Benzodiazepine bzw. Z-Substanzen sind wirksame Schlaf- und Beruhigungsmittel, beide bergen allerdings ein Abhängigkeitspotenzial. Das Tückische an ihnen: Sie verändern ihre Wirkung bei längerer Einnahme über mehrere Wochen. Bei den Patient:innen sollte man dieses Abhängigkeitsrisiko rechtzeitig thematisieren. Ein hausärztlich begleiteter Entzug von Schlaf- und Beruhigungsmitteln bei älteren Menschen ist gut möglich.

FALLBEISPIEL – Süchtig? Ich doch nicht!
Eine 80-jährige Patientin kommt in Begleitung ihrer Tochter in die Praxis, nachdem diese einen Fernsehbericht zum Thema "Abhängigkeit von Schlafmitteln" gesehen hat. Die Tochter glaubt, bei ihrer Mutter entsprechende Veränderungen wahrzunehmen. Nach dem Tod des Vaters habe die Mutter vor zehn Jahren Ängste und Schlafstörungen entwickelt und Bromazepam bekommen. Zunächst habe eine viertel Tablette geholfen, seit fünf Jahren ist es eine dreiviertel Tablette zur Nacht und ab und an tagsüber, wenn etwas ansteht, noch eine weitere viertel. Die alte Dame ist stolz darauf, dass sie nicht mehr einnimmt, und sieht sich nicht als süchtig oder abhängig an. Auf entsprechende Nachfrage bestätigt sie typische Symptome der Phase 2, vereinzelt auch der Phase 3: Sie beklagt, dass ihr die Enkel beim Besuch zu laut sind, sie das helle Licht im Untersuchungszimmer nicht gut verträgt, ängstlicher geworden ist und auch Stimmungsschwankungen hat. Diese Symptome würden in der Regel nach der Tabletteneinnahme besser werden. Die Tochter bemerkt eine kognitive Verschlechterung bei der Mutter und eine geringere emotionale Beteiligung am familiären Geschehen.

Mit der Patientin wird eine Umstellung auf Clonazepam Tropfen besprochen und, da sie mit einer viermal täglichen Gabe überfordert wäre, eine Zweiteilung der Medikation sowie eine Abdosierung vereinbart (vgl. Tabelle "Beispiel für eine Abdosierung"). Diese funktionierte bis auf ein Niveau von fünf Tropfen abends problemlos. Dann stellten sich bei der Patientin Schlafprobleme ein. Wie sich bei der Exploration herausstellte, war eine unrealistische Schlaferwartung der Hintergrund dafür. Die Patientin ging gegen 22:00 Uhr zu Bett, konnte auch vergleichsweise gut einschlafen, erwachte aber schon um 4:00 Uhr morgens, konnte danach nur noch dösen. Da die Patientin früher maximal sieben Stunden Schlaf als Berufstätige brauchte, sind für sie als ansonsten körperlich Gesunde sechs bis sechseinhalb Stunden Schlaf ausreichend. Es wurde deshalb mit ihr vereinbart, dass sie erst gegen Mitternacht ins Bett geht und dann mit der Schlafdauer von sechs Stunden zu einer "vernünftigen Zeit" morgens wach wird.

Benzodiazepine und die mit ihnen wirkmäßig verwandten Z-Substanzen werden aufgrund ihrer dämpfenden und muskelentspannenden Wirkung bei älteren Patient:innen nur ungern neu angesetzt. Trotzdem sind Langzeitverordnungen gerade bei älteren Menschen besonders häufig [1].
Was aber wird aus inzwischen altgewordenen Personen, die Benzodiazepine oder Z-Substanzen seit Jahren oder gar Jahrzehnten einnehmen, ohne dass die Dosis wesentlich gesteigert wurde? In der Regel wird die Verordnung bei dieser Gruppe fortgeschrieben. Dabei zeigen Studien, dass man auch dieses Klientel fast problemlos ambulant entziehen kann. Die Entscheidung zum Ausschleichen von Benzodiazepinen oder Z-Substanzen sollte immer individuell abgewogen werden. Das Tückische an diesen beiden Präparategruppen sind die schleichenden, sich erst während der Einnahme einstellenden Nebenwirkungen. Sie können leicht übersehen oder mit Alterserscheinungen verwechselt werden. Für die Weiterverordnung ist deshalb die Kenntnis über diese späten Nebenwirkungen wichtig.

