Im März 2017 trat das viel diskutierte "Cannabis-als-Medizin-Gesetz" in Kraft. In den nachfolgenden 10 Monaten wurden mehr als 13.000 Anträge bei den gesetzlichen Krankenkassen gestellt auf Kostenübernahme für eine Off-label- oder No-label-Behandlung mit einem der verschreibungsfähigen Cannabis-basierten Medikamente. Diese Zahl verdeutlicht, dass Cannabis-basierte Medikamente ihren Platz in der Medizin gefunden haben, auch wenn bis heute bei vielen Ärzten Unsicherheiten bei der Verschreibung und Sorge vor Regressen bestehen. Nach wie vor ist nur unzureichend geklärt, bei welchen Erkrankungen Cannabis-basierte Medikamente wirksam sind.

Das "Cannabis-als-Medizin-Gesetz"

Gleichzeitig mit dem "Cannabis-als-Medizin-Gesetz" [1] wurde das zuvor und seit 2007 bestehende systemwidrige Verfahren eingestellt, dass Patienten bei der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis zum legalen Erwerb für eine "ärztlich begleitete Selbsttherapie" beantragen konnten. Bis dato waren 1.061 derartige Erlaubnisse erteilt worden [2, 3].



Beachte:

Bei einer Verordnung von Cannabisblüten muss auf dem Rezept zwingend die Blütensorte vermerkt werden. Aktuell (Stand Februar 2018) sind 28 verschiedene Sorten verfügbar, die jeweils auf die Gehalte von THC (1 – 26 %) und CBD (<1 – 11,7 %) standardisiert sind [4].

Kostenerstattung durch die GKV

Mit dem Gesetz wurden auch die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) festgelegt. Danach hat ein Versicherter dann einen "Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon", wenn:
  1. "eine schwerwiegende Erkrankung" besteht,
  2. "eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht" oder
  3. diese "im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann" und
  4. "eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht."

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, darf die Krankenkasse den Antrag "nur in begründeten Ausnahmefällen" ablehnen. Laut Gesetz muss über den Antrag innerhalb von 3–5 Wochen entschieden werden. Bei einer Verordnung im Rahmen einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung nach § 37b verkürzt sich die Genehmigungsfrist sogar auf 3 Tage [1].



Beachte:

Bei einer Verordnung Cannabis-basierter Medikamente zu Lasten der GKV ist der verschreibende Arzt trotz erteilter Kostenübernahmezusage nicht vor Regressforderungen oder Wirtschaftlichkeitsprüfungen geschützt.

Zulassungen

An den in Deutschland bestehenden Zulassungen hat sich durch das "Cannabis-als-Medizin-Gesetz" nichts geändert. Seit 2011 ist das Fertigarzneimittel Nabiximols (Sativex®) für Erwachsene mit Therapie resistenter Spastik bei Multipler Sklerose (MS) zugelassen. Das Mundspray Nabiximols ist ein auf die Cannabinoide Dronabinol (Tetrahydrocannabinol, THC) und Cannabidiol (CBD) im Verhältnis 1:1 standardisierter Cannabisextrakt in alkoholischer Lösung. Seit 2017 ist zusätzlich der synthetische THC-Abkömmling Nabilon (Canemes®) als Fertigarzneimittel zugelassen für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen infolge einer Chemotherapie bei Krebs bei erwachsenen Patienten.

Indikationen für Cannabis-basierte Medikamente

Derzeit ist nicht abschließend geklärt, in welchen Indikationen Cannabis-basierte Medikamente wirksam sind. Als weitere gesicherte Indikationen gelten chronische, insbesondere neuropathische Schmerzen sowie Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei AIDS [5–7]. In einer 2015 veröffentlichten Metaanalyse wurden darüber hinaus auch Schlafstörungen und das Tourette-Syndrom als weitere Einsatzgebiete mit "geringer Evidenz" genannt [7]. Ergebnisse aus Umfragen und Fallberichten deuten allerdings darauf hin, dass Cannabis-basierte Medikamente möglicherweise bei einer großen Vielzahl von Symptomen und Erkrankungen aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten wirksam sein könnten [8, 9].



