Veränderte Familienstrukturen, neue Arbeitswelten und alternative Lebensentwürfe haben in einer digitalisierten, komfortablen und bequemen Überflussgesellschaft tradiertes Basiswissen in puncto Gesundheitsvorsorge oder selbst organisierter Behandlungsmöglichkeiten zu einem verdorrenden Pflänzchen werden lassen.

Da gibt es für junge Familien keine präsenten Eltern, Großeltern oder Nachbarn mehr, die Schwitzpickel, Fieberbläschen, einen Windelausschlag, Windpocken oder gar Masern erkennen und praktische Ratschläge bei fiebrigen Erkrankungen geben könnten, Kinder hüten oder auch mal die Alarmglocke läuten würden, wenn sich eine bedrohliche Gesundheitsstörung andeutet. Heute sind beide Elternteile berufstätig, arbeiten Schicht oder leben getrennt, die Nachbarn kennt man nur vom Türschild, Jungsenioren schippern rund um den Globus und die Großeltern überwintern auf den Malediven. Gnade Gott, wenn die kleinen Enkel oder die junge Familie kränkeln.

Zwangsläufig konsultiert die angsterfüllte, nicht selten alleingelassene Mutti eines fieberkranken Kleinkindes den omnipräsenten Dr. Google, der sein panikgebärendes Fachwissen 24/7 in die Waagschale wirft. Weil es "kostenlos" ist, wird dann ruckzuck die "Eins-Eins-Zwei" gewählt und der alarmierte Blaulichtdoktor mit Sondersignal zum unverzüglichen Einsatz kommandiert. Das vermeintlich lebensbedrohliche Krankheitsbild (Febris variatio M. Google) entpuppt sich zwar oft genug als Falschalarm, wird aber schließlich von einem gehetzten und übernächtigten Notarztdurch eine stationäre "Sicherheits"-Einweisung geadelt. Die Kurbel der Registrierkasse fängt an zu rattern.

Doch es geht auch anders. Die früher primär zugezogenen Hausärzt:innen warfen in Kenntnis der Familiensituation erstmal einen prüfenden Blick in die Hausapotheken. In den letzten drei Jahrzehnten glichen diese dank reichlicher Bevorratung und serviler Verschreibungsstrategien nicht selten einem pharmazeutischen Wühltisch. So kann ich mich noch gut an einen mitternächtlichen, nass-kalten Feiertagseinsatz vor einigen Jahren erinnern. Gerufen wurde ich von einer jungen Raucherfamilie mit einer Handvoll hustender und schniefender Patient:innen in allen Altersgruppen. Das Erfreuliche: Ich brauchte an diesem Spätabend keinen Rezeptblock, weil das gesamte Familienlazarett aus der opulenten Pillenschatzkiste medikamentös versorgt werden konnte. Der Apotheker, mein Verordnungsbudget und die Krankenkasse blieben verschont, eine stationäre Behandlung wurde vermieden. Noch billiger könnte freilich die Familien- oder Nachbarschaftshilfe sein. Und jede Wette: Alle Beteiligten wären auch ohne Doktor und stattdessen mit bewährten Hausmitteln und angemessenen Ratschlägen wieder gesund geworden – kostenneutral!


Das meint Ihr Fritz Meyer, Allgemeinarzt


Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (6) Seite 65