Welche neuen Erkenntnisse gibt es zur Diabetes-Technologie? Welche neuen Insuline werden in absehbarer Zeit auf den Markt kommen? Und welche neuen Ratschläge kann man Menschen mit Diabetes zur Lebensführung geben? Dr. Andreas Liebl, Diabetologe aus Bad Heilbrunn, berichtete von den Highlights der großen Diabeteskongresse des Jahres 2022.

Was ist relevant für den Praxisalltag? – Unter diesem Aspekt hat Dr. Liebl die Schwerpunkte seines Referats auf der von MSD organisierten Digitalen Campuswoche für Allgemeinärzte ausgewählt. Dabei berücksichtigte er den Kongress der American Diabetes Association (ADA) und den europäischen Diabeteskongress (EASD) 2022.

Glukosesensoren: Nicht blind darauf verlassen!

Das kontinuierliche Glukosemonitoring wird immer mehr in den Alltag von Diabetespatient:innen hineinfließen, ist Dr. Liebl überzeugt. Auf den Kongressen wurden interessante Ergebnisse zu den automatisch gesteuerten Insulinpumpen (AID oder Closed-Loop-Systeme) mit Daten von über 20.000 Anwendernvorgestellt. Wichtig zu wissen: Die Genauigkeit der Sensoren ist beschränkt. Patientenberichten immer wieder, dass es recht große Abweichungen gibt zwischen den blutig gemessenen Werten und jenen, die der Sensor zeigt. Das ist aber normal, denn der Sensor misst ja keinen Blutzucker, sondern Gewebszucker. Trotzdem gibt es auch weitere technisch bedingte Abweichungen. So kommt es zustande, dass bei einer Abweichung von nur 6% eine Timein Range (70 – 180mg/dl) von 75,4 statt 71,4% angezeigt wird. Das bedeutet eine Stunde mehr oder weniger im Zielbereich. Daher der Appell des Diabetologen: Insbesondere, wenn die Sensoren außergewöhnlich hohe oder tiefe Werte anzeigen, sollte man blutig nachmessen und sich nicht blind auf die Sensoren verlassen.

Blutzuckerkontrolle mit AID deutlich besser

Trotz aller Ungenauigkeiten, die diese Sensoren haben, lassen sie sich fantastisch mit Insulinpumpen kombinieren. In einer Studie mit 19.354 Patient:innen mit Typ-1-Diabetes und 960 mit Typ-2-Diabetes erwies sich die glykämische Kontrolle mit dieser Technologie als sehr gut. Bei Patienten, die vorher nur in 30% der Zeit Werte im Normbereich hatten, steigerte sich ab Benutzung von AID dieser Wert auf ca. 55% und blieb konstant auf diesem Niveau. Bei Patienten, die vorher bei 50% lagen, steigerte sich die TimeinRange auf 65%. Diese deutliche Verbesserung ist bei allen Altersklassen zu beobachten. Gerade die Patientenmit schlechten Ausgangswerten verbessern sich dabei besonders stark. Diese Technik wird speziell unsere Typ-1-Therapie revolutionieren, so Dr. Liebl: "Ich denke, die technologische Lösung des Problems Typ-1-Diabetes ist erreicht und Transplantationen werden keine große Rolle mehr spielen."

Die Technik kann nicht alles

Die Patient:innen müssen aber gut aufgeklärt werden. Wenn Diabetespatientensich nach der Möglichkeit einer Pumpentherapie erkundigen, gehen sie oft von falschen Vorstellungen aus und meinen, es würde dann alles komplett automatisch funktionieren. Tatsache ist aber, dass das Mahlzeiten-Insulin immer noch per Hand verabreicht werden muss. Vor Start der automatischen Pumpe mussten ca. 53% des Insulins per Hand abgegeben werden, danach waren es immerhin noch 42%. Das müssen die Patientenwissen. Davon, dass die Diabeteskontrolle komplett von der Technik übernommen werden könnte, sind wir noch weit entfernt, betonte Dr. Liebl.

