Jeden Tag werden weltweit Dutzende von genialen und der Menschheit förderlichen Ideen geboren. Dem stehen aber mindestens genauso viele bizarre, unüberlegte und oft gefährliche Einfälle entgegen, die nur noch Kopfschütteln auslösen können. Ich denke da an den von mir erlebten Drehkarussellstunt (vgl. S. 44 dieser Ausgabe), der in modifizierter Form als "Karussell des Todes" seit Jahren im Web auftaucht. Solche jugendlichen Mutproben sind wohl der ultimative Kick einer in Wohlstand und Sicherheit dahindümpelnden Gesellschaft. Dank globaler Onlineportale haben diese Aktionen aber eine unangemessene Bedeutung gewonnen.

Möglichst viele Klicks für die Clips sind im Fokus, wenn das vermeintliche Bravourstück "hypen" und "Follower" generieren soll. Ein anderes, aktuelles Beispiel: Getränketransportkisten werden zu einer wackeligen Pyramide gestapelt, die in kürzester Zeit erklommen werden muss. Gefilmt und entsprechend verbreitet, nennt sich dieser Wettbewerb dann "Milk-Crate-Challenge", weil Plastikmilchkisten für den vertikalen Parcours initial Verwendung fanden. Das passt durchaus, weil es wohl eher milchgesichtige Naivlinge sind, die sich dieser verletzungsintensiven Kistenkletterei stellen. Im Ranking des veritablen Schwachsinns liegen solche pubertären Muskelspiele relativ weit vorne.

Wer aber glaubt, dass sinnloser Wettstreit nur dem Kollektiv unreifer Heranwachsender vorbehalten sei, der irrt. Auch Erwachsene können der Verlockung einer erhofften Globalprominenz nicht immer widerstehen. Im Juli 2020 hat sich der damals 37-jährige Amerikaner Joey Chestnut (deutsch: Kastanie) zu einem umjubelten Weltrekordhalter in einem Hotdog-Vielfraßchampionat gekrönt. Er schaffte es, gegen trainierte Mitbewerber in nur 10 Minuten 75 Hotdogs hinunterzuwürgen. Dafür ist hartes Training Pflicht, weil der gewöhnliche Magen erst durch das Trinken von Milch und proteinangereichertem Wasser entsprechend dilatiert werden muss. Der drängenden Frage nach einer maximal verzehrbaren Menge Hotdogs pro Zeiteinheit hat sich jetzt Gott sei Dank die Wissenschaft angenommen. So konnte J. M. Smoliga in den Biology Letters (2020) die von Homo sapiens (?) theoretisch vertilgbare Anzahl durch eine nicht lineare Modellierung früherer Fresswettbewerbsmengen auf 83 Hotdogs pro 10 Minuten interpolieren. Und tatsächlich: Chestnut hat seine Rekordmarke 2021 bis kurz vor die imaginäre Schallgrenze gesteigert. Doch was kommt dann? Dem Familiennamen des Weltrekordhalters folgend wäre nun an einen mindestens genauso dekadenten Fresswettbewerb mit Esskastanien zu denken. So könnten sich Mann/Frau in einer Zeit weltweiter Hungersnöte an einer neuen "Challenge" wenigstens die Zähne ausbeißen.


Dies meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (2) Seite 65