Beachte:

Erfolgt eine Off-label- oder No-label-Behandlung mit einem Cannabis-basierten Medikament zulasten der GKV, muss der verordnende Arzt im Rahmen einer Begleiterhebung anonym Daten über die Behandlung ans BfArM übermitteln. Dies muss ein Jahr nach Behandlungsbeginn und erneut 2022 zum Ende der Erhebung oder bei Behandlungsabbruch erfolgen. Der Patient muss darüber mit einem vom BfArM erstellten Merkblatt informiert werden [10].

Tipp:
Cannabis-basierte Medikamente sollten stets einschleichend dosiert werden, beginnend mit einer Äquivalenzdosis entsprechend 2,5–5,0 mg THC.

Weitere verschreibungsfähige Cannabis-Medikamente

Neben den zugelassenen Fertigarzneimitteln und Cannabisblüten können reines CBD und THC verordnet werden. THC (Dronabinol) kann in öliger Tropfenlösung oder als Kapsel entsprechend Neuem Rezepturformularium (NRF) verschrieben werden. Darüber hinaus sind weitere Cannabis-Extrakte mit unterschiedlichen Gehalten von THC und CBD verfügbar.

Orale oder inhalative Einnahme?

Bei allen Cannabis-basierten Medikamenten hat die Einnahmeart wesentlichen Einfluss auf die Wirkung. So ist bei einer inhalativen Aufnahme der Wirkeintritt schneller (innerhalb weniger Minuten) als bei oraler Anwendung (nach 30 – 90 min). Auch das Wirkmaximum wird deutlich früher – nach etwa 20 min – erreicht als bei oraler Einnahme (nach 2–4 h). Allerdings ist die Wirkdauer mit 2–3 h bei einer Inhalation meist deutlich kürzer als bei oraler Aufnahme (4–8 h) [11].

Tipp:
Für die Inhalation von Cannabisblüten sollte ein elektrischer Verdampfer (Vaporisierer) genutzt werden. Zwei Geräte sind derzeit als Medizinprodukte zertifiziert und zugelassen (Volcano Medic und Vaporisator Mighty Medic).

Endocannabinoid-System

Die Wirkung Cannabis-basierter Medikamente wird überwiegend spezifisch vermittelt durch eine Aktivierung zentraler (CB1) und/oder peripherer (CB2) Cannabinoid-Rezeptoren.

Physiologisch wird das Endocannabinoid-System durch sog. Endocannabinoide stimuliert, deren wichtigste Vertreter Anandamid (N-Arachidonoylethanolamid, AEA) und 2-AG (2-Arachidonoylglycerol) sind. Das Endocannabinoid-System gilt als wichtiges Neuromodulationssystem und Stressregulator des Körpers [12, 13].

Merke:
Cannabis-basierte Medikamente können von Ärzten jeder Fachrichtung ohne besondere Zusatzqualifikation verordnet werden. Bis auf reines CBD sind alle Arzneimittel BtM-pflichtig. Die Verschreibungshöchstmenge für Cannabisblüten beträgt 100.000 mg in 30 Tagen unabhängig von der Cannabissorte und dem THC-Gehalt. Hingegen liegt die Verschreibungshöchstmenge für Nabiximols (bezogen auf den THC-Gehalt) bei 1.000 mg und für Dronabinol (THC) bei 500 mg. Durch Kennzeichnung mit dem Buchstaben "A" können diese Verschreibungshöchstmengen überschritten werden.

Neben- und Wechselwirkungen

Cannabis-basierte Medikamente können zu einer Vielzahl von Nebenwirkungen führen. Diese sind überwiegend mild und vorübergehend [6]. Oft tritt eine Gewöhnung an unerwünschte Wirkungen ein.

Die häufigsten Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Schwindel, Antriebsminderung, Dysphorie, Angst, Panik, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, gesteigerte sensorische Wahrnehmung, Störung der Zeitwahrnehmung und unangemessene Euphorie. Nur sehr selten – und bei entsprechender Prädisposition – kommt es zu psychotischem Erleben mit Halluzinationen. Weitere mögliche körperliche Nebenwirkungen sind Tachykardie, Blutdruckabfall, Mundtrockenheit, gesteigerter Appetit, gerötete Augen, Beeinträchtigung der Bewegungskoordination, Übelkeit und Kopfschmerzen. Das Suchtpotenzial einer ärztlich überwachten Behandlung mit Cannabis-basierten Medikamenten wird als gering eingestuft. Selbst nach längerer Behandlungsdauer treten nach abruptem Absetzen meist nur geringe bis mäßige Entzugssymptome auf wie Unruhe, Gereiztheit, Dysphorie und Schlafstörungen.

