Durch die antiretrovirale Medikation ist die Lebenserwartung von HIV-infizierten Patient:innen deutlich gestiegen. Damit kommen auch neue Herausforderungen auf die ambulante Versorgung zu. Eine der häufigsten Komplikationen ist die HIV-assoziierte Polyneuropathie. Dieser Beitrag beleuchtet einen aktuellen Fall und geht der Frage nach, was man bei einer HIV-positiven Patient:in mit Polyneuropathie tun kann.

Eine bisher unbekannte, 60-jährige Patientin kommt in die Sprechstunde – mit brennenden Schmerzen in Händen und Füßen sowie gelegentlichen Wadenkrämpfen, die seit einigen Monaten zunehmen. Eine HIV-Infektion ist seit 18 Jahren bekannt und wird mit kombinierter antiretroviraler Therapie (cART) behandelt. Offenbar erfolgreich: Bei der letzten Kontrolluntersuchung war die Viruslast unter der Nachweisgrenze. In den letzten Jahren traten keine weiteren Komplikationen auf, vor allem gibt es keine anamnestischen Hinweise für durchgemachte opportunistische Infektionen. Ein Diabetes mellitus ist zudem bekannt. Die Patientin beschreibt socken- und handschuhförmige Missempfindungen der Hände und Füße sowie Schmerzen bei Berührung. Eine vibrierende Stimmgabel auf den Knöcheln wird beidseits nur reduziert wahrgenommen, an den Knien, Handgelenken und Ellenbogen ist die Sensibilität für Vibration normal. Der Achillessehnenreflex ist erloschen, die Kraftentfaltung erscheint normal. Es gibt keine Zeichen der Atrophie und keine fokalneurologischen Defizite, die Kognition scheint normal, auch internistisch ist nichts auffällig. Die Diagnose lautet: distal-symmetrische, schmerzhafte, sensibel betonte Polyneuropathie mit Dysästhesien und einer Allodynie. Was ist die Ursache?

Diagnostische Wegweiser bei HIV-assoziierter Polyneuropathie

Die Patientin ist ein Paradebeispiel für Symptome einer HIV-assoziierten distal-symmetrisch sensorischen Polyneuropathie (DSP) und differenzialdiagnostisch einer antiretroviral toxischen Neuropathie (ATN). Beide Erkrankungen ähneln sich sehr in der klinischen Präsentation und betreffen bis zu 60 % der HIV-infizierten Personen [1]. Gemeinsames Hauptmerkmal ist die distal-symmetrisch sensible Neuropathie partiell mit neuropathischen Schmerzen. Achtung: Die HIV-DSP und die ATN können auch als isolierte Small-Fiber-Neuropathien auftreten. Möglich sind zudem schmerzlose Präsentationen mit isolierter sensibler Negativsymp-
tomatik, also strumpfförmiger Hypästhesie und Hypalgesie. Bei Komorbiditäten wie Diabetes mellitus kann die Differenzierung von anderen Polyneuropathien erschwert sein. Bei der Patientin liegen zudem Risikofaktoren einer HIV-DSP vor: Sie ist weiblich, über 40 und erhält cART. Zusätzlich können Statintherapie, Substanzabusus oder fehlende virale Suppression die Polyneuropathie begünstigen [2, 3]. Der wesentliche Unterschied zwischen HIV-DSP und ATN liegt – neben der Pathophysiologie – im zeitlichen Auftreten der Symptome. Während sich die ATN oft innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn einer neurotoxischen antiretroviralen Therapie zeigt, ist nach einjähriger beschwerdefreier Behandlung mit cART eine DSP wahrscheinlicher [4, 5].

In der Differenzialdiagnostik zu anderen peripheren Neuropathien ist das Auftreten von primär sensiblen, distal-symmetrischen Symptomen wie Schmerz und/oder Hypästhesie ein wichtiges Kriterium (Abb. 1) [1]. Die Untersuchung sollte die sensible Testung auf Berührung, Schmerz, Temperatur und Vibration (möglichst mittels Stimmgabel) enthalten. Hier ist die Differenzierung zwischen distal und proximal entscheidend! Ein verminderter Achillessehnenreflex tritt häufig auf, ist aber nicht spezifisch, da sich dieser Befund typischerweise bei Patient:innen mit distal symmetrischer Neuropathie unabhängig von der zugrunde liegenden Ätiologie findet [2]. Auch sollte eine differenzierte Einzelkraftprüfung vor allem der distalen Muskeln nicht fehlen (z. B. Zehen- und Hackenstand). Bei relevanten Paresen sollte immer die Vorstellung bei der Fachärzt:in zur Differenzialdiagnostik erfolgen.

