Kindesmisshandlungen werden in Familien oft über mehrere Generationen praktiziert. Das folgende Fallbeispiel beschreibt die möglichen Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen der Misshandlung, den Symptomen einer ADHS sowie einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und Alkoholkonsum beim jugendlichen Opfer.

Zu den langanhaltenden Folgen für die psychische Gesundheit nach Kindesmissbrauch zählen u. a. posttraumatische Belastungsstörungen, spätere Drogen- und Alkoholprobleme und eine Tendenz zum kriminellen oder suizidalen Verhalten [1, 2].

Der Fall

Die Entwicklung von S. war bis zu seinem vierten Lebensjahr unauffällig. Dann ließen sich seine Eltern scheiden und S. verbrachte fortan seine Zeit regelmäßig bei einer Kinderfrau.

Dort hatte S. fast keinen Kontakt zu anderen Kindern und wurde von seiner Nanny oft allein in einem verschlossenen Zimmer gelassen. Retrospektiv lässt sich bei dem Jungen eine Kindervernachlässigung feststellen. Das Einsperren wird zudem als Form der seelischen Misshandlung angesehen [2]. Die Kinderfrau hatte dem Jungen auch immer wieder Wein zur Beruhigung gegeben. Parallel dazu war vermutlich auch der Vater gewalttätig gegenüber seinem Sohn. Mit sechs Jahren wurden bei S. Kommunikationsstörungen und eine motorische Ungeschicklichkeit bemerkt. Das Auftreten autistischer Symptome koinzidierte mit einem Mobbing (Bullying) des sozial naiven Kindes: Die Anforderungen des Lebens überstiegen die eingeschränkten Kapazitäten des Kindes. Die Symptome verschlimmerten sich weiter, vor allem seit Beginn der häuslichen Misshandlung. Insgesamt zeigten sich die Symptome einer ASS. Einige Merkmale der ADHS waren ebenfalls zu beobachten, wobei eine Hyperaktivität vorwiegend in der familiären Umgebung ausgeprägt war.

Als S. sieben Jahre alt wurde, heiratete seine Mutter wieder. Der neue Partner misshandelte S. körperlich erneut. Die Übergriffe erfolgten meist durch Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht und auf den Kopf. In seltenen Fällen beteiligte sich auch die Mutter an der Misshandlung. Dieses Verhalten entspricht einem typischen Missbrauchsschema: Eine Mutter misshandelt ihre Kinder öfter, wenn der Partner nicht der leibliche Vater ist [3]. Körperliche und psychische Misshandlung tritt auch häufig in Kombination mit Vernachlässigung auf [4], wie dieses Fallbeispiel belegt.

Im Grundschulalter wurde S. wiederholt und ungeachtet der schriftlichen Ermahnungen des Lehrers zum Turnunterricht in ungewaschener, unpassender Kleidung geschickt. Die Folge: Seine Genitalien wurden beim Turnen sichtbar. Dieser Umstand war einer der Gründe, weshalb er gemobbt wurde und in seiner körperlichen Entwicklung zurückblieb: Statt am Schulsport teilnehmen zu können, ließ ihn der Lehrer auf der Bank sitzen.

Später nahm S. selbst am Mobbing anderer Kinder teil. Seine Rolle kann man als Bully-Victim (Täter-Opfer) bezeichnen, was auch mit einem höheren Risiko von Substanzmissbrauch assoziiert ist [5].
Bis zu seinem 13. Lebensjahr trank S. jedoch wenig Alkohol. Sein Alkoholkonsum – Bier, Wodka, Portwein – nahm im folgenden Schuljahr jedoch stark zu. Regelmäßige Treffen mit einer Gruppe älterer und trinkender Mitschüler boten S. die Gelegenheit, der häuslichen Gewalt zu entkommen. Allerdings inspirierten ihn gerade diese Jungen zum vermehrten Kauf und Konsum von Alkohol. Um den Alkoholmissbrauch unter Kontrolle zu bekommen, wurde S. zwischen dem 22. und 23. Lebensjahr ein Disulfiram-Präparat (Esperal®) implantiert, worauf eine achtmonatige Abstinenzperiode folgte. Mit 35 stellte S. seinen Alkoholmissbrauch dann endgültig ein, weil seine Trinkerei mit seinen beruflichen Verpflichtungen nicht mehr vereinbar war.

Sein starker Antrieb, übermäßig viel Alkohol zu trinken, wurde ihm über die Jahre hinweg immer klarer: das Überwinden von Kommunikationsbarrieren. Dies illustriert auch den generellen Mechanismus, der zum Alkoholkonsum nicht nur bei ASS-Jugendlichen beiträgt: durch gemeinsame Zecherei zum Insider zu werden. In der früheren Sowjetunion wurde dieses Phänomen übrigens gezielt genutzt: In den Arbeiter-, Studenten- und Intelligenzija-Gruppen gab es Anstifter, die andere zu übermäßigem Alkoholkonsum manipulierten [6].

