Hoher Leidensdruck beim Kind, schlaflose Nächte bei den Eltern: Enuresis und auch die kindliche Harninkontinenz werden oft tabuisiert, sind aber weiter verbreitet, als viele denken, und oft gut zu behandeln. Bei der monosymptomatischen Enuresis hat sich die Alarmtherapie bewährt, die grundsätzlich vor der Gabe von Desmopressin versucht werden sollte.
Etwa 30 % der Fünfjährigen, 10 % der Siebenjährigen und 5 % der Zehnjährigen sind von der Enuresis betroffen. Die Spontan-remissionsrate liegt bei 15 % pro Jahr [1 – 3]. Oft ist der Leidensdruck der Kinder sehr hoch. Das Bettnässen wird als drittschlimmstes Erlebnis nach Streit und Scheidung der Eltern genannt. Ein abwartendes Vorgehen ist deshalb nicht immer angebracht [4 – 7].
Nach Definition der ICCS (International Children’s Continence Society) sind verschiedene Formen der kindlichen Inkontinenz zu unterscheiden. Die kontinuierliche Inkontinenz (z. B. bei ektoper Mündung des Harnleiters in die Scheide, Epispadie u. a.) ist von der intermittierenden Inkontinenz zu unterscheiden, die zwischen teils mehreren Stunden der Kontrolle auftritt und bis zum Alter von fünf Jahren als physiologisch angesehen wird. Nur das Einnässen im Schlaf bezeichnet man als Enuresis. Demgegenüber steht die Inkontinenz am Tage als separate Entität. Enuresis ist zudem entsprechend ihrer Häufigkeit als solche definiert. Sie muss in mindestens zwei Nächten im Monat über einen Zeitraum von drei Monaten und nach Vollendung des 5. Lebensjahrs auftreten. Differenziert wird auch zwischen der monosymptomatischen Enuresis (nocturna) (MEN) und der nicht-monosymptomatischen Enuresis (NMEN) mit Tagessymptomatik. Bettnässen mit zusätzlichem Urinverlust am Tag hat somit zwei Diagnosen: Enuresis und Inkontinenz. Zudem gibt es die primäre und die sekundär aufgetretene Symptomatik – bei Letzterer bestand eine länger als sechs Monate anhaltende Trockenphase [8 – 10].
Monosymptomatische Enuresis nocturna (MEN)
Die multifaktoriellen Ursachen der Enuresis sind immer noch nicht vollständig geklärt. Die Drei-Stellgrößen-Theorie geht von drei relevanten Faktoren aus: 1) die Weckschwelle, 2) die Menge der nächtlichen Urinproduktion und 3) die Blasenkapazität. Eine genetische Komponente ist aufgrund der erhöhten Inzidenz bei Kindern betroffener Eltern wahrscheinlich [11, 12].
Psychische Komorbiditäten sind bei der primären MEN seltener als bei der sekundären [13, 14]. ADHS ist die häufigste psychische Komorbidität bei der sekundären MEN [15 – 17].
Tagessymptome und kindliche Inkontinenz
Lassen sich organische Ursachen einer Inkontinenz (u. a. Harnwegsanomalien, neurogene Blasenentleerungsstörungen, Polydipsie/Polyurie bei Diabetes mellitus/insipidus) ausschließen, stehen funktionelle Störungen als Differenzialdiagnosen im Fokus. Psychische Komorbiditäten liegen vor allem bei begleitender Enkopresis in bis zu 40 % der Fälle vor [13]. Die häufigsten funktionellen Störungen klärt dieser Beitrag.
Überaktive Blase
Vorwiegend Mädchen (90 %) sind davon betroffen. Als häufige Symptome zeigen sich eine gesteigerte Miktionsfrequenz (> 8/d), eine Häufung des Einnässens in den Nachmittagsstunden und eine Drangsymptomatik mit oder ohne Urinverlust. Häufig fallen Haltemanöver wie Tänzeln, Kneifen der Glans penis oder Fersenhocken auf. Auch können rezidivierende, afebrile Harnwegsinfektionen auftreten [18].
Dyskoordinierte Miktion
Eine unzureichende Relaxation von Sphinkter und Beckenboden führt zur typischen undulierenden oder Stotter-Miktion. Weitere Symptome sind Drangsymptomatik mit Urinverlust – auch hier treten häufiger afebrile Harnwegsinfekte auf. Nicht selten leiden die Kinder unter zusätzlicher Obstipation und Enkopresis (Bladder Bowel Dysfunction, BBD) [19].
Miktionsaufschub
Die Miktion wird etwa bei intensivem Spielen, wegen schmutziger Schultoiletten oder aus anderem Grund aufgeschoben. Die Kinder zeigen Haltemanöver (s. o.) und nässen größere Mengen ein. Häufig sind Mädchen betroffen [10].
