Viele Ärzt:innen kommen in ihrem beruflichen Alltag in Kontakt zu Frauen, die (häusliche) Gewalt erlebt haben. Da ein Großteil der Betroffenen das Geschehene nicht von selbst anspricht, ist es für die Frauen relevant, dass Ärzt:innen Gewalt und deren Zeichen erkennen und adäquat darauf reagieren. Neben der Gesprächsführung und einer korrekten Dokumentation von Verletzungen ist die Vermittlung von Hilfsangeboten notwendig.

Einer Erhebung aus dem Jahr 2004 zufolge erleben oder erlebten ca. 25 % der in Deutschland lebenden Frauen körperliche (und/oder sexualisierte) Gewalt durch ihren aktuellen oder ehemaligen Partner [10]. Gewalt stellt einen wesentlichen gesundheitlichen Risikofaktor für Frauen dar [13]. Neben direkten Verletzungsfolgen, überwiegend als Folge stumpfer Gewalt (Tabelle) [3, 5, 11], kann körperliche Gewalt auch psychosomatische und psychische Gesundheitsschäden wie chronische Schmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen bis hin zu Suizidalität nach sich ziehen [7].

Erkennen von Gewalt

Das Erkennen von Gewalt als Ursache einer Verletzung oder Krankheit ist für eine adäquate Versorgung essenziell. Gewaltbetroffene Frauen wählen häufig als erste (und oft einzige) Ansprechpartner Ärzt:innen aus, da Gesundheitseinrichtungen niederschwellig zu erreichen sind und die dort praktizierenden (schweigepflichtigen) Berufsgruppen meist ein besonderes Vertrauen genießen [7]. Viele Betroffene sprechen Gewalterfahrung jedoch nicht von sich aus an [8]. Einer Befragung von Brzank et al. zufolge berichteten 67% der befragten von Gewalt betroffenen Frauen, dass eine Ärztin/ein Arzt für sie als Ansprechpartner in Betracht kämen, während nur 7,5% von ihrer Ärztin/ihrem Arzt jemals auf Gewalt angesprochen worden seien [4]. Für gewaltbetroffene Frauen kann es demnach erleichternd sein, nicht selbst das Gespräch suchen zu müssen, sondern auf das Thema Gewalt angesprochen zu werden. Hinweisgebend auf das Vorliegen von Gewalt können beispielsweise Verletzungen sein, die mit dem geschilderten Trauma nicht in Einklang zu bringen sind, viele und/oder unter Umständen mehrzeitige Verletzungen, psychische oder psychosomatische Symptome oder ein kontrollierender Partner [14].

Merke: Ein Großteil der betroffenen Frauen spricht ihre Gewalterfahrungen nicht von selbst an und empfindet es erleichternd, auf das Thema Gewalt angesprochen zu werden.

Tabelle: Typische Verletzungen
  • Hautunterblutungen
  • Griffhämatome (v. a. Oberarminnenseiten)
  • Widerlagerverletzungen
  • Abwehrverletzungen (Kleinfinger- und Streckseite der Unterarme, Handrücken)
  • bei Gewalt gegen den Hals: Hautunterblutungen am Hals, Petechien?

Gesprächsführung

Gespräche mit betroffenen Frauen sollten stets in ungestörter Umgebung stattfinden und unbedingt ohne den mutmaßlichen Täter. Es kann hilfreich sein, der Betroffenen zu vermitteln, dass viele Frauen Gewalt erleben und sie sich keinesfalls schämen oder schuldig fühlen sollte. Auch sollte Gewalt als Unrecht benannt werden. Die Betroffene sollte niemals zu einem Gespräch gedrängt werden, dennoch sollte ihr wiederholt und bei mehrfachen Kontakten immer wieder Bereitschaft zu einem Gespräch signalisiert werden. Die Anamnese hinsichtlich des Sachverhalts sollte möglichst wörtlich dokumentiert werden [3]. Mögliche Gesprächseinstiege sind Kasten 1 zu entnehmen.

Grundsätzlich können über im Wartezimmer ausgelegte Informationsmaterialien sowie Plakate zu Hilfsangeboten und Ähnlichem Offenheit für das Thema gezeigt und damit die Betroffenen ermutigt werden, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Informationsmaterialien (sowie auch Leitfäden und Untersuchungsbögen) gibt es beispielsweise über die Ärztekammern [2] oder das BMFSFJ [15].

