Mit unseren Smartphones und Wearables generieren wir täglich Tausende von Daten – manche nebenbei, andere gezielt, um z.B. mehr über unsere Alltagsbewegung, den Zyklus oder Schlaf zu erfahren. Diese Daten könnten zu einem Schatz für die medizinische Versorgung insbesondere in der Hausarztpraxis werden, wenn es gelingt, mithilfe smarter Analytik bisher unbekannte Zusammenhänge aufzudecken.

Wie können wir das Potenzial der Datenanalytik zum Wohle der Patient:innen und der Leistungserbringer nutzen und so die medizinische Versorgungsqualität verbessern? Und welche Rolle übernehmen dabei die Hausärzt:innen als Bestandteil der medizinischen Versorgung vor Ort?

Die Daten werden smarter

Im Alltag begegnen uns mathematische Modelle und Datenanalytik überall. Mit ihrer Hilfe werden z. B. die Grün- und Rotphasen von Ampelanlagen bestimmt, um den Verkehrsfluss zu optimieren und so Transportzeiten zu verkürzen. Dank der rasanten Verbreitung digitaler Geräte in unserem Alltag hat das Analytik-Konzept eine Renaissance erlebt. Datenanalytik kann helfen, noch unbekannte Zusammenhänge zwischen Lebensbereichen aufzudecken und z. B. den Einfluss von individuellen, sozialen oder mentalen Faktoren auf den Gesundungsprozess von Patient:innen in der Hausarztpraxis zu erkennen. So entstehen mathematische Modelle, die ein neues, erweitertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit auf jeder Station der Patientenreise ermöglichen. Aufgrund ihrer Komplexität und ihres Potenzials, auch unerwartete Erkenntnisse zu liefern, spricht man von "smarter Datenanalytik". Sie bildet die Basis für eine zukunftsorientierte, innovative Gesundheitsversorgung – auch in der hausärztlichen Versorgung. Dabei ist die Hausarztpraxis häufig die erste Anlaufstelle für Patient:innen mit vielfältigen Beschwerden. Entsprechend wichtig ist es hier, Zusammenhänge mit vorherigen Erkrankungen oder der Lebenssituation zu erkennen und gleich den individuell richtigen Behandlungsweg einzuleiten. Smarte Datenanalytik stellt daher ein entscheidendes Instrument für Hausärzt:innen dar, um eine hochwertige und zeiteffiziente Versorgung zu leisten. Datenbasierte Medizin spart Zeit bei der Erhebung und Überprüfung der Anamnese und erleichtert es Ärzt:innen, auf die individuellen Patientenbedürfnisse einzugehen − damit diese in der Therapieplanung adäquat berücksichtigt werden können. Für eine datenbasierte, digitale Medizin lassen sich z. B. die folgenden Anwendungsfelder benennen:

  1. Bessere Diagnostik: Erkenntnisse, die auf der Auswertung von umfangreichen Patientendaten oder von bildgebenden Verfahren mittels Künstlicher Intelligenz (KI) basieren, unterstützen Ärzt:innen dabei, Krankheiten frühzeitig zu identifizieren (z. B. Erkennung und Behandlung von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen).
  2. Aktivere Einbindung der Patient:innen:Mithilfe der datenbasierten Medizin ist es möglich, das Engagement der Patient:innen im Rahmen der Therapie zu steigern und eine individuelle Anleitung für einen gesünderen Lebensstil zu geben. Ein Beispiel dafür ist die hausärztliche Therapiebegleitung per zertifizierter Medizin-App bei Patient:innen mit undefinierten Schmerzen in den Gelenken. Medizin-Apps können helfen, die Behandlung durch ein digital unterstütztes Training, verbesserte Aktivität und Schmerzerfassung in Echtzeit zu ergänzen.
  3. Vorhersage von Komplikationen oder Risiken: Auf Basis des individuellen Patientenprofils (z. B. im Rahmen von Genanalysen zur Erkennung von Risiken für eine Erkrankung) lassen sich Risikofaktoren in der Behandlung früher erkennen bzw. vermeiden. Solche auf Patientendaten basierenden Risikofaktoren spielen eine große Rolle, um die im Vergleich wenigen Patient:innen mit einer entzündlichen rheumatischen Erkrankung von den vergleichsweise vielen Betroffenen mit degenerativen oder fehlgeleiteten myalgischen Beschwerden (grippeähnliche Symptome) zu unterscheiden.
  4. Ablauf- und Prozessoptimierung: Risikomanagement und Qualitätsmanagement in Kliniken und Arztpraxen werden auf der Grundlage vorhandener Patientendaten (z. B. aus der elektronischen Patientenakte) mithilfe von KI präziser.

