Seit Juli 2013 gilt eine neue Biostoffverordnung, welche die EU-Richtlinie 2010/32/EU umsetzt. Sie verlangt von Arbeitgebern, bei Tätigkeiten mit Infektions- oder Verletzungsgefahr für die Verwendung von sicheren medizinischen Instrumenten zu sorgen. Zudem sind Beschäftigte über die Handhabung der Instrumente und deren Entsorgung zu unterweisen. Das betrifft auch die Hausarztpraxis.

Nadelstichverletzungen (NSV) sind ein klassisches Risiko im Gesundheitswesen. Sogar kleine Verletzungen können folgenschwere Infektionen verursachen. Doch die Gefahr wird auch von den Betroffenen selbst viel zu häufig bagatellisiert. Die meisten Verletzungen ereignen sich beim Verabreichen von Injektionen, bei der Blutentnahme und beim Legen von Infusionen. Kanülen, Spritzen und Katheter sind infolgedessen außerhalb des operativ-chirurgischen Bereichs die Hauptverursacher solcher Verletzungen. Besonders kritisch ist die Entsorgung benutzter Instrumente – dabei sind nicht nur der Arzt und seine Helferin, sondern auch das Reinigungspersonal gefährdet.

Hohes Infektionsrisiko

Stichverletzungen gehen mit einer Infektionsgefahr insbesondere durch Hepatitis-B-Viren, Hepatitis-C-Viren und HIV einher. Nach einer NSV bei einem infektiösen Spender beträgt das Infektionsrisiko für HBV mindestens 30 %, für HCV mindestens 3 % und für HIV rund 0,3 % für den nicht behandelten Patienten. Ein typischer Nadelstich überträgt 1 μl Blut und damit z. B. bei Hepatitis B genügend Infektionserreger, um mehrere 10 000 Menschen zu infizieren.

Die Infektion mit Hepatitis B führt bei Erwachsenen in einem Drittel der Fälle zu einer akuten Gelbsucht. Bei einem weiteren Drittel der Infektionen sind nur unspezifische Symptome zu erwarten, ein weiteres Drittel verläuft asymptomatisch. Obwohl die meisten akuten Hepatitis-B-Erkrankungen bei Erwachsenen vollständig ausheilen, entwickelt sich bei bis zu 10 % eine chronische Verlaufsform mit dem Risiko der Entwicklung einer Leberzirrhose und von Leberkrebs.

Eine Hepatitis B-Grundimmunisierung mit drei Impfungen innerhalb von sechs Monaten und anschließender Kontrolle des Impferfolges ist ein wirksamer Schutz. Arbeitgeber im Gesundheitswesen sind verpflichtet, ihren Beschäftigten diese Impfungen kostenlos anzubieten. Gegen das Hepatitis-C-Virus und das HI-Virus gibt es keine Impfmöglichkeiten. Beide Infektionen enden vielfach tödlich.

Hepatitis C verläuft bei etwa 75 % der Betroffenen ohne auffällige klinische Symp-
tomatik oder geht mit nur unspezifischen, z. B. grippeähnlichen Symptomen einher. Doch bis zu 80 % der Infektionen werden chronisch, langfristig entwickelt sich bei rund 20 % der chronisch Infizierten eine Leberzirrhose.

Diese Patienten haben ein hohes Risiko, Leberkrebs zu entwickeln. Die Behandlung von chronischer Hepatitis C geht mit erheblichen Nebenwirkungen einher und führt nicht immer zur Heilung. In einem frühen Interventionsstadium nach antiretroviraler Therapie dagegen liegt die Heilungsrate bei Hepatitis C bei über 95 %.

Die HIV-Infektion ist nach wie vor nicht heilbar, durch eine mit erheblichen Nebenwirkungen verbundene Therapie kann lediglich ein Stillstand der Erkrankung erreicht werden. Eine Postexpositionsprophylaxe ist bei HIV nur innerhalb der ersten Stunden erfolgversprechend.

Versorgen und dokumentieren

Nach einer NSV muss zuerst die Wunde versorgt werden (siehe Kasten). Jede NSV ist aber auch ein Arbeitsunfall, muss dokumentiert und gemeldet werden. Nur dann lässt sich eine Berufskrankheit (weil z. B. aufgrund einer Hepatitis-C-Infektion die Berufsausübung nicht mehr möglich ist) gegenüber der Berufsgenossenschaft nachweisen. Besonders wichtig ist die Meldung beim Betriebs- oder Durchgangsarzt, wenn der Infektionsstatus des Spenders oder die Herkunft des gebrauchten Verletzungsgegenstands unbekannt ist. Im ersten Fall sollte unbedingt auch dem Patienten Blut abgenommen werden.