Was die Insulindosis vor dem Essen angeht, hat es sich gezeigt, dass ein Spritz-Ess-Abstand von 20 Minuten die besten Ergebnisse, also den geringsten postprandialen Blutzuckeranstieg zeigt. Das gilt trotz der Verwendung eines schnellen Analogons. Eine kleine Hilfe für Patient:innen könnte eine App sein, die mit einer Smartwatch gekoppelt wird. Diese registriert Gesten der Benutzer, die typischerweise beim Essen oder Trinken beobachtet werden, und kann dann entsprechend reagieren.

Wöchentliche Insuline

Von den Neuerungen der Insulingabe sind die wöchentlichen Insuline bereits am weitesten fortgeschritten. Zum einen gibt es das Insulin Icodec von Novo Nordisk und zum anderen das Basalinsulin Fc (BIF) von Eli Lilly. Icodec hat eine Halbwertszeit von 8 Tagen durch eine starke Albuminbindung, was eine einmal wöchentliche Gabe ermöglicht. BIF ist ein Monoketten-Insulin, was sogar eine Halbwertszeit von 17 Tagen hat. Diese Insuline brauchen relativ lange, bis ausreichende Wirkspiegel erreicht sind. Bei BIF dauert es z.B. 6 bis 7 Wochen, bis die Zielkonzentration erreicht ist. Daher muss man am Anfang eine extra hohe Dosis (Loading Dose) spritzen, um diesen Abstand auf 2 bis 3 Wochen zu senken. Danach sind aber die Schwankungen von Woche zu Woche geringer als die täglichen Schwankungen von Insulin Glargin.

Was die Dosen angeht, müssen wir in ganz anderen Dimensionen denken, so Dr. Liebl. Wenn man bisher z.B. 30 Einheiten pro Tag Basalinsulin gespritzt hat, muss man bei einem wöchentlichen Insulin 210 Einheiten auf einmal verabreichen. Rechnet man noch die anfängliche Loading Dose dazu, sind es bei der ersten Injektion sogar 300 Einheiten. Die Phase-II-Studie zu Icodec hat gezeigt, dass verglichen mit Insulin Glargin die HbA1c-Reduktion vergleichbar, die TimeinRange mit 70 bis 80 % etwas besser ist und Unterzuckerungen etwas häufiger vorkommen. In einer Studie an eher schlecht eingestellten Diabetespatienten(HbA1c 7 – 10 %), die entweder mit täglichem Insulin Degludec oder wöchentlichem Icodec behandelt wurden, sank nach 26 Wochen das HbA1c unter Degludec um 0,71 % und unter Icodec um 0,93 %. Allerdings war die Gewichtszunahme unter Icodec, von dem insgesamt etwas höhere Dosen gebraucht wurden, etwas größer (+ 1,4 kg vs. -0,3 kg unter Degludec). Unterzuckerungen waren unter Icodec zwar häufiger, absolut aber immer noch mit weniger als einem Ereignis pro Patientund Jahr seltene Ereignisse. Dr. Liebl rechnet damit, dass die wöchentlichen Insuline im Jahr 2023 auf den Markt kommen werden. Die Patient:innen werden diese Option begrüßen, bietet sie doch besseren Komfort und mehr Flexibilität, so der Experte.

Orale Insuline

Die Gabe von oralem Insulin ist ein schwieriges Unterfangen: Zum einen würde der saure Magen-pHdas Insulin sofort zerstören, zum anderen bauen die Proteasen das Insulin ab und schließlich müsste es noch durch die Darmmucosa ins Blut gelangen. Die Lösung: Insulin verkapseln und dann mit Hilfe eines Absorptionsbeschleunigers durch die Darmmucosa bringen. Speziell mit Basalinsulinen klappt das erstaunlich gut, so Dr. Liebl. Die Zulassung eines solchen Präparats in den USA ist schon für 2023 anvisiert.