Kasten 1: Wie kann ein Einstieg ins Gespräch stattfinden?
  • "Wir sehen diese Art von Verletzungen häufig bei Frauen, die Gewalt erlebt haben..."
  • "Ich vermute, dass Ihre Symptome durch Gewalt entstanden sind."
  • "Vielleicht liege ich falsch, aber solche Verletzungen sind eher untypisch für einen Treppensturz …"
  • "Ich habe festgestellt, dass Sie sich in letzter Zeit verändert haben. Sie wirken [zurückgezogen, verängstigt, nervös, angespannt, traurig etc.]."
  • "Ich habe Erfahrungen mit Frauen, die Gewalt erfahren haben. Wenn das für Sie infrage kommt, würde ich Sie gerne beraten und Ihnen weitere Möglichkeiten zur Unterstützung vorstellen."

Untersuchung

Für die körperliche Untersuchung der Betroffenen sollte ausreichend Zeit eingeplant und ein ungestörtes Setting geschaffen werden. Sie sollten vor der Untersuchung über den detaillierten Ablauf und die Notwendigkeit der einzelnen Untersuchungsschritte informiert werden und ihre Zustimmung zu diesen geben [1]. Idealerweise sollte eine Ganzkörperuntersuchung erfolgen, um – insbesondere im Hinblick auf ein späteres Gerichtsverfahren – auch versteckte Verletzungen zu erkennen, die der Patientin möglicherweise selbst nicht aufgefallen sind. Dabei ist auch auf nicht direkt einsehbare Körperpartien zu achten, beispielsweise die Augenbindehäute oder die Haut hinter den Ohren [6]. Da im Rahmen von Gewalt durch den Intimpartner häufig von Gewalt gegen den Hals berichtet wird [11], muss – insbesondere wenn die Betroffene dies schildert – auf petechiale Einblutungen an den Prädilektionsstellen (Augenlider und Bindehäute, Haut hinter den Ohren, Mundvorhofschleimhäute) geachtet werden. Sollte die Frau die Untersuchung bzw. Teile dieser ablehnen oder abbrechen, ist dies zu akzeptieren und zu dokumentieren. Es können alternative Termine sowie die Möglichkeit, durch eine vertraute Person begleitet zu werden, angeboten werden.

Verletzungsdokumentation

In der Regel sind die Verletzungen, die im hausärztlichen Setting auffallen, nicht versorgungsbedürftig, dennoch ist es ärztliche Aufgabe, die Verletzungen zu dokumentieren.

In der Praxis ist die Dokumentation von Verletzungen allerdings oft unzureichend und zu wenig detailliert [9, 12]. Eine gute Verletzungsdokumentation ist jedoch für eine (mögliche spätere) Strafverfolgung unerlässlich. Die Dokumentation sollte neben einer Verletzungsbeschreibung (vgl. Kasten) auch Lichtbilder der Verletzungen unter Verwendung eines Maßstabes umfassen. Auch muss die Dokumentation dem Ersteller zuordenbar sein. Grundsätzlich ist darüber hinaus das Dokumentieren eines Gesamteindrucks oder von Symptomen und Beschwerden, die mit der erlebten Gewalt in Zusammenhang stehen könnten (beispielsweise Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, psychische Symptome), sinnvoll.

Neben akuten Verletzungen und Berichten über aktuelle Gewalterfahrungen sollten ggf. auch
ältere Verletzungen und länger zurückliegende
Gewalttaten dokumentiert werden.

Als Unterstützung zur Verletzungsbeschreibung/-dokumentation können Angebote wie iGOBSIS genutzt werden. Auch das Eintragen der Verletzungen in ein Körperschema kann, insbesondere wenn viele Befunde vorliegen, hilfreich sein.

Kasten 2: Beschreibung von Verletzungen
  • Lokalisation (so genau wie möglich, beispielsweise: "im mittleren Drittel des linken Oberarms innenseitig", "in Projektion auf die Dornfortsätze der Brustwirbelsäule")
  • Form (rund, streifig, landkartenförmig …)
  • Farbe (insbesondere bei Hautunterblutungen/Hämatomen)
  • Größe
  • Begrenzung (scharf, verwaschen)
  • Benennung (z. B. Hautunterblutung, Quetsch-Riss-Wunde, Hautdurchtrennung, kratzerartige Hautläsion)

Experten-Urteil sinnvoll?

In einigen Fällen kann es geboten sein, Patientinnen an andere Disziplinen zu verweisen. Dies betrifft grundsätzlich Verletzungen, die einer weiteren Diagnostik (z.B. Bildgebung) oder einer umfassenderen Therapie (z.B. Operation) bedürfen. Außerdem gibt es in einigen Städten Gewaltschutzambulanzen der rechtsmedizinischen Institute (z. B. Hamburg, Düsseldorf, Hannover), die eine gerichtsfeste Dokumentation der Verletzungen anbieten. Schildert die Betroffene (akute) sexualisierte Gewalt, ist eine gynäkologische Untersuchung angezeigt und sollte, sofern die Betroffene (noch) keine Strafanzeige stellen möchte, im Rahmen einer vertraulichen Spurensicherung (für NRW: https://www.opferschutzportal.nrw/node/53) erfolgen. Inwieweit die Betroffene eine Strafanzeige stellen möchte, bleibt ihr überlassen. Es gilt die ärztliche Schweigepflicht. Sollten sich konkrete Hinweise auf eine Gefährdung der im Haushalt lebenden Kinder ergeben, kann nach § 4 KKG die Schweigepflicht gebrochen und das Jugendamt informiert werden. Dies sollte aber nur dann erfolgen, wenn eine Beratung der betroffenen Person diesbezüglich folgenlos bleibt.