Diskussion und Fazit

Mehrere Studien weisen darauf hin, dass eine Überlappung von ASS und ADHS bei vielen betroffenen Kindern vorliegt [7], ein gemeinsames genetisches Risiko wird diskutiert [8]. Viktimisierung und posttraumatische Belastungsstörung können die autistischen Charakterzüge hervorrufen oder verstärken [9]. Auch die Rolle von Hirnschädigungen in der Ätiologie der ASS beziehungsweise die Ähnlichkeit der Symptome nach pädiatrischem Schädel-Hirn-Trauma und bei ASS wird erwogen [10, 11].

Nach Ansicht des Autors ist die Kindesmisshandlung ein unterschätzter ätiologischer Faktor für ASS. Einige Patienten mit autistischen Symptomen sind vermutlich misshandelte Kinder mit ADHS, hyperkinetischer Störung oder waren ursprünglich gesund. Unter den Bedingungen innerfamiliärer Gewalt können ADHS-Symptome wie Hyperaktivität und Impulsivität regelmäßig und ungesehen durch Familienmitglieder bestraft werden. Die Kinder zeigen deshalb oft bewusst oder unbewusst ein abnormes, mit der ASS mehr oder weniger vergleichbares Verhalten, um Mobbing und Trauma zu vermeiden. Solche Fälle sollte der Arzt erkennen: Die Patienten benötigen eine ursachenorientierte Behandlung [12].

ASS und ADHS sind mit Störungen der Eltern-Kind-Beziehungen, mütterlicher Stressbelastung und Kindesmisshandlung assoziiert [9,13]. Vor dem Hintergrund einer ungünstigen Interaktion mit seinem Umfeld kann der Betroffene übermäßigen Alkoholkonsum nutzen, um Kommunikationsbarrieren zu überwinden und der häuslichen Gewalt zu entweichen. Die frühzeitige Identifizierung, Unterstützung und Behandlung dieser gefährdeten Jugendlichen könnte verhindern, dass sie bezüglich Schule und Berufsausbildung von den normalen Entwicklungswegen abweichen [14]. Zum Schutz misshandelter Kinder sind oft behördliche Maßnahmen nötig [4].


Literatur
1. G. Jacobi, R. Dettmeyer, S. Banaschak, B. Brosig, B. Herrmann, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern - Diagnose und Vorgehen, Dtsch. Arztebl. 107 (2010) 231–239.
2. H. Remschmidt, Misshandlungsfolgen. Seelische Belastungen und Spuren im Gehirn, Dtsch. Arztebl. 108 (2011) 285–286.
3. G.C. Alexandre, P. Nadanovsky, C.L. Moraes, M, Reichenheim The presence of a stepfather and child physical abuse, as reported by a sample of Brazilian mothers in Rio de Janeiro, Child Abuse Negl. 34 (2010) 959–966. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2010.06.005.
4. M. Wopmann, Mehr registrierte Fälle von Kindesmisshandlung, Schweiz. Arzteztg. 95 (2014) 1093–1094.
5. K.M. Radliff, J.E. Wheaton, K. Robinson, J. Morris, Illuminating the relationship between bullying and substance use among middle and high school youth, Addict. Behav. 37 (2012) 569–572. https://doi.org/10.1016/j.addbeh.2012.01.001.
6. S.V. Jargin, On the causes of alcoholism in the Former Soviet Union, Alcohol Alcohol. 45 (2010) 104–105. https://doi.org/10.1093/alcalc/agp082.
7. K. Stollhoff, Autismus und ADHS häufig gepaart, Pädiatrie 23 (2011) 447.
8. U. Davatz, Genetisch bestimmter Vulnerabilitätsfaktor, Schweiz. Arzteztg. 96 (2015) 952.
9. A.L. Roberts, K.C. Koenen, K. Lyall, E.B. Robinson, M.G. Weisskopf, Association of autistic traits in adulthood with childhood abuse, interpersonal victimization, and posttraumatic stress, Child Abuse Negl. 45 (2015) 135–142. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2015.04.010.
10. H. Remschmidt, I. Kamp-Becker, Das Asperger-Syndrom - eine Autismus-Spektrum-Störung. Dtsch. Arztebl. 104 (2007) A873–882.
11. R. Singh, R.C. Turner, L. Nguyen, K. Motwani, M. Swatek, B.P. Lucke-Wold, Pediatric traumatic brain injury and autism: elucidating shared mechanisms, Behav. Neurol. 2016 (2016) 8781725. https://doi.org/10.1155/2016/8781725.
12. S.V. Jargin, Attention deficit hyperactivity (ADHD) and autism spectrum disorder (ASD): on the role of alcohol and societal factors, Int. J. High Risk Behav. Addict. 1 (2013) 194-195. https://doi.org/10.5812/ijhrba.9640.
13. I. Weber-Börgmann, S. Burdach, P. Barchfeld, H. Wurmser, ADHS und das Ausmass der elterlichen Stressbelastung bei mangelnder Spielfähigkeit im Säuglings- und Kleinkindalter, Z. Kinder Jugendpsychiatr. Psychother. 42 (2014) 147–155.
14. K. Purtscher, Traumatisierung in der Kindheit - Folgen für die Entwicklung, Psychiatr. Danub. 20 (2008) 513–520.



Autor:

Dr. Sergei V. Jargin

Russische Universität der Völkerfreundschaft
Moskau, Russland, 117198

Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (7) Seite 24-25