Wer kennt sie nicht: Patient:innen, die ihre Gesundheitsprobleme durch eine „schnelle Pille“ lösen möchten. Mit ihrem alltäglichen Verhalten machen sie aber alle medizinischen Anstrengungen zunichte. Intensives Coaching während der Therapie durch Fachpersonal wäre hier hilfreich, scheitert jedoch an der verfügbaren Zeit pro Patient:in.

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) haben das Potenzial, die Therapiebegleitung zu erleichtern. Sie holen die Betroffenen aktiv mit ins Boot, wenn es um langfristig erfolgreiche Anpassungen ihres Lebensstils geht. Auch weil die "Gesundheits-Apps" es dorthin schaffen, wohin die medizinischen Expert:innen nicht gelangen: hinein in alle Lebensbereiche, von beruflich bis privat.

Wo stehen wir aktuell?

Digitale Gesundheitsanwendungen wurden Ende 2019 eingeführt, verordnungsfähig sind sie seit 2020. Im Juni 2021 waren 15 DiGA vorläufig bzw. dauerhaft gelistet. Das überschaubare Angebot begründet sich u. a. in der Tatsache, dass das Gesundheitssystem aktuell an vielen Fronten kämpft: von der Praxisdigitalisierung bis zur Corona-Pandemie. Aber gerade vor diesem Hintergrund sollte man die digitalen Helfer nicht unterschätzen, denn werden sie optimal genutzt, kann das auf der Arztzeite zu Arbeitserleichterung und Zeitersparnis führen − bei gleichzeitiger Verbesserung der Therapieaussichten für zahlreiche Krankheitsbilder wie Migräne, Adipositas/Übergewicht oder bei der Begleitung von Krebserkrankungen.

DiGA als Therapiebegleiter

Eine Vielzahl von Krankheitsbildern kann nachweislich durch Veränderungen des individuellen Verhaltens der Betroffenen positiv beeinflusst werden, teils sogar geheilt. Gerade, wenn es um mangelnde Bewegung oder eine gesundheitsschädigende Ernährung geht, können DiGA daher für die Patient:innen zu wirkungsvollen Therapiebegleitern werden. Das gilt insbesondere für Gesundheits-Apps, die edukative Inhalte inkludieren. Inga Bergen und Dr. Lara Meier haben sich mit dem verhaltenstherapeutischen Ansatz der DiGA beschäftigt. Sie stellen die These auf, dass sich die Patient:innen der Zukunft in zwei Gruppen unterteilen lassen: Sie möchten entweder auf Augenhöhe kommunizieren oder die Verantwortung komplett abgeben. DiGA können beiden Gruppen helfen – indem sie wichtige Informationen vermitteln, für die im Arzt-Patienten-Gespräch keine Zeit ist, oder sie bereiteten schwierigere Inhalte z.B. per Trainingsvideo so auf, dass sie auch von Menschen verstanden werden, die im Umgang mit komplexeren Inhalten ungeübt sind. Oder für solche, die wenig Eigenantrieb haben, sich selbst intensiv mit einem komplexeren Thema wie Bewegung oder Ernährung zu beschäftigen (1).

Mehr Effekt und weniger Zeitaufaufwand

Wird eine Therapie langfristig durch medizinisches Fachpersonal begleitet, ist das ein wichtiger Faktor für die erfolgreiche (Sekundär-)Prävention chronischer Krankheiten. Eine DiGA erzeugt hier durch ihre Interaktivität mehr Gewicht und Verbindlichkeit als Infobroschüren. Interessant ist in diesem Kontext auch, dass sich laut einer Studie die positive Wirkung durch eine DiGA sogar verstärken kann, wenn Informationen zum erhofften Effekt vor der App-Nutzung mit positiven Rückmeldungen der Nutzer:innen danach kombiniert werden. So könne u. a. das Risiko reduziert werden, dass Nutzer:innen, welche die App über einen längeren Zeitraum oder ohne ärztliche Betreuung nutzen, verfrüht abbrechen.