Weitere Warnsignale wie eine rasche Progression, eine relevante autonome Mitbeteiligung (z. B. eine orthostatische Dysregulation oder eine deutliche gastrointestinale Mitbeteiligung mit einem Wechsel von Diarrhoe und Obstipation), Begleitsymptome wie Fieber oder ein relevanter Gewichtsverlust sind ebenfalls Red Flags für die rasche Vorstellung in der Klinik. Die Differenzialdiagnostik zu anderen peripheren Neuropathien, wie Vaskulitiden, Paraproteinämien oder malnutritiven Syndromen, kann durch eine laborchemische Basisdiagnostik mit Bestimmung von Blutsenkungsgeschwindigkeit, Leber- und Nierenparametern, Vitamin B12 (falls niedrig normal zusätzlich Methylmalonsäure), Folsäure, IgG, IgA, IgM, freien Immunglobulin-Leichtketten, Immunfixation, Nüchternblutzucker und HbA1c (gegebenenfalls oraler Glukosetoleranztest) exploriert werden [2]. Ein Immunstatus (HI-Viruslast, CD4-Zellzahl) ist immer zwingend erforderlich. Prinzipiell lässt sich eine HIV-DSP jedoch zu jedem Zeitpunkt der Infektion diagnostizieren. Bei unklarem Gesamtbild sollte die Weiterleitung zur Neurolog:in erfolgen [2].

Polyneuropathie bei HIV-Infizierten – wie kommt das?

Der Schädigungsort einer HIV-DSP scheint direkt im dorsalen Spinalganglion zu liegen. Die Pathophysiologie ist noch nicht ganz geklärt, scheint jedoch direkte neurotoxische Wirkungen durch das Virus selbst oder Virusbestandteile (z. B. virales Glykoprotein 120 = GLP120k [6]) als auch indirekte immunologische Mechanismen zu beinhalten [7].

Die ATN wird vermutlich durch toxische Effekte der antiretroviralen Therapie verursacht. Hier bewirken "D-drugs" (Nukleosidanaloga, Reverse Transkriptase-Inhibitoren wie Stavudin, Didanosin und Zalcitabin) über eine Inhibition der γDNA-Polymerase eine Schädigung der mitochondrialen DNA der Spinalganglienzellen [4]. Zudem führen Proteaseinhibitoren wie Indinavir, Saquinavir und Ritonavir zur Neurotoxizität [8].
Aber Achtung: Auch gängige Chemotherapeutika oder Antibiotika wie Metronidazol, Fluorchinolone und Isoniazid können neurotoxisch wirken und Symptome verstärken [2]. Beide Erkrankungen führen zu längenabhängigem Absterben der Nervenzellen von distal nach proximal (axonale Retraktion oder "Dying-back"-Mechanismus). Die Symptome beginnen daher in den distalen Extremitäten, vor allem den Füßen.

Was kann man tun? Therapieprinzipien

Ist eine ATN identifiziert, sollte man als Erstes die verantwortlichen Medikamente – soweit vertretbar – ab- bzw. umsetzen und dabei stets abwägen, ob und wie sich die verdächtigen Therapeutika ersetzen lassen, um die kontinuierliche Suppression der Viruslast zu gewährleisten. Nach Absetzen der Medikation bilden sich die Symptome innerhalb von einigen Monaten langsam zurück. Leichte Symptome sind jedoch weiterhin häufig [1].

Für die DSP ist eine kausale Therapie nicht bewiesen. Es gibt jedoch Daten, dass eine antiretrovirale nicht neurotoxische Therapie die Funktionsstörung verbessert [9]. Häufig steht jedoch die symptomatische Schmerztherapie im Fokus. Erste Maßnahmen können die Meidung enger Kleidung oder Schuhe sein sowie Fußbäder in Eiswasser. Achtung: Bei zusätzlicher Thermhypästhesie sollte man Wärmflaschen meiden (Verbrennungsgefahr!). Zusätzlich lassen sich nichtsteroidale Analgetika wie Paracetamol zumindest passager anwenden. Langzeittherapien mit Antidepressiva wie Amitriptylin oder Antiepileptika wie Gabapentin, Pregabalin oder Lamotrigin sind in manchen Fällen erfolgreich. In einer Metaanalyse ließ sich lediglich für hochdosiertes Capsaicin (8 %), Cannabis und rekombinanten Nervenwachstumsfaktor eine Überlegenheit gegenüber Placebo zeigen [10].
Rekombinanter Nervenwachstumsfaktor ist in der klinischen Anwendung nicht verfügbar. Eine Studie beschreibt eine signifikante Reduktion der Schmerzintensität und sekundär der Schlafstörungen unter Gabapentin [11]. Zeigt keine der Therapieoptionen (vgl. Tabelle 1) Erfolg, sollte die weitere Therapie bei der Spezialist:in liegen, um Langzeitfolgen und Chronifizierung zu vermeiden.