Das 5-Phasen-Modell

Durch klinische Beobachtung ließen sich unterschiedliche Syndrome im Verlauf identifizieren und zunächst als 3-Phasen-Modell [2] – später nach entsprechender Evaluation als 5-Phasen-Modell – beschreiben [3]. Bei sehr niedrigen Dosierungen oder intermittierender Einnahme können Nebenwirkungen auftreten (Phase 1: Prodromal-Phase).
In der Phase 2 (Wirkumkehr) ist eine erhebliche Gewöhnung (Gegenregulation) an die über längere Zeit konstant eingenommene Dosis eingetreten. Durch die fehlende Dosissteigerung überwiegt im Laufe der Zeit die körpereigene Gegenregulation, die Betroffenen haben einen permanent leichten Entzug und es zeigen sich Unruhe, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Ängstlichkeit, körperliche Missempfindungen und Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen. Dies wird häufig als Verschlechterung der Grunderkrankung fehlgedeutet und die Medikamenteneinnahme fortgesetzt. Bei einem Auslassversuch verstärken sich die Entzugserscheinungen, was meist als noch vorhandene Wirksamkeit fehlinterpretiert wird und zu einer weiteren Einnahme führt. Eine Dosissteigerung leitet die Apathie-Phase (Phase 3) ein, mit affektiver Indifferenz, kognitiv-mnestischen Defiziten (Gedächtnis, Konzen-
tration, Problemlösefähigkeit) und fehlender körperlicher Energie.

Typischerweise wird die Phase 4 (Suchtphase) erreicht, wenn zusätzliche Möglichkeiten der Verschreibung durch weitere Ärzt:innen oder eine illegale Beschaffung (Internet) genutzt werden (Kriterien einer Abhängigkeit nach ICD 10/DSM V).
Die Phase 5 (Intoxikation) bedeutet eine deutliche Überdosierung – in der Regel betrifft dies Konsument:innen aus der Drogenszene, keine geriatrischen Patient:innen. Neben Symptomen, die es auch in der Apathie-Phase gibt, haben Betroffene eine herabgesetzte Kritikfähigkeit und ihr Tag-Nacht-Rhythmus ist aufgehoben – mit dem Gefühl, unterdosiert zu sein, weil sich kein Schlaf einstellt.

Aufklärung und Motivation

Wer über lange Zeit Benzodiazepine und Z-Substanzen einnimmt, macht in der Regel die Erfahrung, dass das Weglassen des Schlaf- bzw. Beruhigungsmittels zur Verschlechterung des Zustands führt. Hierbei handelt es sich, wie erwähnt, um Entzugserscheinungen, die aber von den Betroffenen nicht als solche verstanden werden. In der Regel wird man im Praxisalltag nicht die Zeit haben, Patient:innen die komplexen Zusammenhänge zu erläutern, und sollte ihnen deshalb Informationsmaterial aushändigen, das sie sich bis zum nächsten Termin anschauen können, z. B. den Flyer "Welche Risiken haben Schlaf- und Beruhigungsmittel?" aus der Reihe "Fragen an den Psycho-Doc" (https://bit.ly/2Pb3F1A). Zudem können Betroffene einen Selbsttest mit dem "Lipp-
städter Benzo-Check" vornehmen, der typische Nebenwirkungen im Langzeitverlauf der Einnahme und eine Selbstauswertung umfasst (https://bit.ly/3etkrlo). Dies kann als Grundlage für das nächste Gespräch dienen. Anhand des Ergebnisses lassen sich Vor- und Nachteile der Weiterbehandlung abwägen. Begriffe wie "Sucht" oder "Abhängigkeit" sollte man hier nicht verwenden, da ältere Patient:innen kein typisches Suchtverhalten zeigen und es meist nicht verstehen, warum ihre jahrelange konstante Einnahme, in der Regel ja ärztlich verordnet, eine Sucht sein soll.