Damit Datenmengen zu einem Datenschatz werden und sich die Potenziale der smarten Datenanalytik entfalten können, sollten die zugrunde liegenden mathematischen Modelle wie z. B. eine Bilderkennungssoftware sicher und zutreffend sein und ein minimales Risiko für die Patient:innen bedeuten. Das ist wichtig, da Ergebnisse der Analyse u. a. Therapieentscheidungen begründen. Sie beeinflussen konkret die Gesundheit der Patient:innen. Evidenz ist hier das Schlagwort: Um sichere und zutreffende Modelle zu entwickeln, muss jedes Modell mit echten Patientendaten im Rahmen einer klinischen Studie trainiert, validiert und überprüft werden.

Individueller und ganzheitlicher

Mit smarter Analytik können große Datenmengen, die Informationen aus unterschiedlichen Lebensbereichen beinhalten, auf Zusammenhänge analysiert werden. Das birgt auch die Chance, das Verständnis von Gesundheit sowohl für medizinische Expert:innen wie in der Hausarztpraxis als auch für die Patient:innen selbst zu erweitern und individuelle sowie soziale Einflussfaktoren einzubeziehen. Das ist wichtig, da zu beobachten ist, dass die hochwertige leitlinienbasierte medizinische Versorgung in Deutschland zu weniger vorhersehbaren Ergebnissen führt, als anzunehmen wäre. Eine Ursache dafür ist, dass persönliche und soziale Aspekte der Patient:innen oft noch zu wenig berücksichtigt werden. Das Lebens- und Arbeitsumfeld einer Person oder ihre familiären Beziehungen können jedoch entscheidend sein für den Therapieverlauf, z.B. bei degenerativ bedingten Gelenkerkrankungen.

Gelingt es, soziale Einflussfaktoren und patientenindividuelle Informationen mit medizinischen Faktoren zu verbinden, entsteht ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit. Innovative Technologien und digitale Gesundheitsangebote bilden den Grundstein: Eine gezielte Datenerfassung beinhaltet den individuellen hausärztlichen Behandlungsweg der Betroffenen und die individuelle Situation unter Einschluss der sozialen Einflussfaktoren, trägt damit zur verbesserten Versorgungsqualität der einzelnen Patient:innen bei.

Vollständige Patientenreise im Fokus

Im Vergleich zu anderen Branchen wird die Analytik im Gesundheitswesen in Deutschland noch nicht auf breiter Basis genutzt. Aktuelle Lösungen konzentrieren sich eher auf einzelne Stationen der Patientenreise − nur wenige beziehen sich auf die gesamte Reise von einem Zeitpunkt an vor der Erkrankung bzw. ab Erkrankungsbeginn bis hin zur Genesung. Benötigt werden aber Datenmodelle, die möglichst sektorenübergreifend sind und die hausärztliche Versorgung als erste Station auf der Behandlungsreise einbeziehen.

In der Praxis bedeutet das:

  1. Einsatz von neuster Technologie, z. B. von Apps oder Wearables zur vollumfänglichen Datenerfassung, u. a. bei uncharakteristischem Fieber, Hypertonie oder Arthrose (Arthrosis deformans)
  2. Validierte Fragebögen zur zielgerichteten Datenerfassung für sichere und zutreffende Modelle
  3. Informationen, die direkt von Patient:innen erhoben werden, z. B. zur Schmerzerfassung und zu psychologischen Faktoren, Bedürfnissen und Emotionen bei einer arthritischen Erkrankung (u. a. Schlafstörungen oder Depression)
  4. Ein Datenmodell, das ein holistisches Verständnis der Behandlungsreise widerspiegelt und die Möglichkeit bietet, die Qualität der Behandlung in der eigenen Arztpraxis einzuschätzen
  5. Die Möglichkeit des Datentransports zur Nutzung der Daten aller an der Behandlung beteiligten Leistungserbringer

