Hausärzt:innen benötigen funktionierende Strukturen, damit sie sich auf ihre Patient:innen konzentrieren können.

New Work
beschreibt ursprünglich die Abkehr von der Vorstellung, dass Arbeit im reinen Abarbeiten von Aufgaben besteht, wie in den Zeiten der Industrialisierung üblich. Heute steht New Work insbesondere für mehr Mitsprache des Einzelnen, mehr Zuversicht und Selbstständigkeit im eigenen Arbeitsalltag.

New Work hat hier das Potenzial, uns entscheidende Schritte voranzubringen: beim großen
Ganzen, aber auch in der einzelnen Praxis.

Über die aktuellen Chancen durch New Work im Gesundheitswesen sprachen wir mit der Organisationsexpertin Vera Starker, die u.a. ein Klinikum bei umfassenden Veränderungen betreut und gerade ein Buch zu "New Work in der Medizin" veröffentlicht hat. Für sie findet mehr Beteiligung im Sinne von New Work im Großen statt, durch aktive Mitbestimmung im gesundheitspolitischen System, aber auch im Kleinen: in jedem einzelnen "Unternehmen Arztpraxis".

doctors|today: Wo stehen wir aktuell im Arbeitsalltag im Gesundheitswesen?

Vera Starker (VS): "Eines habe ich bei meiner Arbeit mit dem Universitätsklinikum immer wieder festgestellt: Das Gesundheitspersonal vor Ort bekommt fortlaufend neue organisatorische Aufgaben aufgelastet, für die es schlichtweg nicht ausgebildet ist. Dazu gehört neben immer umfangreicheren Verwaltungsaufgaben auch das Thema Veränderungsmanagement. Dafür haben die Mediziner:innen im Praxisalltag weder Zeit noch das detaillierte Know-how. Ein Chirurg z. B. hat gelernt, Menschen "aufzuschneiden und zu reparieren". In der Veränderungsorganisation lernen wir, soziale Systeme in Veränderung zu bringen. Dabei sind die Chancen, die mehr Beteiligung der Ärzteschaft und ihrer Teams bieten, enorm – und das wird hier auch erkannt. Unterhält man sich mit Expert:innen aus den verschiedensten Bereichen der Gesundheit, ist oft in Sekundenschnelle klar, was alles schiefläuft. Aber dann ist bereits ein Großteil der Energie dahin – und es endet mit dem enttäuschten Hinweis "Das geht ja bei uns nicht, weil…". Und man scheitert dann an den Gegebenheiten der Branche. Das frustriert jeden, der sich aktiv beteiligen möchte! Auf der anderen Seite gibt es aber auch positive Resonanz auf die Ermutigung, selbst aktiv zu werden und Veränderungen voranzubringen."

doctors|today: Warum ist das gerade jetzt wichtig?

VS: "Beim Thema Mitgestaltung sprechen wir über Systemveränderungen, die die hier arbeitenden Menschen schon lange fordern. Gleichzeitig strecken aber auch immer mehr Investoren die Hand nach dem ambulanten Bereich aus. Amazon ist dabei, sich der hausärztlichen Strukturen in den Vereinigten Staaten zu bemächtigen – dann wird man versuchen, das weltweit auszurollen. Für Patient:innen scheint das erst einmal vorteilhaft: Es geht um individualisierte Prozesse, niedrigschwellig und digital. Für die Tech-Giganten sind Patient:innen aber v.a. Kundschaft. Den mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen stellt man sich schon aus eigenem Interesse. Wenn wir hier noch eingreifen wollen, dann ist jetzt der Zeitpunkt, über alternative Modelle nachzudenken! New Work heißt dann aber auch, dass Politik das nicht in der geheimen Kammer durchführt, sondern das unter Einbindung der Menschen erfolgt, die es angeht: den Ärzt:innen und ihren Teams."

Praxisbeispiel 1: SprechZimmer+ (CH)
Eine normale Hausarztpraxis stößt heute medizinisch und organisatorisch immer wieder an ihre Grenzen, da Patient:innen oft Bedürfnisse über den allgemeinmedizinischen Fokus hinaus äußern. In Bern setzt SprechZimmer+ genau hier an: Hier wird ein Expertennetzwerk (Mediziner:innen und Gesundheitsexpert:innen aus allen Bereichen) aufgebaut, und damit eine ganzheitliche Plattform für Patient:innen. Medical Co-Working ermöglicht zudem Mediziner:innen unabhängig und selbstbestimmt mit minimalem finanziellem Risiko zu praktizieren und fördert den interdisziplinären Austausch: sprechzimmerplus.ch

doctors|today: Ist Fremdbestimmung auch ein Teil des Problems?