Außerdem sollten der Frau unbedingt Beratungsangebote vermittelt werden – am besten so konkret wie möglich. Idealerweise sind der Praxis "für alle Fälle" lokale Institutionen und Einrichtungen bekannt, die der Betroffenen direkt benannt werden können (Frauenberatungsstellen, Frauenhäuser etc.).

Zusammenfassend umfasst das Vorgehen in der Praxis das Erkennen von Gewalt, ggf. Ansprechen des Verdachts auf Gewalterleben, die Anamneseerhebung, die Verletzungsdokumentation und das Vermitteln von Beratungsangeboten.

Wichtig für die Sprechstunde
  • Gewalt als Ursache einer Verletzung/Erkrankung zu erkennen, ist für eine adäquate Versorgung essenziell.
  • Ein Großteil der betroffenen Frauen spricht ihre Gewalterfahrungen nicht von selbst an.
  • Die Verletzungen sind detailliert zu dokumentieren.


Literatur:
1. Arbeitsgruppe "Gewalt Und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern" (2019) Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern - Ein Leitfaden für die medizinische Praxis [https://www.praxisleitfaden-gewalt.de/images/download/Leitfaden_med_Praxis_2019.pdf (last access: 15.06.2022)]. .
2. Ärztekammer Westfalen-Lippe (2005) . (last access: 08.06.2022)
3. Banaschak S, Gerlach K, Seifert D et al. (2014) Forensisch-medizinische Untersuchung von Gewaltopfern. Rechtsmedizin 24:405-411
4. Brzank P, Hellbernd H, Maschewsky-Schneider U (2004) Häusliche Gewalt gegen Frauen: Gesundheitsfolgen und Versorgungsbedarf - Ergebnisse einer Befragung von Erste-Hilfe-Patientinnen im Rahmen der S.I.G.N.A.L.-Begleitforschung. Gesundheitswesen 66:164-169
5. Gologan R, Aziriu S, Obertacke U et al. (2014) Medizinische und soziodemographische Aspekte häuslicher Gewalt. Der Unfallchirurg 117:528-532
6. Grassberger M, Türk E (2013) Die gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen. In: Grassberger M, Yen K, Türk EE (eds) Klinisch-forensische Medizin: Interdisziplinärer Praxisleitfaden für Ärzte, Pflegekräfte, Juristen und Betreuer von Gewaltopfern. Springer Vienna, Vienna, p 113-118
7. Hornberg C, Schröttle M, Khelaifat N et al. (2008) Themenheft 42 "Gesundheitliche Folgen von Gewalt" Unter besonderer Berücksichtigung von häuslicher Gewalt gegen Frauen. In:Robert Koch-Institut, p 63
8. Jundt K, Friese K (2009) Gewalt an Frauen. Der Gynäkologe 42:723-727
9. Kilchenstein R (2016) Ärzte dokumentieren Verletzungen unzureichend. CME 13:34-34
10. Müller U, Schröttle M, Glammeier S et al. (2004) Lebensituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
11. Seifert D, Heinemann A, Anders S et al. (2006) Vergleichende klinisch-rechtsmedizinische Analyse von Verletzungsmustern. Rechtsmedizin 16:205-212
12. Walz C, Wilke-Schalhorst N, Schwarz C-S et al. (2021) Rechtsmedizinische Modelle der Versorgung von gewaltbetroffenen Personen in Deutschland. Rechtsmedizin
13. WHO (2003) Weltbericht Gewalt und Gesundheit.
14. Wieners K, Hellbernd H, Jenner S et al. (2012) Häusliche Gewalt in Paarbeziehungen - Intervention und Prävention. Notfall Rettungsmed 15:65-80
15. Zeitbild Stiftung http://www.gesundheit-und-gewalt.de/download. (last access: 08.06.2022)


Autorinnen

© Michael Wodak
Sonja Siegel

Sibylle Banaschak
Institut für Rechtsmedizin Uniklinik Köln
50823 Köln

Ann Katrin Hoischen
Abteilung für Kinderschutz
Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln
45711 Datteln
Interessenkonflikte: Die Autorinnen haben keine deklariert



Erschienen in: doctors|today, 2022; 2 (11) Seite 18-20