Dabei sollten so viele Daten aus der Patientenreise wie möglich und so wenige wie nötig verwendet werden,damit z. B. keine Komplikationsauslöser in der Vergangenheit übersehen werden wie Unverträglichkeiten von bestimmten Medikamenten. Grundvoraussetzungen für die datenbasierte Medizin sind Datenschutz und Informationssicherheit. Das heißt, eine überprüfbare Verpflichtung auf eine Datennutzung, die konform ist mit Gesetzen und Richtlinien, die Ausdruck findet in Zertifizierungen von Unternehmen und Arbeitsprozessen. Ergänzt werden diese Anforderungen um eine Auskunftspflicht gegenüber den Nutzer:innen dazu, welche Daten erhoben werden, und um eine Speicherung auf hochsicheren Servern in Deutschland. Die Basis für "smart analytics" bilden anonymisierte, verschlüsselte Daten, sodass keine Möglichkeit besteht, auf persönliche Daten zuzugreifen.

Gutes noch besser machen

KI bedeutet also keinesfalls dasselbe wie "ohne Menschen" oder "ohne Ärzt:innen". Digitale Medizin macht ein gutes System besser, indem sie bestehende Potenziale erschließt und verbindet. Dazu gehört auch Verantwortung – die "reinen" Daten und Informationen reichen nicht aus. Ärzt:innen obliegt weiterhin die fachliche Interpretation gebündelter Daten, die individuelle Anpassung an die Situation der Patient:innen und die Beantwortung der Frage: Wie geht es nun weiter? Das ist für Patient:innen besonders wichtig bei Diagnosen oder besorgniserregenden Werten. Smarte Analytik ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, das zusätzliche Erkenntnisse und Informationen liefert. Mit ihrer Hilfe können Hausärzt:innen ein holistisches und individuelles Bild von der Erkrankung ihrer Patient:innen gewinnen und diese Informationen in die Therapieplanung sowie in die Arzt-Patienten-Kommunikation einfließen lassen. Das nimmt Ängste und erleichtert die Aufklärung zu weiteren Schritten. Gleichzeitig verfügen so auch Ärzt:innen über mehr Informationen, um frühzeitig handeln zu können.

Wie Ärzt:innen und Patient:innen gleichermaßen profitieren
Digitale Medizin ermöglicht eine zielgerichtete und personalisierte Datennutzung und kann so neue Ansatzpunkte für Therapie und Prävention schaffen. Sie unterstützt Ärzt:innen und Patient:innen bei einer informierten, ganzheitlichen und erfolgreicheren Therapiegestaltung. Wenn es uns gelingt, die Ergebnisse einer smarten Datenanalytik in verständlicher Form an die Patient:innen zu bringen und mit individualisierten Informationen zu ihrer Erkrankung und Behandlungsoptionen anzureichern, können Betroffene ihren Weg, ihre Position und mögliche Behandlungsergebnisse besser verstehen und mitgestalten. Insbesondere in der Hausarztpraxis haben digitale Innovationen das Potenzial, die Ärzt:innen bei der Kommunikation mit ihren Patient:innen und bei einer ganzheitlicheren Therapieplanung zu unterstützen:
  • Leistungserbringer wie Hausärzt:innen erhalten relevante Daten und soziale Anamnese für gezielte Therapieentscheidungen.
  • Die jeweiligen Ärzt:innen können mögliche Komplikationen frühzeitig erkennen und gegensteuern.
  • Informierte und gesundheitskompetente Patient:innen bedeuten eine höhere Adhärenz und mehr Eigenengagement. Das gilt gerade bei verhaltens(mit)bedingten, häufigen Krankheitsbildern wie Adipositas, Hypertonie oder Myalgie (Muskelschmerzen).



AUTOR:INNEN

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Dr. Sergey Platonov


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Christina Auffenberg

alley - VBMC ValueBasedManagedCare GmbH



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (3) Seite 22-24