Es gibt noch einen cleveren Trick, das Insulin unversehrt an seinen Zielort zu bringen: Dazu wird eine Plastikkapsel aus Biokunststoff mit gefriergetrocknetem Insulin befüllt. Die Kapsel hat eine spezielle Form, die man sich von der afrikanischen Leopard-Schildkröte abgeschaut hat. Ihr Panzer ist so gewölbt, dass sie, wenn sie umgedreht wird, immer auf den Bauch fällt. An der Basis der Kapsel befindet sich eine Nadel, die mit einer löslichen Zuckerscheibe in Form gehalten wird. Die Kapsel wird geschluckt und sobald sie eine stabile Lage an der Magenwand gefunden und sich die Zuckerscheibe aufgelöst hat, bohrt sich die Nadel in die Magenwand und das Insulin wird dorthin injiziert und gelangt anschließend ins Blut. Die leere Kapsel wird dann auf natürlichem Weg ausgeschieden. Das funktioniert ebenfalls erstaunlich gut.

Kluges Insulin (Glukose-sensitives Insulin)

Dabei handelt es sich um Insulin, das sich durch Ankoppeln eines glukosebindenden Elementes in einem inaktiven Zustand befindet. Wenn die Blutglukose steigt und sich die Glukose an dieses Element bindet, wird das Insulin in seinen aktiven Zustand überführt. Es wird also nur aktiv, wenn Glukose vorhanden ist.

Insulin und Bewegung

Es gibt viele Patient:innen mit Diabetes, die regelmäßig Sport treiben, oft wird dann im Sommer Fahrrad gefahren und im Winter eher Lauftraining absolviert, so die Erfahrung von Dr. Liebl. Der Blutzucker verhält sich dabei aber unterschiedlich: Laufen lässt ihn deutlich stärker abfallen als Fahrradfahren. Das gilt es zu berücksichtigen.

Eine andere Studie hat gezeigt, wie Menschen mit Diabetes, die Basalinsuline spritzen, sich bei längeren Sportphasen, z. B. einer Fahrradtour, verhalten sollten. Wird vor dem Sport nur 75 % der geplanten Dosis an Degludec gespritzt, kann damit die Rate der Unterzuckerungen deutlich gesenkt werden.

Wie wichtig ist der Lebensstil?

Wichtig für den Praxisalltag ist auch die Beratung von Diabetespatienten, was die allgemeine Lebensführung angeht, also in erster Linie Ernährung und Bewegung. Die geforderten 10.000 Schritte pro Tag schafft kaum ein Patient, meinte Dr. Liebl. Aber es konnte in einer Studie gezeigt werden, dass nur 500 Schritte mehr am Tag das Risiko für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität um 5 – 6% senken können. Und nur 5 –6 Minuten kräftiges Walken am Tag bei einem 50- bis 60-jährigen Menschen erhöht seine Lebenserwartung um 4 Jahre!

Auch neue Erkenntnisse zum Schlaf gibt es: Alles, was über 8 Stunden hinausgeht, und alles, was sich unter 6 Stunden bewegt, hat schlechte Auswirkungen auf den Stoffwechsel. Es kommt zudem auf die Schlafqualität an, wobei man bei Menschen mit Diabetes insbesondere auf die Schlaf-Apnoe achten sollte. Auch der Chronotyp spielt eine Rolle: Early Birds schneiden in puncto Stoffwechselkontrolle besser ab als Nachteulen.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Wöchentliche Insuline resultieren in einer etwas besseren Stoffwechseleinstellung und etwas mehr Hypos.
  • Orale Insuline könnten in den USA schon 2023 auf den Markt kommen.
  • Kluge Insuline werden nur aktiv bei vorhandener Glukose.



Autorin
Dr. Vera Seifert



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (1) Seite 42-44