In den meisten Arztpraxen ist nun aber die Zeit, die man pro Patient:in investieren kann, äußerst knapp bemessen. Gleichzeitig gilt es, möglichst viele Informationen, die für eine erfolgreiche Therapie wichtig sind, im direkten Patientengespräch zu eruieren. Können auf der Patientenseite mithilfe einer DiGA fortlaufend Daten gesammelt und aufbereitet werden, die für eine langfristige Therapie hilfreich sind, erspart das dem Praxispersonal Zeit und liefert gleichzeitig Fakten, die sonst vielleicht unter den Tisch fallen würden.

Informationen allzeit zur Hand

Fortlaufende und möglichst konkrete Infos über den Therapiezustand der Betroffenen sind wichtig, damit die Therapie im Verlauf weiter optimiert werden kann. Migränepatient:innen z. B. führen deswegen oft selbst eine Art "händisches Tagebuch" über individuelle Symptome, mögliche Auslöser und Wirkungseffekte ihrer Medikation. Diese Eintragungen erfolgen im Alltag meistens mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und sind dadurch oft unvollständig. Eine DiGA ist stets am Mann bzw. an der Frau: Notizen können direkt und überall festgehalten werden. Werden diese Daten dann noch durch die App patientenverständlich ausgewertet, können sie auf der Seite der Betroffenen Aha-Effekte z. B. zu bisher vernachlässigten Auslösern bringen. Gleichzeitig eignen sie sich perfekt für das nächste Arzt-Patienten-Gespräch: Diese Informationen müssen dann dort nicht mühsam erfragt und bewertet werden, sondern stehen bereits – in den entsprechenden Kontext gebracht – zur Verfügung.

Beispiele aus dem DiGA-Verzeichnis

Ein gutes Beispiel für die Aktivierung der Betroffenen per App ist die DiGA "zanadio", die eine ursächliche Adipositas-Therapie (BMI 30−40) ermöglicht und für Ärzt:innen eine budgetneutrale Therapieergänzung bzw. Behandlungsalternative bietet. Das mehrstufige Programm basiert auf den medizinischen Leitlinien zur Adipositas-Therapie und besteht aus den Komponenten Bewegung, Ernährung und Verhalten. Hierfür bietet die in die App integrierte "zanadio-Akademie" eine Vielzahl von Video-, Audio- und Bildinhalten. Diese ermöglichen den Nutzer:innen ein individuelles Training. "zanadio" wird von Patient:innen eigenständig genutzt und kann orts- und zeitunabhängig eingesetzt werden. Tools wie die Wochen- und Tagesübersicht, die u. a. das Bewegungsverhalten und das Erreichen der von den Nutzer:innen selbst gesetzten Ziele analysieren, liefert hilfreiche Daten für das Arzt-Patienten-Gespräch. Laut Hersteller wird großer Wert auf eine optimale Verschlüsselung der sensiblen Informationen gelegt, die ausschließlich auf Servern in Deutschland gesichert werden (https://zanadio.de/).

Dass eine DiGA auch bei Krebserkrankungen wertvolle Therapieunterstützung bieten kann, zeigt wiederum die "Mika-App": "Mika" ist eine digitale Gesundheitsanwendung zur Therapieunterstützung bei psychischen und psychosomatischen Folgen der Diagnose und Therapie von Malignomen. Die App setzt u. a. auf die Dokumentation von Belastung, Symptomen und Nebenwirkungen im Verlauf sowie auf eine ressourcenaktivierende Patientenedukation in den Bereichen Gesundheitskompetenz, Stressmanagement, Bewegung und Ernährung. Im Rahmen der "Themenreisen" stehen beispielsweise Übungen und Aufgaben zur Verfügung, mit denen die Nutzer:innen ihre inneren Widerstandskräfte stärken können. Diverse Auswertungen wie die "Befinden-Übersicht" und die "Symptom-Übersicht", die von den Patient:innen ohne großen Aufwand gepflegt werden können, liefern in der Arztpraxis wertvolle Hinweise über das individuelle Patientenbefinden (www.mitmika.de).