Unteraktive Blase
Die unteraktive Blase ist eine mögliche Folge von Miktionsaufschub und dyskoordinierter Miktion. Bei urodynamischer Evaluation zeigt sich keine oder eine nur schwache Miktionskontraktion und eine hohe Compliance der Blase. Die Entleerung erfolgt meist durch Bauchpresse. Häufig treten rezidivierende Harnwegsinfekte auf [8].
Vaginaler Influx
Bei präpubertären Mädchen kann ein vaginaler Influx von Urin in die Scheide auftreten, was zu Harnträufeln unmittelbar nach Miktion führen kann [20].
Extraordinary daytime (only) urinary frequency syndrome
Häufig sind Mädchen im frühen Grundschulalter betroffen. Leitsymptom ist eine akute ausgeprägte Pollakisurie mit Miktionsfrequenzen etwa alle 20 – 30 Minuten. Es liegen in der Regel keine Inkontinenz und keine nächtlichen Probleme vor. Die eventuell eingeleitete, erweiterte Diagnostik ergibt meist keine pathologischen Befunde. Die Symptome sind in den meisten Fällen innerhalb von drei bis sechs Monaten selbstlimitierend [21 – 23].
Diagnostik
Bei der Diagnostik der kindlichen Inkontinenz und Enuresis werden Miktionstagebücher und ein 14-Tage-Protokoll geführt. Es erfolgt eine sorgfältige Anamnese und die körperliche Untersuchung, Urinkontrolle und Sonografie. Eine spezielle weiterführende Diagnostik wie eine Urodynamik ist sehr selten erforderlich.
Anamnese und Miktionsprotokolle
Die detaillierte Anamnese ist für die korrekte Diagnosestellung essenziell. Durch Erfragen von Symptomen des unteren Harntrakts wie Drangsymptomatik, Häufigkeit des Wasserlassens, Miktionsaufschub mit Haltemanövern, unterbrochener Harnstrahl und Urinverlust am Tag lässt sich die MEN von der NMEN oder der zusätzlichen Inkontinenz unterscheiden. Tagessymptome können Eltern übersehen, da die Trinkmenge durch die Kinder tagsüber unter Umständen eingeschränkt wird und so die Symptomatik am Tag kaschiert wird [24 – 26]. Zur Symptomevaluierung haben sich standardisierte Protokolle und Anamnesebögen etabliert ( http://www.kontinenzschulung.de ). Diese sind besonders hinsichtlich des Screenings für psychologische Begleiterkrankungen hilfreich [27].
Schon bei der Terminvereinbarung sollte der betroffenen Familie Miktionsprotokolle mit einer Anleitung zugeschickt werden. Hilfreich ist ein Anamnesefragebogen, zwingend erforderlich ein Blasentagebuch über zweimal 24 Stunden, in welches Miktionsvolumina tags und nachts, Trinkmengen, Drangsymptomatik, Stottern/Pressen, Urin- und Stuhlverlust mit Uhrzeiten eingetragen werden. Im 14-Tage-Protokoll werden Einnässen, Einkoten, Stuhlschmieren etc. mit Strichen dokumentiert. Auch ein zusätzliches, persönliches Anamnesegespräch ist sinnvoll, da Protokolle nicht immer die Realität widerspiegeln. Symptome der Stuhlentleerung müssen zwingend evaluiert werden, da Blasenentleerungsstörungen bei etwa 30 % der Patienten mit einer Obstipation vergesellschaftet sind und sich die Symptome gegenseitig aggravieren [28 – 30]. Eher als die Stuhlfrequenz gilt seine Beschaffenheit als Anzeichen einer Obstipation, sodass sich im Alltag – neben dem Abfragen der Rome-V-Kriterien [31] – die Anwendung der Bristol-Stuhl-Skala bewährt hat [32].
Bei der Auswertung des Miktionstagebuchs sollte der Arzt die funktionelle Blasenkapazität (höchste Miktionsmenge des Tages) und das nächtliche Miktionsvolumen (nächtliche Miktion, gegebenenfalls Windelgewicht plus morgendliches Miktionsvolumen) berücksichtigen. Die normal altersadaptierte maximale Blasenkapazität kann mit der Formel nach Hjälmas (Alter+ 1) x 30 ml errechnet werden. Bei V. a. eine ADH-Sekretionsstörung kann dieser durch folgende Faustregel erhärtet oder abgeschwächt werden: Beträgt die nächtliche Ausscheidungsmenge etwa die Hälfte der Tagesmiktionsmenge oder ist sie größer als 130 % der altersadaptierten Blasenkapazität, könnte eine solche Störung vorliegen [24, 33, 34].