VS: "Ärzt:innen haben nicht Medizin studiert, um 40 % ihrer Arbeitszeit mit administrativen Aufgaben zu verbringen. Wenn Mediziner:innen heute gezwungen werden, so viele Patient:innen wie möglich durchzuschleusen, dann ist das nichts anderes als am Band zu sitzen oder in der Legebatterie. Beim "SprechZimmer+"-Modell in der Schweiz z. B. wird den Ärzt:innen der Großteil der Bürokratie abgenommen. Aber mit anderen Hintergedanken als bei einem Investorenmodell. Ein Investor macht das nicht aus altruistischen Motiven, sondern um Geld zu verdienen. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Taktung für die einzelne Ärzt:in ändert. Auch "SprechZimmer+" ist natürlich ein Geschäftsmodell, aber darauf ausgerichtet, dass patientenorientiert gearbeitet werden kann. Das bieten die gängigen Investorenmodelle nicht, die auf Gewinnmaximierung abzielen. Es gibt großartige Beteiligungsmethoden. Aber immer noch schlagen sich die Kolleg:innen in der niedergelassenen Praxis mit den gleichen Problemen herum. Ein Ansatz wäre, dass man die verschiedenen "Orte" identifiziert, an denen im Gesundheitssystem hierzulande gearbeitet wird. Dann skizziert man mit den Expert:innen dort, wie die Arbeit optimalerweise aussehen könnte. Und prüft, wie das umgesetzt werden kann. Leider schaut man im Gesundheitssystem immer noch primär aus der Mangelperspektive auf das Problem – i.d. R. aus einem kostenorientierten Mangel heraus."

doctors|today: Was bedeutet das für die "Hausarztpraxis 2023"?

VS: "Wir reden heute viel über Telemedizin, aber bleiben auf der obersten Ebene stecken. Auf die Praxis heruntergebrochen stellen sich Ärzt:innen heute immer neuen sozio-ökonomischen Herausforderungen. Mit unserem Buch haben wir uns in einem ersten Schritt der klinischen Ebene zugewendet. Folgerichtig muss man diese Fragen auch für die Hausarztpraxis stellen, ohne die eine Versorgung vor Ort nicht denkbar ist. Was heißt denn in diesem Kontext Ambulantisierung ? Wie fühlt sich das für die Praxisteams und für die Patient:innen an? Ich bin mir sicher, wenn wir die Expert:innen aktiv beteiligen, gibt es echte Bereitschaft zur Mitarbeit. In unserem Gesundheitswesen zeigt sich eine fragmentierte Struktur mit vielen Partikularinteressen. Das ist einer der Hauptgründe dafür, warum man in der Vergangenheit immer nur Reförmchen bewältigt hat. Wenn wir das verändern wollen, brauchen wir ein höheres gemeinsames Ziel, bei dem jeder bereit ist, von seinen Interessen etwas abzugeben. Das bin ich nur, wenn ich teilhaben kann an etwas Größerem. Genau das muss man aber den Ärzt:innen und ihren Teams ermöglichen. Mit ihrer Fachexpertise und nicht als Lückenbüßer. Es gibt viele Akteure, die schon lange kämpfen – es ist höchste Zeit, dass diese Praktiker:innen Rückendeckung bekommen."