ESSENTIALS: Wichtig für die Sprechstunde
  • Die antiretrovirale Medikation (cART) hat dazu geführt, dass HIV-infizierte Patient:innen viel länger leben, dadurch aber auch Folgekomplikationen entwickeln können, wie die HIV-assoziierte Polyneuropathie.
  • Eine HIV-assoziierte distal-symmetrisch sensorische Polyneuropathie (DSP) ist anhand der Symptome schwer von einer antiretroviral toxischen Neuropathie (ATN) zu unterscheiden.
  • Ist eine ATN erst einmal diagnostiziert, sollten als Erstes die verantwortlichen Medikamente geprüft und – soweit vertretbar – ab- bzw. innerhalb der Therapie umgesetzt werden.


Literatur:
1. Centner CM, Bateman KJ, Heckmann JM. Manifestations of HIV infection in the peripheral nervous system. Lancet Neurol. 2013;12:295–309.
2. Kaku M, Simpson DM. Neuromuscular complications of HIV infection. Handb. Clin. Neurol. 2018. p. Chapter 16.
3. Malvar J, Vaida F, Sanders CF itzsimon., Atkinson JH, Bohannon W, Keltner J, et al. Predictors of new-onset distal neuropathic pain in HIV-infected individuals in the era of combination antiretroviral therapy. Pain. 2015;156:731–9.
4. Arenas-Pinto A, Bhaskaran K, Dunn D, Weiler I V.D. The risk of developing peripheral neuropathy induced by nucleoside reverse transcriptase inhibitors decreases over time: Evidence from the Delta trial. Antivir. Ther. 2008;13:289–95.
5. Hahn K, Maschke M, Eggers C, Husstedt IW, Arendt G. Update HIV und Neurologie. Dtsch. Medizinische Wochenschrift. 2016;141:51–7.
6. Keswani SC, Polley M, Pardo CA, Griffin JW, McArthur JC, Hoke A. Schwann cell chemokine receptors mediate HIV-1 gp120 toxicity to sensory neurons. Ann. Neurol. 2003;54:287–96.
7. Hahn K, Robinson B, Anderson C, Li W, Pardo CA, Morgello S, et al. Differential effects of HIV infected macrophages on dorsal root ganglia neurons and axons. Exp. Neurol. 2008;210:30.40.
8. Pettersen JA, Jones G, Worthington C, Krentz HB, Keppler OT, Hoke A, et al. Sensory neuropathy in human immunodeficiency virus/acquired immunodeficiency syndrome patients: Protease inhibitor-mediated neurotoxicity. Ann. Neurol. 2006;59:816–24.
9. Martin C, Solders G, Sönnerborg A, Hansson P. Antiretroviral therapy may improve sensory function in HIV-infected patients: A pilot study. Neurology. 2000;54:2120–7.
10. Phillips TJC, Cherry CL, Cox S, Marshall SJ, Rice ASC. Pharmacological treatment of painful HIV-associated sensory neuropathy: A systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. PLoS One. 2010;5:e14433.
11. Hahn K, Arendt G, Braun JS, Von Giesen HJ, Husstedt IW, Maschke M, et al. A placebo-controlled trial of gabapentin for painful HIV-associated sensory neuropathies. J. Neurol. 2004;251:1260–6.
12. Simpson DM, Brown S, Tobias J. Controlled trial of high-concentration capsaicin patch for treatment of painful HIV neuropathy. Neurology. 2008;70:2305–13.
13. Ellis RJ, Toperoff W, Vaida F, Van Den Brande G, Gonzales J, Gouaux B, et al. Smoked medicinal cannabis for neuropathic pain in HIV: A randomized, crossover clinical trial. Neuropsychopharmacology. 2009;34:672–80.


Autorinnen

© Wiebke Peitz
Dr. Katrin Hahn

Helena Franziska Pernice
Klinik für Neurologie und Neurophysiologie, Charité Campus Benjamin Franklin
12203 Berlin

Interessenkonflikte: Die Autorinnen haben keine deklariert



Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (3) Seite 28-30