Auch in Deutschland wird am Arbeitsplatz zunehmend geduzt. Gleichzeitig steht das "Sie" im Arbeitsumfeld aber auch heute noch für gegenseitigen Respekt & Höflichkeit. Wie geht man im "Unternehmen Arztpraxis" mit diesem Zwiespalt um?

Für die Mitarbeiter:innen in den deutschen Unternehmen ist das "Sie" schon lange nicht mehr die häufigste Form der Ansprache, vielmehr herrscht heute eine Mischform vor: 63 % der Fachkräfte adressieren ihre Kolleg:innen mit "Du", während sie die Führungsebene siezen. Und während im universitären Umfeld oder in der Forschung schneller geduzt wird − oft auch bedingt durch den internationalen Kontext −, sieht es im Medizinsektor vielerorts noch anders aus: Hier scheint das "Sie" in der Ansprache noch der Goldstandard zu sein, insbesondere wenn Hierarchieverhältnisse (z. B. zwischen Praxisinhaber:in und Angestellten) bestehen. Aber ist das noch zeitgemäß? Dass sich der Trend zum "Du" verstärkt, hängt auch mit dem Generationenwandel in unserer Gesellschaft zusammen und dieser ist längst auch in der Hausarztpraxis angekommen.

Als Teil der Generation X (geb. 1965 − 1980) oder als Baby-Boomer (geb. 1946 − 1964) musste man sich das "Du" oft hart erarbeiten. Meist wurde es einer Mitarbeiter:in nach einem Zeitraum von rund drei Monaten von den erfahreneren Kolleg:innen angeboten −und hatte auch etwas von einer Auszeichnung. Vom Vorgesetzten oder der Chefetage gab es das "Du" dann oft deutlich später, je nach Branche konnte es auch beim "Sie" bleiben. Dazu passt, dass Baby-Boomer im beruflichen Umfeld viel Wert auf Disziplin und Höflichkeit legen. Es ist ihnen wichtig, dass man ihnen Respekt entgegenbringt. Mitglieder der Generation X wiederum respektieren andere aufgrund ihres Verhaltens, nur nachrangig wegen ihrer hierarchischen Position. Das "Sie" im Arbeitsumfeld ist für sie schon nicht mehr ganz so essenziell. Die Post-Millennials (geb. um die Jahrtausendwende) schätzen Kompetenz und Individualität, die offen geteilt wird. Sie hinterfragen den Status quo, wollen mitreden und Ideen äußern. Hier kann das "Du" helfen, starre Barrieren abzubauen.

Im Mediziner-Forum Coliquio war die kollegiale Anrede im Arztalltag jüngst ein viel diskutiertes Thema. Zahlreiche Mediziner:innen dort bevorzugen ein grundsätzliches "Sie" am Arbeitsplatz. Praktiziert in Form einer Abstufung über drei Ebenen: Ärztliche Kolleg:innen in der Praxisgemeinschaft sowie langjährige Mitarbeitende werden geduzt, alle anderen Mitarbeiter:innen gesiezt und bei Externen wird individuell entschieden. Es gibt unter den Forenmitgliedern aber auch Allgemeinmediziner:innen, die in ihrer Praxis einheitlich auf "Du" setzen.

Anrede ist auch Einstellungssache

Duzen oder Siezen entscheidet heute nicht mehr primär darüber, wie kompetent und seriös man wirkt. Das wird vielmehr beeinflusst durch Inhalte, den eigenen Auftritt und das Benehmen gegenüber privaten und beruflichen Kontakten. Hier kann explizit kommunizierte Höflichkeit durch ein respektvolles Siezen helfen, den persönlichen Abstand zu regulieren – z. B. gegenüber Kolleg:innen und Vorgesetzten. Sprachwissenschaftlich spricht man von einer "negativen Höflichkeit", wenn jemand seinem Gegenüber signalisieren möchte, dass man dessen persönlichen Raum und sein Selbstbestimmungsrecht anerkennt, respektiert und nicht verletzen möchte. Das macht insbesondere dann Sinn, wenn ein relatives Machtverhältnis oder soziale Distanz besteht. Siezen kann hier Höflichkeit signalisieren und schafft dadurch auch eine gewisse Distanz. Wer in seinem Team die Barrieren zwischen den einzelnen Bereichen und Mitarbeiter:innen abbauen möchte, für den könnte hingegen das praxisübergreifende "Du" die bessere Lösung sein.

Argumente für mehr "Du" im Team

  • Duzen hilft, kommunikative Hürden abzubauen, und kann eine offene Unternehmenskultur fördern.
  • Durch das "Du" im Team wird eine lockere, familiäre Arbeitsatmosphäre unterstützt.
  • Eine solche Form des Miteinanders kann Vertrauen und Zusammenhalt im Team stärken.
  • Bei Kolleg:innen, mit denen man sehr viel und sehr eng zusammenarbeitet, erscheint das förmliche "Sie" nach einiger Zeit oft nicht mehr angemessen.
  • Neuen Teammitgliedern erleichtert Duzen die Integration, da sie sich schneller aufgenommen fühlen.
  • Bringen sich Vorgesetzte in den Kreis der zu Duzenden mit ein, so kann das "Du" mögliche Hemmschwellen abbauen.

