Ausgedehnte Wälder, bizarre Felsen, jahrtausendealte Moore, ursprüngliche Bachläufe und der majestätische Brocken – das ist der Harz. In dieser sagenumwobenen Bergwildnis fühlen sich nicht nur Luchs und Wildkatze zuhause. Mittendrin liegt Stolberg. Die mittelalterliche Fachwerkstadt ist Luftkurort, historische Europastadt und Thomas-Müntzer-Stadt. Unsere Reiseautorin hat sich tief in die Stadtgeschichte begeben.

Der Brocken, der höchste Berg im Harz, ist an mehr als 300 Tagen des Jahres in Nebel gehüllt und verleiht der Gegend etwas Geheimnisvolles. Märchen und Mythen ranken sich um Höhlen und Höhen. Kein Wunder, denn dichte Wälder, rauschende Bäche und bizarr geformte Felsen beflügeln die Fantasie der Menschen. Zu den mysteriösen Gestalten gehören die Hexen, die an Walpurgis auf ihren Besen zum Blocksberg reiten. Auch das Brockengespenst, das bei Nebel auf dem Brockengipfel geistert, oder der Bergmönch, der armen Bergleuten Silbertaler schenkt. Selbst die Orte erzählen Geschichten, die nicht nur in Museen zur Schau gestellt werden.

Jahrhundertealtes Fachwerk

Wer Stolberg im Südharz besucht, blättert in einem Geschichtsbuch. So viel Historisches und so perfekt erhalten. Hier schmiegen sich Fachwerkhäuser aneinander, von denen manche fünf- oder sechshundert Jahre auf dem Buckel haben. Krumm und schief stehen sie da, es scheint, als geben sie sich gegenseitig Halt. Hinweistafeln und ein Ensemble aus Skulpturen am Markt erinnern daran, dass hier der Bauernführer Thomas Müntzer um 1489 geboren wurde. Liebhaber alter Münzen finden im Museum "Alte Münze" eine komplett erhaltene Werkstatt mit Geräten aus dem 15. bis 18. Jahrhundert.

Im Gasthaus Kupfer kann man speisen wie vor hunderten von Jahren. Die Tische und Stühle sind aus warmem braunem Holz. Die Holzdecke wird von stämmigen Balken getragen. Einige Fenster haben Butzenglasscheiben. Die Spezialität des Hauses sind die Stolberger Lerchen, fingerdicke Bratwürste im Schafs- oder Ziegendarm. Sie werden luftgetrocknet und dann leicht angeräuchert. Ihren Namen bekamen sie, weil sie in der Pfanne zwitschern und so Geräusche wie die Lerchen in der Luft von sich geben. Erfunden hat sie vor über 150 Jahren der Fleischermeister und Gastwirt Ernst Mansfeld. Der schickte dem König von Preußen während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 ein Fresspaket mit den dünnen Bratwürsten ins Feldlager. Ein Erfolg, denn kurz darauf wurde der Fleischermeister zum königlichen Hofschlächtermeister ernannt. Im Gasthaus Kupfer werden die Stolberger Lerchen noch heute nach dem traditionellen Rezept hergestellt.

