War vor Jahrzehnten jemand seiner Zeit voraus, verfügte er über ein Telefon mit einem Netzwerk aus Kupferkabeln. Dadurch war der Benutzer "immer auf Draht". Weil die Halbwertszeiten für Daten immer rasanter schwinden, müssen sie jedoch heute "wireless" und mit Hochgeschwindigkeit unter das Volk gebracht werden, weil sie sonst schon beim Eintreffen als verstaubte Raritäten belächelt werden. Steingemeißelte Uraltweisheiten werden dadurch zu Makulatur: "Am Telefon und durch die Hose stellt man keine Diagnose", tönte damals mein Chef und ausschließlich telefonische Behandlungen galten als Sakrileg.

Doch jetzt und ohne Draht ist alles anders. Hausärztliches "decision making" kann unabhängig von Raum, Zeit und physischer Kontaktaufnahme stattfinden, Telekonsil und Videosprechstunde sind en vogue und haben durch die Pandemie noch mal rasant zugelegt. Aber wirklich neu ist diese Behandlungsmethode ja nicht, zumindest seit es Mobiltelefone mit Snapshot-Funktion gibt. Seitdem führe ich dank dieser Technologie ein ärztliches Doppelleben, eine petite télémédecine quasi, außerhalb meiner Sprechzeiten. So kann ich mich an eine Altenpflegerin erinnern, die mir bei der Visite im Altenheim erzählte, dass sie nach stressigen Arbeitstagen nachts immer wie ein Karpfen aussehe, weil ihre Lippen gewaltig schwellen würden. Noch ehe sie einen Arzt konsultieren könne, sei nach ein paar Stunden der Spuk wieder vorbei. Ich vermutete ein angioneurotisches Ödem und empfahl ihr, den casus knacksus per Selfie aktenkundig zu machen. Schon kurz darauf bestätigten aussagekräftige Fotos in meinem E-Mail-Account die Verdachtsdiagnose.

Eine 26jährige Aktivsportlerin leidet immer wieder unter Halsschmerzen, die fallweise auch antibiotisch behandelt werden müssen. Ein klares Knock-out-Kriterium für ihren Sport. Weil sie ihre Schluckbeschwerden dummerweise aber immer dann hat, wenn sie gerade auf der Skipiste unterwegs ist, empfahl ich einen telemedizinischen Lösungsansatz. Prompt hat sie mich mit einem überzeugenden Handy-Schnappschuss ihrer aktuellen Pharyngitis lateralis überrascht. Mein Behandlungsvorschlag folgte umgehend per SMS.

Den Vogel schoss aber eine Patientin ab, die auf einer Trekkingtour in Down Under unterwegs war. Noch zu nachtschlafender Zeit schickte sie mir das Bild eines scheußlich aussehenden Insektenstichs an ihrem Unterarm mit der Bitte um erste Hilfe, die dann auch prompt quer durch den Äther ging. Ein dicker Danke-Smiley war die Rückantwort. Das streichelt die Hausarztseele und lässt die gestörte Nachtruhe doch glatt vergessen.


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2020; 1 (1) Seite 82