-70