Ein Haus ohne Treppen

Das Harzstädtchen kann sich ebenso rühmen, ein überaus schönes Rathaus zu besitzen. Eines, über das immer wieder gespottet wird. Ein Haus ohne Treppen. Ob der Baumeister diese schlichtweg vergessen hat oder die Ratsherren ihm keinen genauen Plan vorlegten, weiß im Ort keiner mehr so genau. Ursprünglich wurde das Rathaus von der Kaufmannsgilde als "Koufhus" (Kaufhaus) gebaut. Sie erwarben drei Grundstücke am Markt und ließen 1452–1454 das heutige Rathaus bauen. Weil die breite Treppe zur Kirche schon vorhanden war, wollte man die Treppe aus Platzgründen im Inneren sparen, da die drei Etagen des Hauses sowieso verschieden genutzt wurden. Unten war Lagermöglichkeit für die Waren der Kaufleute, die erste Etage wurde als Versammlungs- und Tanzsaal genutzt und ganz oben war die Schule untergebracht. Zum Rathaus erhoben wurde das Gebäude erst 1724, zu dieser Zeit erhielt es auch den Felderschmuck mit den Innungszeichen der Handwerker und die prächtige Sonnenuhr an der Fassade. Jedenfalls mussten und müssen die Ratsherren nie im Finsteren tagen. Denn das Rathaus hat so viele Fenster wie ein Jahr Wochen und so viele Scheiben, wie das Jahr Tage zählt. Vom Markt her geht es in den Ratskeller. Der Zugang zu den beiden oberen Geschossen ist über eine breite steile Treppe möglich, die seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zur St. Martini-Kirche führt. Der Kirchturm ist ein romanisches Bauwerk aus dem 12. Jahrhundert. Viele Besucher:innen hat sie schon gesehen, unter ihnen Martin Luther, der 1525 hier predigte. Damit ihn keiner vergisst, wurde der Reformator ins Bleiglasfenster gegossen.

Beherrschend jedoch ist und bleibt das Schloss Stolberg, das die Deutsche Stiftung Denkmalschutz seit 2002 saniert und restauriert. Es thront auf dem steil abfallenden Bergsporn. Jahrhundertelang diente es den Grafen zu Stolberg als Stammsitz. Prunkvolle Salons, hohe Türme und romanische Gewölbe findet man bei einem Rundgang, Gäste können die Repräsentationsetage im Südflügel des Schlosses besuchen und sich über die Baugeschichte und über das Grafen- und Fürstenhaus Stolberg informieren.

Ein Eiffelturm im Harz?

Gräfin Louise Auguste Henriette zu Stolberg-Stolberg ist eines der bekanntesten Familienmitglieder. Da sie das Leben liebte, war es ihr auf dem Land oft zu langweilig. Sie lud ihre Freunde aus Berlin aufs Schloss ein. Unter ihnen Karl-Friedrich Schinkel, den bekannten Baumeister. Einer, der verstehen müsste, einen Turm zu bauen, fanden Louise und ihr Mann Graf Joseph. Er erteilte dem Baumeister den Auftrag, einen Aussichtsturm in Form eines Doppelkreuzes auf dem 580 Meter hohen Auerberg zu errichten. Der herrlichen Sicht wegen kamen die Touristen und kletterten über hölzerne Leitern 22 Meter hoch. Über 40 Jahre gönnte das Kreuz den Besuchern den herrlichen Blick. Ein heftiges Gewitter mit Blitzeinschlägen im Jahr 1880 allerdings überstand es nicht. Stolberg ohne Aussichtsturm? Das geht nicht. Josephs und Louises Idee wurde 16 Jahre später wieder aufgegriffen. Nur größer, stabiler und technisch perfekter sollte der Aussichtsturm sein. So wie der Pariser Eiffelturm, stellte man sich vor. Von Rottleberode aus brachten Pferdewagen 128 Tonnen Eisen auf den Berg. Tagelang schufteten die Arbeiter der Dampfkessel- und Gasometerfabrik Braunschweig und nieteten die Eisenkonstruktion fest. Der Ansturm der Interessenten riss nie ab. Ende der 1980er-Jahre wurde der Turm rekonstruiert und 2003 umfassend saniert. Heute kommen jährlich 30.000 bis 50.000 Besucher:innen und steigen die 200 Stufen bis zur Aussichtsplattform in 38 Meter Höhe hinauf. Von dort kann man die Türme von Magdeburg, den Petersberg bei Halle, den Kyffhäuser, den Inselsberg und den Brocken sehen. Vorausgesetzt, es ist nicht alles in Nebel gehüllt.

Reise-Informationen
Allgemeine Reiseauskünfte gibt es unter

Informationen zum Schloss findet man hier:

Die original Stolberger Lerchen gibt es im:



Autor
Heidrun Lange

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (1) Seite 72-74