Ambulanter Entzug

Die häufigen Probleme bei der Abdosierung von Benzodiazepinen liegen in der Regel am falschen Vorgehen. Zentraler Punkt ist, einen möglichst konstanten Wirkstoffspiegel zu erzielen, der in kleinen Schritten reduziert wird. Dafür empfiehlt sich die Umstellung auf Clonazepam in Tropfenform, da diese die kleinste Dosierungseinheit ist und auch bei niedrigen Gesamtdosierungen eine Verteilung über den Tag erlaubt (nicht Diazepam verwenden, es kumuliert wegen seiner langen Halbwertszeit bzw. aktiver Metabolite). Bei einer täglichen Einmalgabe sinkt der Wirkstoffspiegel bis zur nächsten Einnahme so weit ab, dass Entzugserscheinungen auftreten. So entsteht das Gefühl, das Präparat wirke immer noch, was die Motivation zur weiteren Abdosierung vermindert.

Mit Äquivalenztabellen (vgl. Tabelle) lässt sich die Äquivalenzdosis ermitteln. Diente das bisherige Präparat als Schlafmittel, werden etwa die Hälfte bis zwei Drittel der bisherigen Dosis weiter zur Nacht gegeben, der Rest auf ein bis drei Dosen über den Tag verteilt (vgl. Fallbeispiel). Alle drei bis fünf Tage wird tropfenweise die Dosis so reduziert, dass die Restdosis weiter möglichst gleichmäßig über 24 Stunden verteilt bleibt. Problematisch sind hier weniger die Entzugserscheinungen: Bei Menschen mit Schlafstörungen ist die Sorge groß, dass diese wieder auftreten, oder es liegt eine unrealistische Schlaferwartung vor. Auch hier kann die Reihe "Fragen an den Psycho-Doc" (No. 1), s. o., weiterhelfen. Bei Patient:innen, die Benzodiazepine gegen eine fortbestehende Angststörung oder Depression einnehmen, sollte man zunächst eine antidepressive Medikation beginnen und die psychische Grundsituation stabilisiert sein, bevor die Abdosierung startet. Auch in dieser Phase ist es sinnvoll, das Präparat über den Tag zu verteilen.

ESSENTIALS – Wichtig für die Sprechstunde
  • Benzodiazepine und Z-Substanzen haben schleichende Nebenwirkungen, die sich erst während der Einnahme einstellen.
  • Das Ausschleichen bei dieser Präparategruppe sollte man immer individuell entscheiden.
  • Es empfiehlt sich eine Abdosierung in kleinen Schritten, am besten auf Clonazepam-Tropfen.
  • Die Patient:innen verstehen oft nicht, dass sie bereits süchtig sind.


Literatur:
1. Verthein U, Buth S, Holzbach R, Neumann-Runde E, Martens MS (2019) Benzodiazepine und Z-Substanzen – Analyse der kassenärztlichen Verschreibungen von 2006 bis 2015. Psychiatrische Praxis 47: 1-7.
2. Holzbach R (2009) Jahrelange Einnahme von Benzodiazepinen. Wann ein Entzug notwendig ist und wie er gelingt. MMW-Fortschr. Med. 21: 36-39.
3. Holzbach R (2014) Statt low-dose oder Sucht – Das 5-Phasen-Modell des Benzodiazepin-Langzeitgebrauchs. Sucht. 60(Suppl.1): 134.



Autor

Dr. Rüdiger Holzbach

Klinikum Hochsauerland
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
59755 Arnsberg

Interessenkonflikte:Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (5) Seite 24-26