Die 1519 gegründete Stadt Havanna oder La Habana, wie sie eigentlich heißt, ist nicht nur eine der ältesten Siedlungen der Neuen Welt, sondern auch die Hauptstadt der Kontraste. In Havanna befindet sich die größte erhaltene koloniale Altstadt Lateinamerikas (seit 1982 UNESCO-Weltkulturerbe). Ein Spaziergang von Ost nach West führt auf wenigen Kilometern einmal durch die Baugeschichte Amerikas. Der Arzt und Autor Martin Glauert hat ein paar ganz besondere Stadtviertel erkundet.

Wenn man vom geraden Weg abkommt, gerät man in die Hölle, warnt ein kubanisches Sprichwort. Tatsächlich gibt es eine Abzweigung in Havanna, hinter der es höllisch spannend wird – fast schon paradiesisch!

Pittoresker Verfall …

Der Stadtteil Cayo Hueso ist wahrlich keine Attraktion. Von den Häusern fällt nicht nur der Putz herab, sondern auch schon mal ein ganzer Balkon. Die Fassaden sind oft ruinös, wenn die Fenster nicht mit Brettern zugenagelt oder vergittert sind, sieht man durch die leeren Höhlen direkt in den karibischen Himmel. Kaum vorstellbar, dass dort Menschen wohnen. Und doch sind die Antenne auf dem Dach und die flatternde Wäsche im Wind untrügliche Lebenszeichen. Auf den staubigen Straßen fahren schrottreife Oldtimer Slalom um die Schlaglöcher und lassen den Fußgänger in einer blauen Abgaswolke zurück.

… und vibrierendes Leben

Eine kleine Seitengasse bietet Rettung. Sobald man in die Callejón de Hamel einbiegt, betritt man augenblicklich eine andere Welt. Der erste Eindruck ist überwältigend. Die Häuser sind in grellen Farben angemalt und voller verwirrender Bilder. Die Gasse vibriert vor Leben. Von überall her klingt Musik; Trommeln, Bässe, Rumba-Rhythmen dringen ans Ohr. Der Geruch von Kaffee, von Zigarren und Holzrauch liegt in der Luft. Freundliche Menschen sprechen jeden Besucher an, doch man möchte erst einmal einfach nur stehen und sich orientieren.

Auf den Hauswänden sind Gemälde von Fabelwesen zu sehen, menschliche Figuren mit Fischflossen, Schlangen, deren hypnotisierende Augen einen anschauen. Davor stehen verrostete Badewannen, bepflanzt mit grünen Gewächsen. Eine riesige Heuschrecke aus Metall verstellt den Weg. Auf eine Wand hat jemand ein Gedicht geschrieben: "So bin ich. Ich zünde nicht eine Kerze für Gott an, danach eine andere für den Teufel, sondern nur eine Kerze für die Zeit." Darunter sitzt ganz entspannt ein Mann mit gelber Kappe, der alle Zeit der Welt zu haben scheint, wie passend! Überhaupt wirkt hier niemand gehetzt, "relajado" ist das Motto, locker und langsam läuft das Leben. Da ergibt sich ein Gespräch von ganz allein. Was ist hier eigentlich los?

Straße der Wandbilder

Die Erklärung hört sich fast schon wie eine Legende an. Am 21. April 1990 kam der Künstler Salvador Gonzalez in diese damals trostlose Gasse, um ein Wandbild an das Haus eines Freundes zu malen. Einmal in Schwung, verzierte er gleich auch die Nachbarhäuser mit bunten Bildern und Graffiti. Die Anwohner:innen waren anfangs wohl ein wenig konsterniert, zumindest verwundert. Bald aber machten sie begeistert mit. "Die Reaktion war fantastisch", erinnert sich Salvador. "Die Leute kamen zu mir und sagten: Meister, ich habe ein bisschen rote Farbe, oder gelb, oder ein wenig Druckerfarbe. Ich malte schließlich mit allem, was irgendwie zusammenkam." Was daraus entstand, ist verblüffend. Wenn man an den rosa, blau, gelb und grün gestrichenen Häusern vorbeischlendert, ist das wie ein Gang durch eine Kunstausstellung. Psychedelische Fabelwesen schauen einen an, Wurzelwerke mit Körperteilen und versteckten Augen, das Ganze auf bunt schillerndem Hintergrund mit grellen Farben, ein LSD-Trip auf Beton.