Praxisbeispiel 2: Waldkliniken Eisenberg
David-Ruben Thies ist Geschäftsführer der Waldkliniken Eisenberg (www.waldkliniken-eisenberg.de) und Mitautor des Buchs. Er bringt es wie folgt auf den Punkt: "Digitalisierung im Gesundheitswesen muss den Mitarbeitenden wieder ihre Berufung zurückgeben – für Menschen da zu sein und nicht für die Datenpflege, Geräte oder Abläufe. Unter diesem Aspekt prüfen und realisieren wir alle Digitalisierungsinitiativen in unserem Haus. Das gilt auch für unsere digitale Patientenakte: Diese haben wir bereits vor drei Jahren eingeführt. Unsere IT erarbeitete für die Klinik innerhalb von neun Monaten ein Patientenportal, holte den zuständigen Datenschutzbeauftragten inklusive Freigabe mit an Bord und schöpfte einen siebenstelligen Förderbetrag des Landes aus. Das Ergebnis ist ein cloudbasiertes Patientenportal. Unsere eigenen MVZ docken sich gerade an, auch in der Region niedergelassene Arztpraxen wollen dabei sein. Während der Bund seit 20 Jahren quasi ergebnislos an dem Projekt arbeitet und bisher 16 Milliarden Euro ausgegeben hat, haben wir es "einfach gemacht".

doctors|today: Warum ist jammern eher hinderlich?

VS: "Dieses ganze Alleinkämpfertum macht es doppelt hart für die Ärzt:innen. Davon müssen wir wegkommen. Deswegen ist es gut, dass Mediziner:innen endlich anfangen, sich zu beschweren. Wenn z. B. eine Klinikärzt:in erzählt, dass sie zu ihrer Assistenzzeit mit zwei weiteren Kolleg:innen in einem Zimmerchen ohne Fenster saß. Der berufliche "Aufstieg" führte sie dann in ein Vier-Mann-Zimmer – mit Fenster! Versuchen Sie in der Wirtschaft, drei Führungskräfte in ein Zimmerchen zu pferchen ohne Fenster. Da weiß man gar nicht, wer als Erstes eingreift: Arbeitsmedizin oder Betriebsrat? Im med. Bereich wird man hingegen dazu erzogen, sich an schlechte Bedingungen zu gewöhnen. Und: Wer jammert, ist noch steuerbar. Vor diesem Hintergrund sind Studien, die belegen, wie schlecht es aussieht, auch positiv. Menschen sagen: "Nicht mit mir. Ich stütze dieses System nicht weiter." Das ist erst einmal der richtige Weg. Bei Veränderungen gilt es aber auch, alle mitzunehmen. Gerade beobachtet man in der Wirtschaft den Drang, den Jüngeren Belastungsfähigkeit und Eigenmotivation abzusprechen. Dabei können wir alle etwas voneinander lernen, auch wir Praktiker:innen über 50 von ganz Jungen. Wenn wir nur die fragen, die 30 Jahre im System "erzogen" wurden, ist es wenig wahrscheinlich, dass wir zu Visionen für die Zukunft kommen."

doctors|today: Was muss jetzt passieren?

VS: "Für die Ambulantisierung bedeutet das, sich von politischer Seite mit den Praktiker:innen zusammenzusetzen und nachzufragen: Wo ist auf dem Weg die ganze Kraft verloren gegangen? Dabei gibt es viel zu lernen. Und wir müssen eine ausreichende Menge an Gestaltern gewinnen. Veränderungen haben auch mit Leichtigkeit zu tun, das betrifft auch die einzelne Arztpraxis. Wenn wir etwas Attraktives vor Augen haben, an dem wir alle teilhaben können, wo wir Kompetenz erleben und Empowerment, dann sind an Bord auch die einzelnen Mitarbeiter:innen. Würde man Hausärzt:innen aktuell heute nach ihren größten Problemen fragen, wird zielsicher auch der Begriff Digitalisierung fallen. Hier gilt es mit der Förderung der zuständigen Stellen vor Ort und in einer überschaubaren Gruppe von z. B. 40 Praxen eine pragmatische Lösung zu entwickeln und zu erproben. Das kann man dann auf das größere System hin weiterentwickeln. Aus der Praxis zur Strategie, nicht von der Therapie in die (einzelne) Praxis."

Das Interview führte Sabine Mack

Lesetipp
New Work in der Medizin, Rossberg Verlag rossberg-verlag.de/products/new-work-in-der-medizin


Literatur:
RPT Amazon launches virtual healthcare clinic in U.S. for common ailments, November 2022: https://www.reuters.com/business/healthcare-pharmaceuticals/amazon-launches-virtual-healthcare-clinic-us-2022-11-15/


Die Expertin

© privat
Vera Starker

Wirtschaftspsychologin
www.nextworkinnovation.com
vera@nextworkinnovation.com

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Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (2) Seite 50-52