Eine Chance für die Kommunikation

Mag die Frage nach einem generellen "Du" am Arbeitsplatz auf den ersten Blick auch noch so marginal erscheinen, sie kann ein perfekter Anlass sein, sich gemeinsam mit den individuellen Erwartungshaltungen im Praxisteam auseinanderzusetzen. Fragen wie "Wie wollen wir es denn bei uns in der Praxis halten mit dem Duzen bzw. Siezen?" werden dann z. B. zu einem großartigen Thema für das nächste Team-Meeting – und können so dazu beitragen, dass mögliche Missverständnisse von Beginn an ausgeräumt werden.

Die Entscheidung "Du" vs. "Sie"
Das "Unternehmen Arztpraxis" ist durch den Fachkräftemangel darauf angewiesen, qualifizierte Mitarbeiter:innen nicht nur zu finden, sondern auch langfristig zu binden. Dazu gehört auch, dass sich die einzelnen Teammitglieder mit ihren Unterschieden im Unternehmen wiederfinden und wohlfühlen können. Das bedeutet nicht zwingend ein allgemeines Duzen am Arbeitsplatz, kann sogar zu einer Entscheidung dagegen führen. Wird das Thema in der jeweiligen Hausarztpraxis nicht zentral geregelt, können die folgenden Regeln im Einzelfall weiterhelfen:
  • Richtung: Von oben nach unten anbieten. Von unten nach oben könnte das Duzen als schlechte Manieren gedeutet werden. Wenn es unter Kolleg:innen keinen Rangunterschied gibt, helfen die "Dienstjahre" weiter. Dann könnte der, der länger in der Firma ist, das "Du" anbieten.
  • Kein einseitiges "Du": Wer sich auf Augenhöhe begegnet, ist entweder per "Du" oder per "Sie". Einseitiges "Du" (von oben nach unten) ist ein No-Go!
  • Zuerst war das Huhn: Das ältere Teammitglied kann einem jüngeren das "Du" anbieten. Es sei denn, der Jüngere ist eine "Sie" oder der Vorgesetzte.
  • … Denn Ladies first: Laut Knigge ist es immer noch der weibliche Part, der die andere Seite zum Duzen auffordern kann.
  • Erst fragen, dann duzen: Nach einer Umfrage der Karrierefibel empfinden 38,7 % ungefragtes Duzen als beleidigend. Achtung: In den sozialen Medien wiederum ist das "Du" der Standard, auf den sich alle (unausgesprochen) geeinigt haben.
  • Neu im Team? Ohne klar kommuniziertes "Du" erstmal siezen.
  • Ehrlich bleiben: Wenn man vorhat, das "Du" anzubieten, dann als ehrliches Angebot, das auch abgelehnt werden kann.
  • Zurücknehmen ist schwierig: 22 % der Angestellten, die ihren Chef duzen, würden lieber zum "Sie" zurückkehren.
  • Respektvoller streiten: Die Wahrscheinlichkeit, bei einem "StreitperDu" unter die Gürtellinie zu geraten, ist merklich höher.
  • Patientenansprache: Standard ist das professionelle "Sie". In bestimmten Fällen kann das "Du" aber hilfreich sein. Fremdsprachige Patient:innen tun sich z. B. manchmal schwer, die Verwendung der distanzierten Form im Deutschen zu verstehen. Sie könnten das "Sie" auch als kalt empfinden, was einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung abträglich sein kann. Auch in der Landarztpraxis oder bei lange persönlich bekannten Patient:innen wird teilweise mehr auf "Du" gesetzt.


Literatur:
1. Auf Du und Du im Arztberuf? Coliquio, Dezember 2021: http://www.coliquio.de/wissen/leben-als-arzt-100/duzen-siezen-arztberuf-100
2. Siezen gehört immer noch zum guten Ton: Nur 8 Prozent wollen es abschaffen, Appinio Studie 2019: http://www.appinio.com/de/blog/siezen-duzen
3. Negative Höflichkeit und deren sprachlichen Realisierungen. Emma Lakkala (Bachelor-Thesis), 2017
4. "Generationenmanagement in Arzt- und Zahnarztpraxis", Isabell Lütkehaus und Stephan F. Kock, 2021: http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-29530-1
5. Deutsche Wirtschaft: Das "Sie" stirbt langsam aus. Kienbaum, 2016: http://www.stepstone.de/ueber-stepstone/press/deutsche-wirtschaft-das-sie-stirbt-langsam-aus/
7. Altern, Diggern, Duzen oder Siezen? – Ein Plädoyer für mehr Freiheit in der Patient*innenanrede: http://psylife.de/magazin/psychotherapie/duzen-siezen-patientenanrede-psychotherapie


Autorin
Sabine Mack



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 62-63