Ein gutes Praxisbeispiel ist auch die DiGA "M-sense", die eine personalisierte und mobile Migränetherapie ermöglicht. Sie kann den Betroffenen helfen, die Intensität ihrer Migräne-Attacken mit konkreten Triggern in Zusammenhang zu bringen, und vor dem nächsten Schub in einem ähnlichen Kontext warnen. Das System stellt eine Auswahl an Entspannungsübungen ("M-sense Active") zur Verfügung, mit denen Migränepatient:innen ihre Stresssensibilität trainieren können und, visualisiert per Kalenderansicht, inwieweit dies positive Auswirkungen auf den Beschwerdeablauf hat. Für die betreuenden Ärzt:innen ist z. B. die Auswertung der Attacken- und Kopfschmerzanalyse relevant (inkl. Anzahl, Schmerzintensität und Klassifizierung). Die App wird bislang von rund 110.000 Betroffenen genutzt. Der grundlegende Algorithmus lernt fortlaufend dazu und bezieht dadurch die Nutzer:innen in die Weiterentwicklung mit ein (www.m-sense.de).

Wertvoll auch aus Patientensicht

"Die Suche nach Gesundheitsinformationen im Internet gehört für eine steigende Zahl von Bürger:innen bereits fest zum Informationsverhalten dazu. Dabei wird es für Patient:innen immer schwieriger, die Qualität und Zuverlässigkeit der Quellen zu bewerten. Gleiches gilt für das Angebot digitaler Anwendungen", bringt es Mina Luetkens von Patients4digital auf den Punkt. Vor diesem Hintergrund ist eine fachliche Unterstützung bei der Auswahl der passenden Gesundheits-App durch die Hausarztpraxis für die Patient:innen wertvoll. "Wenn bestimmte Informationen dank DiGA direkt bei Gesprächsbeginn vorliegen, kann die Zeit für die Befragung eingespart werden und dafür genutzt werden, um gemeinsam mit den Betroffenen z.B. über Anpassungen der Therapie oder eine Verbesserung des Adhärenzverhaltens zu sprechen", so Luetkens.

Welcome to the future?!

Der Erfolg der DiGA hängt neben der Qualität der Produkte insbesondere von der Akzeptanz durch Leistungserbringer und Patient:innen ab. Gerade die Ärzt:innen müssen (noch) davon überzeugt werden, dass es sich lohnt, DiGA in ihren Praxisablauf zu integrieren. Dass sich das in ihrem Alltag in der Hausarztpraxis bezahlt machen kann, dafür spricht z. B. die Chance, ein höheres Maß an Eigenbeteiligung und Eigenverantwortlichkeit bei den Betroffenen zu erzielen, aber auch ihr Nutzen bei der Generierung aussagekräftiger Daten. Gleichzeitig bringen diese Perspektiven auch steigende Anforderungen an die Datensicherheit mit sich, die es stets im Blick zu behalten gilt. Es bleibt also auch weiterhin spannend beim Thema Digitale Gesundheitsanwendungen.


Literatur:
1. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) – rechtliche Grundlagen, innovative Technologien und smarte Köpfe". medhochzwei. 2021.
2. Stalujanis et al. Induction of Efficacy Expectancies in an Ambulatory Smartphone-Based Digital Placebo Mental Health Intervention: Randomized Controlled Trial. JMIR Mhealth Uhealth 2021;9(2):e20329. doi: 10.2196/20329.
3. Patient-Reported Outcome Measures – an International Comparison Challenges and success strategies for the implementation in Germany. Bertelsmann Stiftung. 2021


Autorin
Sabine Mack

Erschienen in: doctors|today, 2021; 1 (7) Seite 29-31