Besonders sorgfältig sollte die Behandlung bei Patienten mit psychotischen und schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie bei Kindern abgewogen werden. Als Kontraindikationen gelten Schwangerschaft und Stillzeit. Interaktionen können mit Medikamenten auftreten, die ebenfalls über Zytochrom-P-450-Isoenzyme (hauptsächlich CYP2C) verstoffwechselt werden [6–8].



Beachte:

Auch wenn vonseiten der Bundesregierung festgestellt wurde, dass für Cannabispatienten das Führen eines Kraftfahrzeuges grundsätzlich erlaubt sei, sofern "sie aufgrund der Medikation nicht in ihrer Fahrtüchtigkeit beeinträchtigt sind" [14], besteht aktuell juristisch eine Grauzone. Ärzte, die Cannabis-basierte Medikamente verordnen, sind verpflichtet, ihre Patienten darüber aufzuklären, dass es unter der Behandlung zu einer Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit kommen kann.


Literatur
1. Gesetz "Cannabis als Medizin" in Kraft getreten. , Bundesgesundheitsministerium. [Online]. Available: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2017/maerz/cannabis-als-medizin-inkrafttreten.html. [Accessed: 10-Dec-2017]
2. Grotenhermen, F. and Müller-Vahl, K. (2012) The therapeutic potential of cannabis and cannabinoids. Dtsch. Ärztebl. Int. 109, 495–501
3. Müller-Vahl, K. and Grotenhermen, F. (2017) Medizinisches Cannabis: Die wichtigsten Änderungen. Dtsch. Ärztebl. Int. 114, A-352 / B-306 / C-300
4. Sortenübersicht. . [Online]. Available: https://forum.arbeitsgemeinschaft-cannabis-medizin.de/showthread.php?1578-Sorten%FCbersicht. [Accessed: 24-Feb-2018]
5. Grotenhermen, F. and Müller-Vahl, K. (2017) Medicinal Uses of Marijuana and Cannabinoids. Crit. Rev. Plant Sci. DOI: 10.1080/07352689.2016.1265360
6. Hoch, E. and Schneider, M. Kurzbericht "Cannabis: Potential und Risiken (CaPRis)." , Bundesgesundheitsministerium. [Online]. Available: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/drogen-und-sucht/details.html?bmg%5Bpubid%5D=2650. [Accessed: 10-Dec-2017]
7. Whiting, P.F. et al. (2015) Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA 313, 2456–2473
8. Grotenhermen, F. and Müller-Vahl, K. (2016) Cannabis und Cannabinoide in der Medizin: Fakten und Ausblick. Suchttherapie 17, 71–76
9. Hazekamp, A. et al. (2013) The medicinal use of cannabis and cannabinoids--an international cross-sectional survey on administration forms. J. Psychoactive Drugs 45, 199–210
10. BfArM - Begleiterhebung. . [Online]. Available: https://www.bfarm.de/DE/Bundesopiumstelle/Cannabis/Begleiterhebung/_node.html. [Accessed: 10-Dec-2017]
11. Grotenhermen, F. and Häußermann, K. (2017) Cannabis: Verordnungshilfe für Ärzte, 1. Auflage 2017 edition.Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
12. Mechoulam, R. and Parker, L.A. (2013) The endocannabinoid system and the brain. Annu. Rev. Psychol. 64, 21–47
13. Morena, M. et al. (2016) Neurobiological Interactions Between Stress and the Endocannabinoid System. Neuropsychopharmacol. Off. Publ. Am. Coll. Neuropsychopharmacol. 41, 80–102
14. DIP21 Extrakt. . [Online]. Available: http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/802/80220.html. [Accessed: 14-Aug-2017]



Autor:

Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl

Fachärztin für Neurologie und Fachärztin für Psychiatrie,
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie,
Medizinische Hochschule Hannover,
30625 Hannover

Interessenkonflikte: 2. Vorsitzende der Nationalen (ACM) und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (IACM), Mitglied im Medical/Scientific Advisory Board von Fundación CANNA und Therapix Biosciences Ltd., Beraterverträge mit Abide Therapeutics und Therapix Biosciences Ltd., Forschungsförderung von Abide Therapeutics, Therapix Biosciences Ltd., GW Pharmaceuticals und Almirall.



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2018; 40 (10) Seite 34-36