Am wichtigsten ist Prävention

Unterweisung der Mitarbeiter, sichere Instrumente und die arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung samt Impfung sind die wesentlichen Elemente der Prävention. Die EU-Richtlinie verlangt die „Unterrichtung und Unterweisung der Mitarbeiter in der richtigen Verwendung scharfer/spitzer medizinischer Instrumente mit integrierten Schutzmechanismen, Einarbeitung aller neuen Mitarbeiter und Zeitkräfte (und deren Unterrichtung über) Risiken der Exposition gegenüber Blut und Körperflüssigkeiten“. Alle Mitarbeiter, die einer Infektionsgefahr ausgesetzt sind, müssen also vor Aufnahme der Tätigkeit über alle auftretenden Gefährdungen und erforderlichen Schutzmaßnahmen mündlich unterwiesen werden. Pflicht sind auch arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen durch einen Arbeitsmediziner oder Betriebsarzt und das bereits erwähnte Angebot einer Impfung gegen Hepatitis B. Die Pflicht zur Verwendung sicherer Instrumente ergibt sich konkret aus der Forderung in § 11 der neuen Biostoffverordnung, der Arbeitgeber habe „spitze und scharfe medizinische Instrumente (…) durch solche zu ersetzen, bei denen keine oder eine geringere Gefahr von Stich- und Schnittverletzungen besteht, soweit dies technisch möglich und zur Vermeidung einer Infektionsgefährdung erforderlich ist“.

Um die Akzeptanz zu erhöhen, sollten neue Arbeitsgeräte unter Beteiligung der Mitarbeiter ausgewählt und zunächst erprobt werden. Der Arbeitgeber hat auch sicherzustellen, dass gebrauchte Kanülen nicht in die Schutzkappen zurückgesteckt werden (Verbot des „Recapping“). „Spitze und scharfe medizinische Instrumente sind nach Gebrauch sicher zu entsorgen. Hierzu hat der Arbeitgeber vor Aufnahme der Tätigkeiten Abfallbehältnisse bereitzustellen, die stich- und bruchfest sind und den Abfall sicher umschließen. Er hat dafür zu sorgen, dass diese Abfallbehältnisse durch Farbe, Form und Beschriftung eindeutig als Abfallbehältnisse erkennbar sind.“ Gebrauchte Kanülen und andere Instrumente müssen ohne Zwischenlagerung in diese Behälter entsorgt werden.


Kontakt
Werner Enzmann

Quellen:
Biostoffverordnung, Bundesministerium der Justiz (http://www.gesetze-im-internet.de/biostoffv_2013/index.html)
Richtlinie 2010/32/EU des Rates der Europäischen Union (http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2010:134:0066:0072:DE:PDF)
„Vermeidung von Nadelstichverletzungen in der Arztpraxis“, Runder Tisch für betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz Hannover
„Der unterschätzte Arbeitsunfall“, Initiative Safety First, Heidelberg, www.nadelstichverletzung.de
http://www.deutsche-leberstiftung.de/hilfe/informationen-fuer-aerzte/nadelstich-und-hbv
http://www.deutsche-leberstiftung.de/hilfe/informationen-fuer-aerzte/nadelstich-und-hcv




Ablauf und Verhalten nach einer Nadelstichverletzung

– EILE IST AUCH IM VERDACHTSFALL GEBOTEN –

  1. 1. Blutfluss fördern, evtl. zentrifugales Auspressen des Gefäßes oberhalb der Verletzung, um möglichst alles Fremdmaterial aus der Wunde zu entfernen.
  2. 2. Desinfektion der betroffenen Stelle.Haut: Desinfiziens mit Ethanolgehalt > 80 Vol.% Wunde: z. B. Betaseptic und Freka®-Derm farblos. Evtl. Stichkanal spreizen, um Wirkung des Mittels in der Tiefe zu erleichtern, Tupfer mit viruzidem Antiseptikum satt benetzen; Verletzung > 10 Min. feucht halten!
  3. 3. Sofortige Blutentnahme beim Verletzten und Spender zwecks Durchführung folgender Laboruntersuchungen: Verletzter: HBsAg, anti-HBs-quant., anti-HCV, anti-HIV 1+2Spender: HBsAg, anti-HBc, anti-HCV, HIV
  4. 4. Bei HBV-, HCV-Kontamination sofortige Kontaktaufnahme mit Betriebsarzt!
  5. 5. Bei HIV-Kontamination sofortige Kontaktaufnahme mit HIV-Ambulanz!
  6. 6. Unfallmeldung umgehend an Betriebsärztlichen Dienst schicken!
  7. 7. Blutkontrollen beim Betriebsarzt: nach 3 bzw. 6 MonatenBei pos. Hep-C Spender 2./3. Woche sowie nach 3 und 6 Monaten

Quelle: Universitätsklinik Heidelberg, Betriebsärztlicher Dienst



Erschienen in: Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (13) Seite 22-24