Reminiszenz an Afrika

"Wenn du an einem Bild vorbeilaufen kannst, ohne einen zweiten Blick darauf zu werfen, bedeutet das leider, dass es keine Energie hat", ist Salvadors Überzeugung. Das kann bei diesen expressiven Wandmalereien wahrlich nicht passieren. Und spätestens beim zweiten Hinschauen entdeckt man lauter afrikanische Motive. Schwarze Figuren aus Metall mit weißer Kriegsbemalung im Gesicht, bunte Masken, daran Fortsätze wie Hühnerfüße, deutliche Anleihen an den Voodookult. Skurrile Skulpturen ragen mitten in der Straße auf wie Totems. Tatsächlich sind all dies Symbole der Santería, der Volksreligion der Afro-Kubaner. Als die Sklav:innen für die Zuckerrohrfelder aus Afrika geholt wurden, brachten sie ihre eigenen Götter und Riten mit. Ihre spiritistischen Rituale und der Voodookult waren den katholischen Spaniern unheimlich und galten als Teufelswerk. Nur durch eine kuriose Vermischung mit den christlichen Traditionen konnte die Religion der afrikanischen Sklaven als Santería überleben.

Dieses Erbe ist hier in der Callejón de Hamel lebendig, im wahrsten Sinne des Wortes. Auf einer Bank im Schatten sitzen zwei Anhängerinnen der Santería. Weite, glänzende Gewänder in Pink und Blau fallen elegant an ihnen herab. Die hohen Kopfbedeckungen sind über und über mit bunten Pailletten verziert. Wie sie dort sitzen, aufwendig geschminkt, mit kostbaren Ohrringen und stolzem Gesichtsausdruck, wirken sie wie afrikanische Königinnen aus einem Märchen. Neben ihnen sitzt eine ältere Frau, die vergnügt lacht. Auf der anderen Seite ein Mann, der aufmerksam darauf achtet, dass für ein Foto von den beiden auch bezahlt wird.

Von der No-go-Area zum kulturellen Zentrum

Und das macht Sinn. Ganz allmählich hat sich diese kleine verrückte Gasse zum wirtschaftlichen Herzstück für das ganze Viertel entwickelt. Noch vor 20 Jahren galt die Gegend als arm und gefährlich, eine No-go-Area für Ausländer. Seitdem hat sie sich zu einem kulturellen Zentrum und Anziehungspunkt für Besucher:innen gemausert. Kleine Cafés, Handwerksläden und Ateliers laden zum Schauen und Kaufen ein. Kamen anfangs nur neugierige Nachbarn vorbei, sind es inzwischen auch interessierte Tourist:innen, die einen exotischen Hotspot in Havanna kennenlernen möchten.

Jeden Sonntagnachmittag nämlich geht in unserer Seitenstraße eine erstaunliche Verwandlung vor sich. Was als spontane Jam-Session für afrokubanische Trommelzeremonien begann, hat sich im Lauf der Jahre zu einem wilden Rumba-Straßenfest entwickelt. Theateraufführungen und spontane Gedichtlesungen finden statt, die Tristesse des kubanischen Alltags wird für ein paar Stunden ersetzt durch ein Feuerwerk aus Poesie, Musik und Malerei. Was für die Menschen aber noch wichtiger ist: Hier kristallisiert sich ihre kulturelle und geschichtliche Identität, auf die sie stolz sein dürfen. Auf eine Wand hat jemand geschrieben: "Jedes Volk, das sich selbst verleugnet, ist im Begriff, Selbstmord zu begehen." Einen Nachmittag lang pulsiert in dieser Gasse das Herz der afrokubanischen Kultur, laut und lebendig, wie der Blick in ein verlorenes Paradies.

Reise-Informationen: Tipp
Die Callejón de Hamel ist eine Seitenstraße im Stadtteil Centro Habana. Die Taxifahrer kennen sie. Am Eingang wird man von einheimischen Führern begrüßt, die spannende Informationen über die Geschichte der Straße erzählen können. Es gibt Cafés und kleine Snackbuden. Das El Barracón ist eine kleine Bar, in der man Getränke und kleinere Mahlzeiten zu sich nehmen kann. Nebenbei wird man von den Bewohnern temperamentvoll über das Leben in Havanna, die Errungenschaften der Revolution und die Geheimnisse der Santería aufgeklärt.



Autor
Martin Glauert

Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 74-76