Körperliche Untersuchung
Körperliche Ursachen der Symptome muss der Arzt ausschließen. Neben der allgemeinen Untersuchung ist eine Genitalinspektion erforderlich, bei der pathologische Befunde und Hygiene evaluiert werden. Eine physiologische Phimose kann bis zum Beginn der Pubertät vorliegen und ist in der Regel nicht mit Miktionsstörungen assoziiert [35]. Eine Rückeninspektion mit dem Fokus auf Nävi, Grübchen, asymmetrische oder tief ansetzende Rima ani und ungewöhnliche Behaarung muss im Hinblick auf eine occulte Meningomyelocele erfolgen. Ein grob orientierender neurologischer Status komplettiert die körperliche Untersuchung.
Weitere Diagnostik
Eine initiale Urinuntersuchung mittels U-Status auf Leukozyten, Nitrit, Glukose, Protein etc. sollte auch bei sonst unauffälligen Kindern erfolgen, ebenso wie die sonografische Untersuchung von Nieren, Blase und Rektum, um Anomalien des oberen Harntrakts, Restharnbildung, Rektumfüllung bei Obstipation u. Ä. zu evaluieren. Eine Uroflowmetrie kann nützliche Hinweise auf eine infravesikale Obstruktion (Plateau-Flow) oder relevante funktionelle Störungen geben und sollte bei entsprechendem Verdacht anhand von Anamnese u./o. Untersuchung erfolgen. Eine urodynamische Kontrolle ist nur bei speziellen Fragestellungen im Rahmen der erweiterten urologischen Diagnostik indiziert.
Therapie
Die Therapie der Enuresis und/oder kindlichen Inkontinenz erfolgt entsprechend der Diagnose. Die klassische Urotherapie ist grundsätzlich als Erstmaßnahme immer zu empfehlen, da sie unter Umständen das Problem schon lösen kann, bevor weitere apparative oder medikamentöse Therapien erwogen werden. Von essenzieller Wichtigkeit ist, bei Beginn der Therapie ein ausführliches Gespräch in Bezug auf realistische Erwartungen mit Kind und Eltern zu führen. Auch eine Reduktion der Inkontinenz und Enuresisepisoden ist (zumindest zu Beginn der Behandlung) schon als Erfolg zu werten.
Urotherapie
Die klassische Urotherapie umfasst einige Grundprinzipien:
Information und Demystifizierung
Auch heute noch werden Kinder, die einnässen, bestraft und gescholten [7]. Enuresis und kindliche Inkontinenz empfinden Kinder und Eltern häufig als persönliches Versagen. Vielen ist zudem nicht bewusst, dass die primäre Enuresis und die kindliche Inkontinenz weit verbreitet sind. Die Information über deren Ursachen und Häufigkeit ist deshalb essenziell. Psychologische Komponenten können (aber müssen keinesfalls) vorliegen, wobei die primäre, monosymptomatische Enuresis in der Regel nicht mit psychologischen Erkrankungen zusammenhängt [36, 37].
Instruktion und Lifestyle Advice
Die Kinder sollen alle zwei bis drei Stunden unabhängig von Durst oder Harndrang trinken und miktionieren (Timed voiding and drinking, "7-Becher-Regel") [38]. Die Trinkmenge sollte altersabhängig angepasst werden (circa 150 – 250 ml). Hilfreich sind hier (Vibrations-) Alarmuhren, welche die Kinder an den Toilettengang erinnern. Suboptimale Sitzhaltung und mangelnde Hygiene können Symptome wie Harnwegsinfektionen, vaginalen Influx oder dysfunktionelle Miktion begünstigen und sollten optimiert werden. Bei jüngeren Kindern lässt sich eine optimale Sitzhaltung mit Hilfe von Fußhockern vor der Toilette erreichen. Bei Verdacht auf einen vaginalen Influx kann die Miktion mit gespreizten Beinen (oder gar rittlings auf der Toilette sitzen) die Symptomatik verbessern. Auch Entleerungsmanöver nach Ende der Miktion, wie das Anfassen der Füße im Sitzen, können zum Entleeren des Urins aus der Vagina hilfreich sein.
Eine ggf. erforderliche Stuhlregulierung kann mit Macrogol (z. B. Movicol junior® oder Laxbene®) durchgeführt werden. Der Stuhlgang sollte weich, aber geformt sein (Typ 4 auf der Bristol-Skala). Eine "Auswaschphase" zu Beginn kann die anschließende individuelle Dosisfindung erleichtern. Die Bristol-Skala kann den Eltern mitgegeben werden. Für die Autorinnen hat sich in der Praxis ein individualisiertes Merkblatt bewährt, das der Familie ausgehändigt wird und auf dem Trinkmengen und die empfohlenen Verhaltensweisen nachzulesen sind.
Dokumentation, Unterstützung, Ermutigung
Um Erfolge abschätzen zu können und die Kinder in die Behandlung einzubeziehen und zu ermutigen, sind Trocken-Nass-Kalender hilfreich. Bei der zweiten Vorstellung werden die Protokolle gemeinsam mit den Kindern angeschaut und Erfolge kommentiert. Die Kinder sollte man auch selbst um eine Einschätzung zur Miktionssituation bitten. Denn häufig sind die Patienten mit kleineren Erfolgen schon deutlich zufriedener als die Eltern.
Alarmtherapie oder Desmopressin
Die Alarmtherapie zeigt grundsätzlich einen anhaltenderen Erfolg als Desmopressin. Sie setzt jedoch ein hohes Maß an Motivation voraus. Die Alarmtherapie (Klingelhose) ist die Therapie der ersten Wahl bei monosymptomatischer Enuresis [9]. Um sie erfolgreich einzusetzen, ist eine gründliche Erklärung des Prinzips und eine Anleitung der Anwendung erforderlich, um einen frühzeitigen Therapieabbruch zu verhindern. Wachen die Kinder bei Alarm nicht von selbst auf, sollen sie von den Eltern geweckt werden. Hierfür ist eine räumliche Nähe der Schlafzimmer förderlich. Die Therapie dauert jedoch zwei bis drei Monate. Bleibt die Alarmtherapie erfolglos, sollte man sie abbrechen. Die primäre Erfolgsquote beträgt etwa 70 % [39]. Bei Erfolg ist die Therapie noch ca. einen Monat weiterzuführen. Kommt es nach Beendigung der Behandlung zum Rezidiv (15 – 30 % der Fälle), wird die Behandlung wiederholt und hat dann in den meisten Fällen einen dauerhaften Erfolg [39].
Eine Behandlung mit Desmopressin sollte erst begonnen werden, wenn die Alarmtherapie frustran verlief oder von der Familie abgelehnt wird. Die Einnahme des Medikaments erfolgt circa 30 – 60 Minuten vor der Nachtruhe. Eine Stunde zuvor sollte der Patient nichts mehr trinken. Die höchste Erfolgsrate zeigt sich bei nächtlicher Polyurie (bei ADH-Sekretionsstörung). Ein Therapieversuch sollte über sechs Wochen bis sechs Monate erfolgen. Die Erfolgsrate (komplett trocken) liegt bei etwa 25 – 30 %, eine Reduktion der nassen Nächte bei etwa 40 % [40 – 42]. Die Rückfallquote lässt sich durch Ausschleichen des Therapieendes reduzieren, dennoch bleibt sie hoch (bei circa 30 %). Obwohl gelegentlich über bessere Erfolge bei einer Kombination von Desmopressin und Alarmtherapie berichtet wird, zeigte eine Metaanalyse, dass die kombinierte Behandlung mit Desmopressin und Alarmtherapie keinen Vorteil gegenüber der Monotherapie hat [43, 44].
Biofeedback
Eine zusätzliche Biofeedback-Therapie kann bei nicht ausreichendem Erfolg der Standardurotherapie bei dyskoordinierter Miktion hilfreich sein [19]. Die gestörte Miktion kann durch eine Uroflowmetrie und EMG dargestellt und die Relaxation des Beckenbodens trainiert werden.
Anticholinerge Therapie
Bei Patienten mit überaktiver Blase lassen sich Anticholinergika für zunächst vier bis sechs Wochen begleitend einsetzen – bei circa 60 % bessern sich die Symptome. Die Rückfallquote nach Absetzen ist mit circa 50 % jedoch hoch [45].
Anpassen der Dosis an das Körpergewicht und ein halbierendes Ausschleichen erhöhen den Erfolg. Anticholinergika haben ein ausgeprägtes Nebenwirkungsprofil, Propiverin zeigt bei vergleichbarer Wirksamkeit jedoch weniger Nebenwirkungen [46]. Propiverin und Oxybutynin sind ab dem fünften, Trospiumchlorid ab dem zwölften Lebensjahr zugelassen. Bei primärer MEN erweisen sich Anticholinergika als nicht sinnvoll. Die Erfolgsraten bei NMEN sind umstritten. Einzelne Autoren berichten jedoch über eine Wirksamkeit bei gezielter Indikationsstellung [47].
Interessenkonflikte: Die Autorinnen haben keine deklariert
Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2019; 41 (15) Seite 50-55